Verhaltensweisen werden schon von kleinen Kindern als soziale Normen verstanden
Die Psyche von Kindern stellt die Wissenschaft immer wieder vor besondere Rätsel, deren Entschlüsselung mitunter auch Einblicke in die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens ermöglicht. So haben Wissenschaftler in einer aktuellen Untersuchung herausgefunden, dass Kinder schon früh nach Normen und Verhaltensregeln suchen. Sie leiten diese bereits im Alter von drei Jahren aus dem Verhalten ihrer Mitmenschen ab. Dabei wird auch Fehlverhalten mitunter als soziale Norm interpretiert.
Den Angaben der der Ludwig-Maximillians-Universität München (LMU) zufolge suchen Kinder übereifrig nach sozialen Regeln. Selbst Dreijährige könnten bereits rasch soziale Normen erfassen. Dabei werden allerdings manchmal Verhaltensweisen als regelgeleitet verstanden, die dies gar nicht sind, und die Kinder pochen anschließend darauf, dass diese selbst unterstellten „Normen“ eingehalten werden, berichtet der LMU-Psychologe Dr. Marco F. H. Schmidt. Das Streben nach sozialen Regeln könnte letztlich ein maßgeblicher Faktor des menschlichen Zusammenlebens sein., vermuten die Wissenschaftler. Ihre Ergebnisse haben die Forscher in dem Fachmagazin „Psychological Science“ veröffentlicht.
Soziale Normen aus Verhaltensweisen abgeleitet
Dem LMU-Psychologen Marco Schmidt zufolge leiten schon Vorschulkinder Regeln aus individuellen Verhaltensweisen und spontane Handlungen anderer ab. Viele Regeln werden den Kleinen durch verbale Gebote und Verbote vermittelt, wie beispielsweise das „Guten Tag“ oder „Danke“ sagen. Auch sollen die Kinder lernen zu teilen und „bloß niemandem im Sandkasten die Schaufel aus der Hand reißen“, erläutern die Forscher. Die wesentlichen Regeln werden ihnen schon früh durch Erwachsene vermittelt. Solche Normen bilden eine Art „sozialen Kitt“ und spielen eine wichtige Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung menschlicher Kooperation und Kultur, so Dr. Marco Schmidt.
Kinder eigenständig auf der Suche nach Normen
Das Forscherteam hat in einer aktuellen Studie untersucht, ab wann und wie Kleinkinder ein Normverständnis entwickeln und welche psychologischen und motivationalen Mechanismen dieser Entwicklung zugrunde liegen, so die Mitteilung der LMU. In der Studie konnte Marco Schmidt in Zusammenarbeit mit Lucas P. Butler (Assistant Professor an der Universität Maryland), Julia Heinz und Professor Michael Tomasello (Co-Direktor am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig) nachweisen, dass Dreijährige die sozialen Normen nicht nur durch direkte Anweisung und Verbote lernen. Entgegen dieser bisherigen Annahme seien die Kinder eigenständig auf der Suche nach Normen und unterstellen diese sogar dort, wo Erwachsene gar keine sehen, berichten die Wissenschaftler.
Auch spontane Verhaltensweisen werden als Regeln interpretiert
„Vorschulkinder verstehen individuelle Verhaltensweisen und spontane Handlungen anderer sehr schnell als verallgemeinerbar, regelgeleitet und verbindlich“, erläutert Dr. Schmidt, der die Studie am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig geleitet, bevor er von dort im Oktober 2015 an die LMU gewechselt ist. Im Rahmen der Studie ließen die Forscher dreijährige Kinder spontane Handlungen von Erwachsenen beobachten, wobei beispielsweise eine unbekannte Person Werkzeuge und andere Objekte aus einer Tasche holte und mit diesen kurze, scheinbar zielgerichtete Handlungen ausführte. In einer anderen Variante wurden gänzlich nutzlose Gegenstände aus einem Müllbeutel herausgeholt und ebenfalls spontane Handlungen durchgeführt.
Prostest bei Regelverstößen
Beispielweise wurde im Rahmen der Versuche mit einem Ast ein Stück Rinde etwas über den Tisch gezogen, berichten die Wissenschaftler. In weiteren Versuchsvarianten wurde die gleiche Handlung spontan und mit der minimal pädagogischen Aufforderung „Guck mal!“ durchgeführt oder scheinbar unabsichtlich mit einem laut geäußerten „Ups!“ vollbracht. Unabhängig davon, was die Kinder sahen, beurteilten „sie singuläres, spontanes und scheinbar zweckloses Verhalten als verallgemeinerbar und unbedingt richtig, solange es ihrer Beobachtung zufolge nicht unabsichtlich war“, berichten die Wissenschaftler. Die Kinder haben erwarteten sogar, dass andere Versuchspersonen es genauso machen würde und protestierten, wenn diese anders mit den Gegenständen umgingen und somit gegen die von den Kindern unterstellte „soziale Norm“ verstießen.
Streben nach sozialen Normen fördert den Zusammenhalt der Gesellschaft
Laut Dr. Schmidt unterliegen „Vorschulkinder dem Trugschluss, auf den schon der schottische Philosoph David Hume hinwies, dass das, was ist, auch so sein soll.“ Dies gelte auch, wenn sie eine einfache Handlung zufällig und nur ein einziges Mal beobachtet haben und nichts dafür spricht, dass diese einer Norm oder Regel unterliegt. „Diese Befunde legen daher nahe, dass Kinder früh, sogar ohne direkte Instruktion, weitreichende Schlussfolgerungen über die soziale Welt ziehen, in der sie leben“, ergänzt Lucas P. Butler. Nach Auffassung von Dr. Schmidt könnte die frühe grundlegende Neigung von Kindern, die soziale Welt als inhärent normativ und regelgeleitet zu sehen, Ausdruck ihrer Motivation sein, Dinge gemeinsam zu machen, sich mit ihrer kulturellen Gruppe zu identifizieren und kulturelles Wissen zu erwerben. Möglicherweise sei es „unsere gemeinsame innige Beziehung zu sozialen Normen, die menschliche Gesellschaften im Innersten zusammenhält“, so das Fazit von Dr. Schmidt. (fp)
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