Fahrlässigkeit in der Kinderapotheke
Seit dem Jahr 2006 gibt es die europäische Kinderarzneimittelverordnung. Laut dieser sind Arzneimittelhersteller verpflichtet, neue Medikamente auf die Eignung, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit für Kinder zu prüfen. Die Stiftung Kindergesundheit beklagt nun viele bestehende Mängel in diesem Zusammenhang. Laut der Stiftung kommen immer noch viele Hersteller dieser Verpflichtung nicht nach – hauptsächlich aus finanziellen Gründen.
„Kinder sind auch heute noch bei der Behandlung mit Medikamenten benachteiligt“, mahnt der Vorsitzende der Stiftung Kindergesundheit Professor Dr. Berthold Koletzko in einer Stellungnahme. In vielen Fällen würden Kinder mit Medikamenten behandelt werden, die für ihre Altersgruppe nicht zugelassen oder nicht geeignet sind. Dies sei eine fatale Situation.
Die Stiefkinder der Medizin
„Auf den ersten Blick hat die EU-Verordnung zwar erhebliche Fortschritte bewirkt, beim näheren Zusehen erweisen sich die Arzneimittel für Kinder immer noch als Stiefkinder der Medizin“, erläutert der Professor. Insbesondere bei der Behandlung krebskranker Kinder gebe es einen großen Nachholbedarf.
Krebskranke Kinder für die Pharmaindustrie uninteressant
Die Mediziner der Stiftung Kindergesundheit berichten, dass bei Kindern auftretende Erkrankungen oder Tumorformen bei Erwachsenen kaum oder gar nicht vorkommen. Somit hätten sie auch für die Pharmaindustrie eine sehr untergeordnete Relevanz. In den letzten zehn Jahren seien nur zwei Medikamente zur Therapie von Kindern mit Krebs zugelassen worden.
Kindern werden ungeprüft Erwachsenenmedikamente verabreicht
„Speziell zur Behandlung sehr junger Kinder und von Kindern mit einer seltenen Erkrankung fehlen geprüfte Arzneimittel“, betont Dr. Koletzko. Deshalb müssten Kinder- und Jugendmediziner häufig auf Medikamente zurückgreifen, die eigentlich nur an Erwachsenen geprüft wurden.
Rund jedes dritte Medikamente ungeprüft
Aus Daten der Kindergesundheitsstudie KiGGS geht hervor, dass rund 30 Prozent der Medikamente, die für Kinder verschrieben werden, nicht für diese getestet wurden. Dabei kämen umso häufiger ungetestete Arzneien zum Einsatz, je jünger und je schwerer erkrankt das Kind ist. So würden repräsentative Untersuchungen in Neugeborenenabteilungen und auf pädiatrischen Intensivstationen zeigen, dass fast 90 Prozent der dort verordneten Arneien ohne ausdrückliche Zulassung für Kinder verabreicht werden.
Alte Faustregel: „Für Kinder die Hälfte“ – falsch und gefährlich!
Die Mängel reichen so weit, dass bei vielen Medikamenten genauere Dosierungsangaben für Kinder fehlen oder nicht ausreichend beschrieben werden. Oft gilt bei der Verordnung die Faustregel: Kinder bekommen die halbe Dosierung von Erwachsenen. „Das hat sich mittlerweile als falsch und mitunter auch als gefährlich erwiesen“, schreiben die Experten der Stiftung Kindergesundheit. Denn Stoffwechsel und Wasserhaushalt funktioniere beim Kind oft nach anderen Regeln.
Kinder sind keine halben Erwachsenen
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und Jugendliche sind keine großen Kinder“, erklärt die Stiftung Kindergesundheit. Die einzelnen Entwicklungsphasen würden sich deutlich voneinander abgrenzen. Laut internationalen Richtlinien gebe es für Heranwachsende fünf Entwickelungsstadien. Für jede Phase müsste die richtige Dosierung eines Wirkstoffs durch Studien überprüft werden. Die fünf Stadien sind:
- Frühgeborene,
- Neugeborene bis 27 Tage,
- Säuglinge und Kleinkinder von 28 Tage bis 23 Monate,
- Kinder von zwei bis elf Jahre,
- Jugendliche von zwölf bis 18 Jahre.
Warum gibt es solche gravierenden Mängel?
„Klinische Studien mit Kindern sind mit einem erheblichen Aufwand verbunden“, schreiben die Experten der Stiftung Kindergesundheit. Zum einen gestalte sich die Suche nach Teilnehmenden sehr schwierig, da die Patientengruppen klein sind und viele Eltern nicht bereit seien, ihr Kind als „Versuchskaninchen“ herzugeben. Zum anderen seien die Forschungskosten für neue Arzneimittel sehr hoch. Im Durchschnitt würde ein neues Medikament rund 20 Millionen Euro an Kosten vor der Zulassung verursachen.
Bei Erwachsenen kommen die Kosten schnell wieder rein
Bei den Kosten liegt wohl einer der Hauptfaktoren für das Desinteresse der Industrie. „Arzneimittel mit hohen Umsatzzahlen bei chronisch kranken Erwachsenen lassen den Forschungsaufwand rasch wieder amortisieren“, so die Stiftung Kindergesundheit. Dagegen seien Kinder nur selten krank und kranke Kinder würden auch nur geringere Mengen eines Wirkstoffs benötigen. (vb)
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