Getötete Kinder: Meist sind Eltern die Täter
Wenn kleine Kinder entführt, missbraucht oder umgebracht werden, haben viele Menschen schnell Argumente gegen „Fremde“ parat. Eine neue Studie über junge Opfer von Gewaltverbrechen zeigt nun aber, dass die Täter in den meisten Fällen Väter, Mütter oder deren neue Lebenspartner sind.
Das eigene Kind entführt und ermordet
Für die meisten Mütter und Väter dürfte es wohl einer der schlimmsten Alpträume überhaupt sein: Das eigene Kind wird von einem Fremden entführt und ermordet. Für manche wird dies leider Realität. So erhielten etwa erst im November die Eltern des vierjährigen Mohamed und die Eltern des sechsjährigen Elias schreckliche Gewissheit: Ein 32-Jähriger aus Brandenburg gestand nach seiner Festnahme, den Flüchtlingsjungen Mohamed am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin mitgenommen und getötet zu haben. Außerdem räumte er später räumte ein, den seit Juni in Potsdam vermissten Elias umgebracht zu haben. Zudem soll der mutmaßliche Mörder Mohamed auch sexuell missbraucht haben. Das Schicksal der beiden Jungen erschütterte die ganze Republik.
Tötungsdelikte an Kindern untersucht
Unzählige Kinder erleiden oft schon in ganz frühen Lebensjahren sexuelle Gewalt. Erst vor wenigen Monaten wurden Forschungsergebnisse veröffentlicht, denen zufolge zehn Prozent Erwachsene hierzulande als Kind sexuell missbraucht wurden. Viele Opfer leben gar nicht so lange, sie werden getötet. Wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet, analysiert ein Team am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) seit acht Jahren Tötungsdelikte an Kindern in Deutschland. KFN-Direktor Thomas Bliesener erklärte, ein Ziel des Projektes liege darin, Strategien zur Prävention zu entwickeln.Die Studie über die unter sechsjährigen Opfer ist bereits abgeschlossen. Den Angaben zufolge läuft derzeit ein Folgeprojekt, das die getöteten Kinder zwischen sechs und 13 Jahren in den Blick nimmt.
Täter aus dem „absoluten sozialen Nahraum“
„Manche Delikte treten in der öffentlichen Wahrnehmung stark in den Vordergrund, dabei sind sie sehr selten“, so Bliesener. „Fälle wie die Morde an Mohamed und Elias sind die absolute Ausnahme“, fügte die frühere Projektleiterin, Ulrike Zähringer hinzu. Die Expertin war daran beteiligt, die Strafakten zu bundesweit allen getöteten unter Sechsjährigen im Zeitraum von 1997 bis 2006 auszuwerten. „Wir haben die Daten zu 535 Opfern untersucht. Darunter waren keine Sexualdelikte und kein einziger echter Fremdtäter“, erklärte die Kriminologin. „Vielmehr stammten die Täter stets aus dem absoluten sozialen Nahraum der Kinder, in den allermeisten Fällen waren es die Eltern oder deren neue Lebenspartner.“
Unmittelbar nach der Geburt umgebracht
Den Untersuchungen zufolge bestand die größte Gruppe mit 199 Opfern (37 Prozent) aus Kindern, die unmittelbar nach der Geburt von ihren Müttern umgebracht wurden. Wie es heißt, hatten diese Frauen ihre Schwangerschaft zuvor verheimlicht oder total verdrängt und wurden von der Geburt überrascht. „Es ist schwer zu sagen, welche Präventionsangebote hier helfen könnten“, sagte Zähringer. Vor 15 Jahren wurde in Hamburg die erste Babyklappe eingerichtet. Mittlerweile gibt es in ganz Deutschland mehrere Dutzend solcher Wärmebettchen, in die Frauen ihre ungewollten Babys nach der Geburt anonym legen können. „Dafür muss man sich aber vorher informieren und planen“, erläuterte die Kriminologin. „Dazu waren die Frauen in den Fällen, die wir untersucht haben, nicht in der Lage.“
Familienhelfer sollten spezielle Schulungen erhalten
Erschreckend ist auch die Erkenntnis, dass etwa ein Viertel der getöteten Babys und Kleinkinder zu Tode misshandelt wurden. Auch hier waren die Täter in den meisten Fällen die biologischen oder sozialen Eltern, in jedem fünften Fall der Stiefvater beziehungsweise Lebensgefährte der Mutter. Im aktuellen Fall des gewaltsam zu Tode gekommenen kleinen Tayler aus Hamburg stehen ebenfalls die Mutter beziehungsweise deren Lebenspartner unter Verdacht. Rainer Becker, Chef der Deutschen Kinderhilfe, hat den Hamburger Behörden schwere Versäumnisse vorgeworfen: Wie es heißt, war der Einjährige bereits wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung aus der Familie genommen, aber wieder zurückgegeben worden. Laut Becker müsse jeder Familienhelfer im Auftrag des Jugendamtes eine Schulung erhalten, um Verletzungsspuren bei Kindern richtig einzuschätzen: „Was spricht für einen Unfall? Was spricht für Gewalt?“ Ärzte berichteten bereits vor Jahren, dass hierzulande jährlich bis zu 200 Kinder am Schütteltrauma sterben, das in manchen Fällen nicht eindeutig erkannt wird. Zugefügt wird es den Kleinen in den meisten Fällen durch Elternteile, die das weinende Baby so zur Ruhe bringen wollen.
Zahl der getöteten Kinder geht zurück
Fast 13 Prozent der kleinen Kinder in der Studie des KFN wurden Opfer eines erweiterten Suizides. „Vor diesen Taten gibt es Warnzeichen, für die die Polizei, Jugendämter, aber auch die allgemeine Bevölkerung sensibilisiert werden sollten“, so KFN-Chef Bliesener. „Die Familien ziehen sich häufig schon eine Zeit lang vor der Tat zurück, manchmal gehen die Kinder nicht mehr zur Schule.“ Es gibt manchmal sogar Ankündigungen des Täters, er werde die Familie mit in den Tod reißen. Häufig ist der Hintergrund ein Trennungsdrama.
Aktuell sind die Wissenschaftler dabei, die Akten der zwischen 1997 und 2012 getöteten 6- bis 13-Jährigen zu analysieren. „Es liegen noch keine abschließenden Zahlen vor, aber so wie es momentan aussieht, wird ein Großteil der älteren Kinder bei erweiterten Suiziden getötet“, erläuterte Zähringer. Zwar gebe es im Gegensatz zu den unter Sechsjährigen nun auch Sexualdelikte und Fremdtäter, allerdings sei diese Fallgruppe sehr klein. Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik geht die Zahl der getöteten Kinder kontinuierlich zurück. Wurden im vergangenen Jahr 46 unter Sechsjährige und 17 Sechs- bis Dreizehnjährige getötet, waren es 2004 noch 85 jüngere und 35 ältere Mädchen und Jungen. Im Jahr 1997 wurden insgesamt 148 Opfer registriert. Laut Zähringer könne über die Gründe nur spekuliert werden. Der Rückgang habe möglicherweise mit einer gestiegenen Sensibilität für das Phänomen Gewalt gegen Kinder zu tun. Oder auch mit der besseren medizinischen Versorgung, die mehr Opfer von schweren Gewalttaten überleben lässt. (ad)
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