Natürliches Pflanzengift gegen multiresistente Krankenhauskeime
Nach Schätzungen sterben jedes Jahr mehr als 35.000 Menschen in Europa aufgrund von Antibiotikaresistenzen. Daher werden dringend neue Antibiotika gesucht, die auf viele Bakterien wirken und bei denen sich nicht so schnell Resistenzen entwickeln können. Forschende berichten nun, dass ein natürliches Pflanzengift als neues Breitband-Antibiotikum dienen könnte.
Schon seit Jahrzehnten sind Forschende auf der Suche nach neuen Antibiotika, denn immer mehr Bakterien sind gegen die derzeit zugelassenen Wirkstoffe resistent. Das Pflanzengift Albicidin gilt hier als ein Hoffnungsträger. Es könnte laut Forschenden gegen einige der gefährlichsten bakteriellen Infektionen im Krankenhaus wirksam sein. Ihre Forschungsergebnisse wurden nun in der Fachzeitschrift „Nature Catalysis“ veröffentlicht.
Eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen
Wie es in einer aktuellen Mitteilung der Technischen Universität (TU) Berlin heißt, stellen multiresistente Krankheitserreger wie Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa und Salmonella typhimurium eine gefährliche Belastung für das Gesundheitswesen dar, die durch die COVID-19-Pandemie noch verschärft wird.
Infektionen mit resistenten Krankheitserregern sind eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen, wobei manche Stämme panresistent werden, also alle gängigen Antibiotika nicht mehr wirken.
Nach Schätzungen der EU-Gesundheitsbehörde ECDC sterben jährlich über 35.000 Menschen in Europa aufgrund von Antibiotikaresistenzen.
Daher werden händeringend neue Antibiotika gesucht, die auf viele Bakterien wirken und bei denen sich nicht so schnell Resistenzen entwickeln können.
Neuer Hoffnungsträger
Ein neuer Hoffnungsträger ist hier das natürliche Pflanzengift Albicidin. Bereits im Jahr 2015 konnte eine Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Roderich Süssmuth vom Fachgebiet Organische und Biologische Chemie der TU Berlin zusammen mit französischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern seine chemische Struktur aufklären.
Den Angaben zufolge wird Albicidin von dem Bakterium Xanthomonas albilineans produziert, das die verheerende Blattbrandkrankheit des Zuckerrohrs verursacht. Der Erreger verwendet dabei Albicidin, um die Pflanze anzugreifen, diese als Wirtsorganismus zu nutzen und sich dann weiter auszubreiten.
In den vergangenen Jahren haben Forscherinnen und Forscher verstanden, wie diese bakterielle Strategie funktioniert: Sie zielt auf ein Enzym namens DNA-Gyrase (oder einfach „Gyrase“) ab. Dieses Enzym dockt an die DNA an und windet diese auf. Dies wird immer dann wichtig, wenn die Zelle sich teilen will und dafür die DNA vollständig kopiert werden muss.
Gyrase hat aber eine Achillesferse: Um ihre Aufgabe zu erfüllen, muss sie die DNA-Doppelhelix kurzzeitig komplett durchschneiden. Das ist ein gefährlicher Moment für die Zelle, denn es besteht die Gefahr, dass die DNA-Enden nicht wieder korrekt zusammenfinden.
Normalerweise fügt Gyrase die beiden DNA-Stücke rasch wieder zusammen, doch Albicidin verhindert dies, was zu einer geschädigten DNA und zum Tod der Zelle führt.
Wahrscheinlich gegen „Superbugs“ wirksam
Albicidin kann auf diese Weise nicht nur dem Zuckerrohr-Schädling bei seiner Vernichtungsarbeit helfen. Denn das von ihm attackierte Enzym Gyrase kommt nicht nur in Pflanzenzellen vor, sondern auch in Bakterien.
Beim Menschen wiederum gibt es zwar verwandte Enzyme, die Unterschiede zur Gyrase sind jedoch hinreichend groß, so dass Albicidin uns mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts anhaben kann.
Wichtig ist zudem, dass sich die Art und Weise, wie Albicidin mit der Gyrase interagiert, ausreichend von bestehenden Antibiotika unterscheidet, so dass Albicidin nach einer chemischen Optimierung wahrscheinlich gegen die meisten der derzeitigen antibiotikaresistenten Bakterien, den sogenannten „Superbugs“, wirksam ist.
