MS: Genetische Veranlagung allein führt nicht zur Krankheit
Bei Multipler Sklerose (MS) richten sich die Zellen des Immunsystems gegen den eigenen Körper und greifen das zentrale Nervensystem an. Eine Heilung für die Autoimmunerkrankung gibt es bislang noch nicht. Forschende haben nun in einer Zwillingsstudie möglicherweise den zellulären Urknall der MS entdeckt.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Zürich (UZH) und des LMU Klinikums München haben das Immunsystem von eineiigen Zwillingspaaren untersucht, um den Einfluss von Umwelt und Genetik auf MS aufzuschlüsseln. Die Forschenden haben dabei möglicherweise Vorläuferzellen der krankheitsverursachenden T-Zellen entdeckt.
Ursache noch immer ungeklärt
Die Multiple Sklerose (MS), eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, ist die häufigste Ursache für neurologische Beeinträchtigungen bei jungen Erwachsenen. Bei der Krankheit attackiert das eigene Immunsystem das Gehirn und Rückenmark.
Hierdurch kommt es zu meist fortschreitenden neurologischen Funktionsstörungen wie Sehstörungen, Sensibilitätsstörungen, motorischen Ausfällen (beispielsweise Einschränkung der Gehfähigkeit) sowie auch kognitiven Einschränkungen.
Obwohl die Ursache der MS noch immer ungeklärt ist, wurden bereits eine Vielzahl von genetischen Risikofaktoren und Umwelteinflüssen mit der Erkrankung in Verbindung gebracht.
Genetische Risikovarianten mit MS-Entstehung verknüpft
Studien der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass genetische Risikovarianten unabdingbar mit der Entstehung der MS verknüpft sind.
„Durch unsere Studie konnten wir zeigen, dass ungefähr die Hälfte der Komposition unseres Immunsystems durch die Genetik bestimmt wird“, erklärt Dr. Florian Ingelfinger, Doktorand am Institut für Experimentelle Immunologie der Universität Zürich, in einer Mitteilung.
Dass diese genetischen Einflüsse zwar bedeutsam sind, jedoch nicht ausreichen, um eine MS auszulösen, zeigt die neue Studie, die in dem Fachjournal „Nature“ veröffentlicht wurde.
Den Angaben zufolge wurden in dieser Studie 61 eineiige – also genetisch identische – Zwillingspaare untersucht, von denen jeweils ein Zwilling an MS leidet und der andere Zwilling gesund ist.
„Obwohl auch die gesunden Zwillinge ein maximales familiäres Risiko für das Auftreten einer MS tragen, gab es bei ihnen keine klinischen Anzeichen für eine MS”, so PD Dr. med. Lisa Ann Gerdes, Neuroimmunologin am Institut für Klinische Neuroimmunologie des LMU Klinikums und Leiterin der MS TWIN STUDY.
Genetische Einflüsse konnten ausgeschlossen werden
Dank dieser einzigartigen Kohorte von eineiigen Zwillingspaaren konnten beim Vergleich von Zwillingen mit und ohne MS die genetischen Einflüsse ausgeschlossen werden.
„Wir wagen uns an die zentrale Frage heran, wie das Immunsystem von zwei genetisch identischen Individuen in nur einem Fall zu dieser deutlichen Entzündungsreaktion und massiven Nervenschäden führen kann, während es beim anderen Zwilling zu keinerlei Schäden kommt”, sagt Prof. Becher vom Institut für Experimentelle Immunologie der UZH.
Dadurch kann das Team ganz gezielt und frei von genetischen Einflüssen die Veränderungen im Immunsystem verfolgen, die letztendlich die MS bei einem Zwilling auslösen, während die jeweilige Zwillingsschwester beziehungsweise der Zwillingsbruder von der Erkrankung verschont bleibt.
Stärkere Aktivierung von T-Zellen
Die Forscherinnen und Forscher bedienen sich modernster Technologien, um die sogenannten Immunprofile der Zwillingspaare in ihrem Detailreichtum zu beschreiben.
„Erstaunlicherweise fanden wir die grössten Unterschiede in den Immunprofilen von kranken Zwillingen in sogenannten Zytokin-Rezeptoren, also in der Art und Weise, wie Immunzellen untereinander kommunizieren. Das Zytokin-Netzwerk ist quasi die Sprache des Immunsystems“, erläutert Dr. Ingelfinger.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass eine erhöhte Empfindlichkeit für bestimmte Zytokine zu einer stärkeren Aktivierung von T-Zellen im Blut von Patientinnen und Patienten mit MS führt. Diese sind besonders fähig, in das zentrale Nervensystem der Erkrankten einzuwandern und dort Schäden zu verursachen.
Laut der Mitteilung wiesen die identifizierten Zellen Merkmale von erst kürzlich aktivierten Zellen auf, welche sich in einer Entwicklung zu voll funktionsfähigen T-Zellen befanden. „Möglicherweise haben wir hier den zellulären Urknall der MS entdeckt – Vorläuferzellen aus denen krankheitsverursachende T-Zellen entstehen“, so Prof. Becher.
Entstehung der Krankheit besser verstehen
„Die Erkenntnisse dieser Studie sind besonders im Vergleich mit bisherigen Studien zur MS wertvoll, welche nicht für die genetische Veranlagung kontrollieren “, hebt Prof. Becher hervor.
„So entschlüsseln wir, welcher Teil der Immunstörung in der MS von genetischen Komponenten und welcher von Umweltfaktoren beeinflusst wird. Dies ist von fundamentaler Wichtigkeit, um die Entstehung der Erkrankung zu verstehen.“
Die Zwillingspaare wurden im Rahmen der nationalen MS TWIN STUDY am Institut für Klinische Neuroimmunologie des LMU Klinikums Münchens für die Studie rekrutiert.
„Die einzigartige Gelegenheit, Genetik und Umwelt in der Multiplen Sklerose zu entschlüsseln, verdanken wir allein unseren Patientinnen und Patienten, die sich zu dieser Studie bereit erklärt haben“, so PD Dr. Lisa Ann Gerdes. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universität Zürich: Multiple Sklerose: Zwillingsstudie entschlüsselt Einfluss von Umwelt und Genetik, (Abruf: 21.02.2022), Universität Zürich
- Florian Ingelfinger, Lisa Gerdes et al.: Twin study reveals non-heritable immune perturbations in multiple sclerosis; in: Nature, (veröffentlicht: 16.02.2022), Nature
Wichtiger Hinweis:
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