Nervengift Tetanustoxin eröffnet erste Behandlung gegen Muskelschwund
Mehr als 600 Muskeln stützen und bewegen unseren Körper. Zudem sind sie daran beteiligt, dass die Organe funktionieren. Muskelschwund ist der Abbau von Muskelmasse. Er ist ein Krankheitszeichen, das verschiedene Ursachen haben kann. Forschende berichten nun über einen Wirkstoff gegen Muskelabbau.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Göttingen und Berlin haben erstmals gezeigt, dass das hochpotente Nervengift Tetanustoxin gegen Muskelschwund wirkt. Ihre Studienergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle“ veröffentlicht.
Noch kein wirksames Medikament
Schlaganfall, Multiple Sklerose (MS) oder Rückenmarksverletzungen zählen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, bei denen es durch eine Störung im zentralen Nervensystem zu dauerhaften Lähmungen und Muskelschwund kommen kann, heißt es in einer aktuellen Mitteilung der Universitätsmedizin Göttingen (UMG).
Für eine Behandlung gibt es bislang kein wirksames Medikament. Daher liegt der Schwerpunkt der Therapie auf Physio- und Ergotherapie.
Um die Behandlungslücke schließen zu können, forschen Göttinger und Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um den Neurologen Prof. Dr. David Liebetanz, Klinik für Neurologie der UMG, seit etwa zehn Jahren an einer neuartigen medikamentösen Therapie. Im Fokus steht dabei das hochgiftige Tetanustoxin, bekannt als Auslöser von Wundstarrkrampf (Tetanus).
Studie an Hunden
Nun ist den Forschenden ein wichtiger Meilenstein in Richtung klinischer Anwendung gelungen. Gemeinsam mit dem Neurologen Prof. Dr. Stephan Hesse von der Klinik Medical Park Berlin Humboldtmühle und dem Tierarzt Dr. Martin Deutschland von der Neurologischen Überweisungspraxis für Haustiere, Berlin, führten Liebetanz und sein Team eine plazebo-kontrollierte und doppelt-verblindete Studie an Hunden durch, die aufgrund eines Bandscheibenvorfalls an einer Querschnittlähmung litten.
Wie es in der Mitteilung heißt, geht die Idee, das eigentlich hochgiftige Tetanustoxin als mögliche Therapie für Lähmungen zu nutzen, auf den moldawischen Neurologen Boris Sharapov zurück. Dieser berichtete in der Zeit des 2. Weltkriegs von drei durch Schüsse verwundeten Patienten, zwei mit Querschnittlähmung und einem mit einer Halbseitenlähmung.
Alle drei Männer entwickelten zufällig auch eine Tetanusinfektion. Dabei produziert das Bakterium Clostridum tetani aus der infizierten Wunde heraus große Mengen Tetanustoxin. Das führt zu mehr oder weniger den ganzen Körper betreffenden Muskelkrämpfen, dem sogenannten Wundstarrkrampf.
Im weiteren Verlauf kam es bei den Patienten sowohl zu einer Zunahme des Muskeltonus als auch zu aktiven Bewegungen in den zuvor gelähmten Gliedmaßen. Nach wenigen Tagen stellte der Neurologe fest, dass der halbseitig gelähmte Patient keinerlei Lähmungen mehr zeigte. Aus seinen Beobachtungen dieser zufälligen Tetanusinfektionen schloss Sharapov, dass das Tetanustoxin die noch erhaltenen Nervenzellen positiv stimuliert haben muss. In seinem Bericht von 1946 postulierte er eine mögliche therapeutische Verwendung des Tetanustoxins.
Zunahme der Muskelmasse erzielt
„Heute wissen wir, dass Tetanustoxin, wenn wir es in den Muskel injizieren, hemmende Nervenzellen auf Rückenmarksebene ausschaltet. Dadurch werden motorischen Nervenzellen wieder aktiviert, die die betroffene Muskulatur direkt ansteuern. Auf Grundlage dieser einzigartigen Wirkungsweise lässt sich eine Zunahme der Muskelmasse von zuvor gelähmter Muskulatur erzielen“, erläutert Dr. Anna Kutschenko, eine der Erst-Autorinnen der Publikation.
Für die Studie wurden 25 querschnittgelähmte Hunde zur Teilnahme nach Göttingen eingeladen. Neben umfangreichen klinischen Tests wurde bei den Tieren eine sonographische Messung der Muskeldicke durchgeführt.
„Vier Wochen nach der Injektion von Tetanustoxin in die vom Muskelschwund betroffene Muskulatur ergab die erneute Messung eine deutliche Zunahme der Muskeldicke im Vergleich zu den mit Plazebo injizierten Hunden“, so Dr. Anja Manig, ebenfalls Erst-Autorin der Publikation und Ärztin in der Klinik für Neurologie der UMG.
Noch nie zur Behandlung beim Menschen eingesetzt
Erstmals konnten die Göttinger und Berliner Forscherinnen und Forscher mit dieser Studie nachweisen, dass sich mit Tetanustoxin der ausgeprägte Muskelschwund bei Querschnittlähmung deutlich verbessern lässt.
„Es ist das erste Mal überhaupt, dass mit einer medikamentösen Behandlung ein Muskelaufbau bei gelähmten Muskeln erzielt werden konnte“, erläutert Prof. Liebetanz, Leiter des Projekts und Senior-Autor der Publikation.
„Obwohl Tetanustoxin eine hohe Ähnlichkeit mit Botulinumtoxin aufweist, wirkt es genau gegenteilig. Während Botulinumtoxin zu Lähmung und Muskelatrophie führt, bewirkt Tetanustoxin eine Zunahme des Muskeltonus und der Muskelmasse“, so der Experte.
Tetanustoxin ist bisher noch nie zur Behandlung beim Menschen eingesetzt worden. Vor diesem Schritt wird das Forschungsteam aus Göttingen und Berlin noch einige Untersuchungen durchführen. Diese betreffen vorwiegend die Sicherheit sowie die Dosierung des Nervengifts beim Menschen. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universitätsmedizin Göttingen: Tetanustoxin: Der erste Wirkstoff gegen Muskelabbau, (Abruf: 06.11.2021), Universitätsmedizin Göttingen
- Anna Kutschenko, Anja Manig, Angelika Mönnich, Beatrice Bryl, Cécile-Simone Alexander, Martin Deutschland, Stefan Hesse & David Liebetanz: Intramuscular tetanus neurotoxin reverses muscle atrophy: a randomized controlled trial in dogs with spinal cord injury; in: Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle, (veröffentlicht: 27.10.2021), Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.