Dies macht den Stoff zu einem der wichtigsten Kandidaten für das herbeigesehnte neue Breitband-Antibiotikum.
Internationale Zusammenarbeit
„Trotz seines bekannten antibiotischen Potenzials und seiner geringen Toxizität in vorklinischen Experimenten ist es notwendig, die Struktur und Zusammensetzung des doch recht großen Albicidin-Moleküls für seine Verwendung als Arzneimittel zu optimieren“, erläutert Prof. Dr. Süssmuth.
„In der Chemie sprechen wir hierbei von einem ‚rationalen Design‘ des Moleküls. Das wurde aber bisher behindert durch die Tatsache, dass wir nicht genau wussten, wie Albicidin mit der Gyrase interagiert.“
Daher hat sich die Forschungsgruppe an der TU Berlin mit den Laborteams von Dr. Dmitry Ghilarov am John Innes Centre in Norwich (Großbritannien) und Prof. Jonathan Heddle an der Jagiellonen-Universität Krakau (Polen) zusammengetan. Mit ihrer Hilfe konnte Albicidin quasi bei seiner Arbeit beobachtet werden.
Dabei kam die sogenannte Kryo-Elektronenmikroskopie zum Einsatz, bei der bei tiefen Temperaturen von unter minus 150 Grad Celsius Elektronenstrahlen verwendet werden, um die Vorgänge auf molekularer Ebene ohne Verwacklung in tausenden von Schnappschüssen festzuhalten.
Es zeigte sich, dass Albicidin eine Art L-Form bildet und so auf einzigartige Weise sowohl mit der Gyrase als auch mit der DNA interagieren kann. In diesem Zustand kann sich die Gyrase nicht mehr bewegen, um die DNA-Enden zusammenzubringen.
Wie es in der Mitteilung heißt, ähnelt die Wirkung von Albicidin hier einem Schraubenschlüssel, der zwischen zwei laufende Zahnräder geworfen wird und diese blockiert.
Bereits in kleinen Konzentrationen hoch wirksam
„Es scheint, dass Albicidin aufgrund der Art der Wechselwirkung auf einen wirklich wesentlichen Teil des Enzyms abzielt und es für Bakterien schwierig wäre, dagegen eine Resistenz zu entwickeln“, so Roderich Süssmuth.
Und Kay Hommernick, der an der Arbeit beteiligte Doktorand, fügt hinzu: „Jetzt, da wir ein strukturelles Verständnis haben, können wir die Anzahl der Bindungsstellen zwischen Albicidin und der Gyrase erhöhen und weitere Modifikationen an dem Molekül vornehmen, um seine Wirksamkeit und die pharmakologischen Eigenschaften zu verbessern.“
Mit Hilfe von Visualisierungen am Computer haben die Forschenden bereits Variationen des Antibiotikums mit verbesserten Eigenschaften chemisch synthetisiert.
In Tests erwiesen sich diese Varianten als wirksam gegen manche der gefährlichsten bakteriellen Infektionen im Krankenhaus, darunter Escherichia coli, Klebsiella pneumoniae, Pseudomonas aeruginosa und Salmonella typhimurium. Dabei war Albicidin schon in kleinen Konzentrationen hoch wirksam.
Es gehe nun darum, die Forschung zu klinischen Studien am Menschen voranzubringen, erklärt Süssmuth. „Sind diese erfolgreich, würde Albicidin eine ganz neue Klasse von Antibiotika begründen – und könnte vielen Tausenden von Menschen jährlich das Leben retten.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Technische Universität Berlin: Natürliches Pflanzengift als neues Breitband-Antibiotikum, (Abruf: 28.01.2023), Technische Universität Berlin
- Elizabeth Michalczyk, Kay Hommernick, Iraj Behroz, Marcel Kulike, Zuzanna Pakosz-Stępień, Lukasz Mazurek, Maria Seidel, Maria Kunert, Karine Santos, Holger von Moeller, Bernhard Loll, John B. Weston, Andi Mainz, Jonathan G. Heddle, Roderich D. Süssmuth & Dmitry Ghilarov: Molecular mechanism of topoisomerase poisoning by the peptide antibiotic albicidin; in: Nature Catalysis, (veröffentlicht: 23.01.2023), Nature Catalysis
- European Centre for Disease Prevention and Control: 35 000 annual deaths from antimicrobial resistance in the EU/EEA, (Abruf: 28.01.2023), European Centre for Disease Prevention and Control
Wichtiger Hinweis:
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