Wenn Sport zur Sucht wird
13.11.2013
Menschen, bei denen ein zwanghafter Drang zum Sport treiben besteht, könnten an Sportsucht leiden. Diese als Verhaltenssucht eingestufte Störung ist weder in der ICD 10 noch in der DSM-IV gelistet und deshalb nicht als eigenständige Diagnose anerkannt. Das es dieses Phänomen alledings gibt, ist dennoch unbestritten. In einigen Fällen liegt neben der Sportsucht auch eine Essstörung vor. Um das Körpergewicht zu reduzieren, unterziehen sich die Betroffenen einem intensiven Training, mit Blick auf die gewünschte Idealfigur.
Es gibt mehrere wissenschaftliche Erklärungsansätze, wie eine Sportsucht entstehen kann. Für einige Betroffene dient die bis zur völligen Erschöpfung angestrebte Verausgabung dazu, Misserfolge auszugleichen oder als Problembewältigung bei Misserfolgen in anderen Bereichen.
In Deutschland sind nach Schätzungen von Psychologen etwa drei Prozent der Bevölkerung betroffen. "Ausgehend von einer Studie, die wir mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen durchgeführt haben, würde ich sagen, dass die Krankheitshäufigkeit unter den intensiv Sporttreibenden bei ein bis drei Prozent liegt", sagt Prof. Oliver Stoll von der Universität Halle-Wittenberg.
Nicht selten entsteht bei den Betroffenen ein Gefühl von innerer Unruhe, wenn sie auf ihre gewohnte Dosis Sport verzichten. Es können sogar körperliche Symptome wie Magenschmerzen, funktionelle Herzbeschwerden oder Rückenschmerzen entwickeln.
"Wenn jemand einen so zwanghaften Drang verspürt, Sport zu treiben, dass der Verzicht auf seine gewohnte Dosis ihn psychisch oder sogar körperlich leiden lässt, ist das nicht normal", erklärt Jens Kleinert, Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie an der Deutschen Sporthochschule Köln. "Man kann da schon von Suchtverhalten sprechen.“
Fast jeder 20. Sportler suchtgefährdet
Um sich einen Überblick über das Ausmaß der Sportsucht in der Bevölkerung zu verschaffen, wurde im Rahmen einer Studie 1089 Frauen und Männer, die einen Ausdauersport wie Laufen oder Radfahren betreiben, zu ihren Trainingsgewohnheiten befragt. Dabei zeigte etwa jeder 20. von ihnen Tendenzen, die auf eine Sportsucht oder Sportsuchtgefährdung hinweisen könnten.
"Vielleicht liegt es auch daran, dass sie sehr bereitwillig über ihr exzessives Trainieren sprechen: Fest steht, dass Ausdauersportler mit das höchste Erkrankungsrisiko zu haben scheinen", erklärt Stoll.
Ein Zusammenhang mit den Idealen unserer durch Leistung geprägten Welt, ist nicht von der Hand zu weisen. Leistung hat einen hohen Stellenwert und wird in der Regel positiv honoriert. Aber auch die durch die Werbung suggerierten Schönheitsideal, führen mehr und mehr zu einem regelrechten Körperkult, dem sich zunehmend auch immer mehr Männer unterwerfen.
So zählen auch Kraftsportler, die immer mehr Muskelmasse aufbauen, aber auch Extremsportler, die sich einen Kick nach dem Anderen durch die Adrenalinausschüttung des Körpers verschaffen, ebenfalls zu der Risikogruppe. Bei Magersüchtigen bildet sich eine Sportsucht in der Regel, aus dem quasi zwanghaften Streben, nach einem in ihren Augen perfekten Körper. "Im Fokus steht etwa, weiter abzunehmen oder Fressanfälle auszugleichen. Deshalb spricht man hier von sekundärer Abhängigkeit", erläutert Kleinert. Diese werde wesentlich häufiger diagnostiziert als die reine Sportsucht, dennoch sind die Symptome nahezu identisch.
Wenn Sport das Leben bestimmt
Sportsüchtige lassen sich daran erkennen, dass Sport nicht nur Teil des Lebens ist, sondern es auch primär bestimmt. Der Sportpsychologe rof. Thomas Schack, Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Sportpsychologie, sagt das er selber nicht trainiere, weil er Lust darauf habe, sondern einen unkontrollierbaren Drang dazu verspüre.
Wie bei den meisten Süchten verlangt der Körper nach immer größeren Mengen des berauschenden Gefühls der Hormone Dopamin und Adrenalin, die durch den Sport ausgeschüttet werden und auch Entzugssymptome wie Kopf- und Magenschmerzen, Nervosität oder Depressionen auslösen können. Doch das in Extremsport ausufernde Verhalten kann zu schwerwiegenden körperliche Gesundheitsschäden führen. "Auf Dauer kann das exzessive Trainingsverhalten dazu führen, dass der Körper sich nicht mehr regenerieren kann und es zu einem Übertrainingseffekt kommt, der mit Symptomen wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerz oder Muskelbeschwerden einhergeht", sagt Kleinert. Die hohe körperliche Belastung führt langfristig zu einer Schwächung des Immunsystems und einem vorzeitigen Verschleiß von Gelenken, Knochen und Sehnen.
Trainieren trotz Verletzungen
Ein weiterer Effekt der beobachtet wurde ist, dass Sportsüchtige oft auch mit Verletzungen weiter trainieren. "Ich kenne Fälle, in denen mit nichtverheilten Brüchen oder Bänderrissen trainiert wurde, was zu bleibenden Schäden führen kann", warnt Schack.
Probleme können sich auch auf auf psychosozialer Ebene entwickeln. Bei Sportsüchtige entwickelt sich nicht selten eine soziale Isolation, da sie den Sport gegenüber Freunden aber auch die Familie vorziehen. "Die Betroffenen stehen ständig unter Druck und fühlen sich so getrieben von ihrem Sportdrang, dass sie gar nicht mehr richtig zur Ruhe kommen", schildert Stoll. "Manche stehen sogar mitten in der Nacht auf, um zu trainieren."
Traumata oder eine gestörte Selbstwahrnehmung
Experten empfehlen bei ersten Anzeichen eines Suchtverhaltens, das eigene Trainingsverhalten definitiv kritisch zu hinterfragen.
"Hinweise für das Vorliegen einer Sportsucht sind nach Angaben von Sportpsychologen:
– wenn Ausdauersport zum zentralen Lebensinhalt wird
– wenn bei erzwungenem Verzicht auf Sport körperliche Symptome wie Nervosität und Magenschmerzen auftreten oder Schuldgefühle bzw. Depressionen
– wenn die Belastung kontinuierlich gesteigert werden muss
– wenn der Drang zu trainieren als innerer Zwang erlebt wird
– wenn körperliche Warnsignale vor Überlastung ignoriert werden
– wenn auch bei Verletzungen weiterhin trainiert wird
– wenn soziale Kontakte wegen des Sports vernachlässigt oder aufgegeben werden.
Wenn die Grenze von Sportleidenschaft zu Sportsucht überschritten ist, heißt es, einen Therapeuten zurate zu ziehen", sagt Schack. Zu den häufigsten Auslösern zählen Traumata oder eine gestörte Selbstwahrnehmung. (fr)
Bild: Tim Reckmann / pixelio.de
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