Eine Erkrankung an Multipler Sklerose (MS) senkt das Alzheimer-Risiko. In den Gehirnen von Personen mit MS sind deutlich weniger Ablagerungen der Alzheimer-typischen Amyloid-Plaques festzustellen. Eine Entschlüsselung des zugrundeliegenden Mechanismus könnte auch neue Optionen in der Alzheimer-Therapie eröffnen.
Eine neue Studie unter Federführung von Forschenden der Washington University School of Medicine in St. Louis hat eine mögliche Schutzwirkung von MS gegenüber Alzheimer-Erkrankungen untersucht. Die durchaus überraschenden Studienergebnisse sind in dem Fachmagazin „Annals of Neurology“ veröffentlicht.
Auffälliger Zusammenhang
Die Studienautorin Dr. Anne Cross kam aufgrund ihrer Erfahrungen im Laufe jahrzehntelanger Behandlungen von MS-Patientinnen und -Patienten zu dem Verdacht, dass die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems möglicherweise einen Schutzeffekt gegen Alzheimer entfalten könnte.
Denn obwohl ihre Patientinnen und Patienten lange genug lebten, um ein Alzheimer-Risiko zu haben, und obwohl bei vielen ein erhöhtes familiäres Risiko vorlag, entwickelten sie kein Alzheimer.
„Mir ist aufgefallen, dass ich keinen einzigen MS-Patienten von mir finden konnte, der eine typische Alzheimer-Krankheit hatte“, berichtet Dr. Cross.
„Wenn sie kognitive Probleme hatten, schickte ich sie zu den Gedächtnis- und Altersspezialisten hier an der Washington University School of Medicine für eine Alzheimer-Bewertung, und diese Ärzte kamen immer zurück und sagten mir: Nein, das ist nicht auf Alzheimer zurückzuführen“, so Cross weiter.
Untersuchung an 100 MS-Betroffenen
Um die Hypothese des Schutzeffekts von MS gegen Alzheimer zu überprüfen, führten die Forschenden bei 100 MS-Patientinnen und -Patienten einen speziellen Bluttest (PrecivityAD2) durch, der Rückschlüsse auf die Amyloid-Plaques im Gehirn ermöglicht, die als Indikator für die Alzheimer-Krankheit gelten.
Außerdem wurden bei 11 Teilnehmenden auch sogenannte PET-Scans des Gehirns durchgeführt und es gab eine Kontrollgruppe von 300 Personen ohne MS, die in Bezug auf Alter, genetisches Risiko für Alzheimer und kognitive Fähigkeiten mit den MS-Betroffenen vergleichbar waren, erläutert das Team.
Wesentlich geringeres Risiko
„Wir fanden heraus, dass im Vergleich zur Kontrollgrupe 50 Prozent weniger MS-Patienten eine Amyloid-Pathologie aufwiesen“, berichtet der Erstautor der Studie Dr. Matthew Brier. Dieses Ergebnis stütze die Beobachtung von Dr. Cross, dass Personen mit MS anscheinend seltener Alzheimer entwickeln.
Die Forscher fanden außerdem heraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Amyloid-Plaque-Akkumulation im Gehirn umso geringer war, je typischer die MS-Vorgeschichte der Teilnehmenden war, was das Alter des Krankheitsausbruchs, den Schweregrad und den gesamten Krankheitsverlauf betrifft.
Bestimmte Aspekte von MS entscheidend?
Bei Personen mit atypischen MS-Formen seien die Zusammenhänge weniger ausgeprägt ausgefallen. Dies spreche dafür, dass es etwas an der Art der MS selbst gibt, das vor der Alzheimer-Krankheit schützt.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Komponente der Biologie der Multiplen Sklerose oder der Genetik von MS-Patienten schützend gegen die Alzheimer-Krankheit wirkt“, betont Dr. Brier.
Hoffnung auf neuen Therapieansätze
„Wenn wir herausfinden könnten, welcher Aspekt schützend wirkt, und ihn kontrolliert anwenden könnten, könnte dies zu therapeutischen Strategien für die Alzheimer-Krankheit führen“, so Dr. Brier weiter.
Zum Beispiel sei es möglich, dass das Immunsystem bei MS-Betroffenen während eines akuten Krankheitsschubes nicht nur das zentrale Nervensystem einschließlich des Gehirns angreift, sondern dabei auch Amyloid-Plaques abbaut.
„Vielleicht hatten die MS-Patienten, als sich die Amyloid-Pathologie der Alzheimer-Krankheit entwickelte, ein gewisses Maß an Entzündung in ihrem Gehirn, die durch ihre Immunreaktionen ausgelöst wurde“, ergänzt Dr. Brier.
So seien aktivierte Mikroglia, die Teil der Immunantwort des Gehirns bei MS sind, in früheren Studien an Tieren bereits mit der Entfernungen von Amyloid-Ablagerungen aus dem Gehirn in Verbindung gebracht worden.
Insgesamt eröffnen die Studienergebnisse auch neue Ansätze für die Alzheimer-Forschung und zur Verbesserung der Alzheimer-Therapie, resümiert Dr. Brier.
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Matthew R. Brier, Suzanne E. Schindler, Amber Salter, Dana Perantie, Nicole Shelley, Bradley Judge, Sarah Keefe, Kristopher M. Kirmess, Philip B. Verghese PhD, Kevin E. Yarasheski, Venky Venkatesh, Cyrus A. Raji, Brian A. Gordon, Randall J. Bateman, John C. Morris, Robert T. Naismith, David M. Holtzman, Tammie L.S. Benzinger, Anne H. Cross: Unexpected Low Rate of Amyloid-β Pathology in Multiple Sclerosis Patients; in: Annals of Neurology (veröffentlicht 04.07.2024), onlinelibrary.wiley.com
- Washington University School of Medicine: Multiple sclerosis appears to protect against Alzheimer’s disease (veröffentlicht 23.08.2024), eurekalert.org
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.