Mutiertes Polio-Virus offenbar immun gegen Impfstoffe
19.08.2014
Rückschlag im Kampf gegen die Kinderlähmung? Bislang galt eine Impfung als der einzig wirksame Schutz gegen die von Polioviren hervorgerufene Infektionskrankheit. Doch nun haben Forscher vom Institut für Virologie in Bonn einen Virenstamm entdeckt, der gegen den die derzeit existierenden Impfstoffe möglicherweise unwirksam sein könnte. Dadurch scheint die weltweite Bekämpfung der Krankheit weiterhin ein großes Problem darzustellen.
WHO will Polio bis 2018 komplett ausrotten
Bis vor Kurzem galt die so genannte „Kinderlähmung“ beinahe als ausgerottet. Durch die breite Anwendung der Schluckimpfung und das Programm „Global Polio Eradication Initiative“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) konnte das Virus weitgehend zurückgedrängt werden, sodass die WHO das Ziel formulierte, bis 2018 die Krankheit komplett ausrotten zu wollen. Doch der Kampf gegen die von Polioviren hervorgerufene Infektionskrankheit scheint schwerer als gedacht, denn die bislang existierenden Impfstoffe könnten möglicherweise doch nicht gegen alle Varianten des Virus erfolgreich wirken. Zu diesem Ergebnis ist nun ein internationales Forscherteam vom Institut für Virologie in Bonn gekommen. Die Wissenschaftler um Christian Drosten hatten das Poliowildvirus Typ I untersucht, welches 2010 im Kongo zu einer schweren Polio-Welle geführt hatte. Wie die Universität Bonn berichtet, waren damals 445 meist junge Erwachsene nachweislich infiziert worden, in 209 Fällen war die Krankheit tödlich geendet.
Antikörper im Blutserum gegen die drei Typen des Poliovirus
Die Polio-Welle im Kongo war dabei für die Wissenschaftler nicht nur aufgrund der hohen Opferzahl ein wichtiger Untersuchungsgegenstand. Denn damals war außerdem auffällig, dass die Menschen, die in der Folge einer Ansteckung an Lähmungen litten, im Vergleich zu anderen Ausbrüchen von Polio relativ alt gewesen waren. Dementsprechend stellte sich den Forschern die Frage, in wie fern sich das damals grassierende Poliowildvirus Typ I von anderen Viren unterscheidet und ob die derzeit bestehenden Impfungen wirksam gegen den Erreger eingesetzt werden können. Zu diesem Zweck untersuchten sie das Erbgut des Virus und kamen zu dem Ergebnis, dass die Oberfläche im Vergleich zu anderen Polioviren leicht verändert war. Zudem analysierten die Forscher das Blutserum von 24 Personen, die der Kinderlähmung damals zum Opfer gefallen waren und kamen zu einem interessanten Ergebnis: In fast allen Proben konnten Antikörper gegen die drei Typen des Poliovirus gefunden werden. Da Antikörper durch eine Infektion mit oder eine Impfung gegen einen Erreger wie dem Poliovirus entstehen, deutete dieser Umstand folglich darauf hin, dass diese Personen bereits zuvor mit Polioviren in Kontakt gekommen sein mussten.
Neue Erkenntnisse durch aufwendige Neutralisationstests
Doch wie gefährlich ist der kongolesische Poliowildvirus Typ 1? Um diese Frage zu beantworten, führten die Forscher einen sogenannten „Neutralisationstest“ (kurz: NT, auch „Plaque-Reduktions-Assay“ gennat) durch, mit dem neutralisierende Antikörper gegen bestimmte Viren im Blutserum nachgewiesen werden können. Hierfür werden Antikörpern an die Oberfläche des Virus „gebunden“, wodurch seine Aufnahme in die Zelle verhindert und eine weitere Vermehrung gestoppt wird. In der Folge reduziert sich die Anzahl an Plaques in einer Zellkultur, sodass letztendlich gemessen werden kann, inwiefern die Zellen vor der Zerstörung durch das Virus geschützt werden konnten. Wie die Wissenschaftler in den "Proceedings" der US-Akademie der Wissenschaften berichten, führten sie den aufwendigen Neutralisationstest mit dem Blutserum der 24 verstorbenen Patienten sowie dem von von 63 Kontrollpersonen durch, welche gegen die Kinderlähmung geimpft waren (12 Personen aus Gabun und 51 Personen aus Deutschland). Das Ergebnis: Die Antikörper des "PV1-RC2010" zeigten im Vergleich zu anderen Virus-Varianten eine deutlich geringere Aktivität – sodass im Falle einiger geimpfter Personen sogar der Impfschutz nicht ausgereicht hätte, um das Virus abzuwehren. Dementsprechend sei laut den Forschern zu vermuten, dass die leicht veränderte Oberfläche des Kongo-Virus dazu führe, dass sich die Antikörper nicht so gut an diese binden können. „Wir haben Polio-Viren aus Verstorbenen isoliert und genauer untersucht“, so Dr. Jan Felix Drexler, der die Studie am Institut für Virologie des Universitätsklinikums Bonn unter Leitung von Prof. Dr. Christian Drosten zusammen mit seinen Gabuner Kollegen Dr. Gilda Grard und Dr. Eric Leroy durchgeführt hatte. „Der Erreger trägt eine Mutation, die seine Gestalt an einer entscheidenden Stelle verändert“, erklärt der Experte weiter. In der Folge könnten die durch die Impfung induzierten Antikörper das mutierte Virus kaum noch erkennen und folglich auch nicht mehr außer Gefecht setzen.
Risiko einer tödlichen Atemlähmung
Ein möglicherweise herber Rückschlag im Kampf gegen die Poliomyelitis, die zwar umgangssprachlich als „Kinderlähmung“ bezeichnet wird, aber ebenso auch Erwachsene betreffen kann. Dennoch sind überwiegend Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren von der Krankheit betroffen, für die es bislang keine ursächliche Behandlung gibt. Polio kann einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen, meistens bleibt sie symptomlos, sodass Betroffene nichts von der Infektion merken, teilweise treten aber auch allgemeine Krankheitssymptome wie Fieber, Kopfschmerzen, Durchfall oder Halsschmerzen auf. Die "klassische" Kinderlähmung bzw. ein schwerer Verlauf ist hingegen eher selten. Dieser ist vor allem durch Lähmungen der Beine gekennzeichnet, neben dem können aber auch andere Muskeln (z.B. in Arm, Bauch, Brustkorb oder Augen) Symptome einer Lähmung zeigen, typisch sind außerdem starke Rücken-, Nacken- und Muskelschmerzen. Besonders gefährlich wird es, wenn die Atemmuskeln betroffen sind, denn dann besteht die Gefahr einer tödlichen Atemlähmung.
„Wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen“
Da die Polio-Epidemie im Kongo damals durch ein massives Impfprogramm und Hygiene-Maßnahmen gestoppt werden konnte, seien den Forschern nach die derzeitigen Impfstoffe dennoch generell als wirksam einzustufen – sofern sie denn rechtzeitig und konsequent eingesetzt werden würden. Nichts desto trotz sei der mutierte Erreger ein „Warnsignal“: „Wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen“, so die Warnung der Wissenschaftler. „Wir müssen die Impfquote weiter erhöhen und neue, potentere Impfstoffe entwickeln. Nur so besteht die Chance, die Kinderlähmung dauerhaft zu besiegen.“ (nr)
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