Langeweile muss wieder neu gelernt werden
„Der nächste Bus kommt erst in 8 Minuten, das ist kaum aushaltbar“, denken sich heutzutage Viele. In manchen Situationen wird man sehr schnell ungeduldig. Aus der Ungeduld wird schnell Stress. Doch woher kommt das? Ist es ein neues Phänomen unserer schnelllebigen Gesellschaft? Eine Antwort finden wir bei unserem ständigen Begleiter, dem Smartphone.
Ob im Supermarkt an der Kasse, an der Bushaltestelle oder im Wartezimmer – Im Alltag gibt es häufig Situationen, in denen wir warten müssen. Schnell wird dann das Handy gezückt. Experten warnen nun davor, dass wir das Warten verlernen. Denn dank Smartphone wird jede Sekunde, die nicht mit irgendeiner Aufgabe, Entertainment oder sonstigem Programm gefüllt ist, damit verbracht, Emails abzurufen, Nachrichten zu versenden oder im Internet zu surfen, um sich ja nicht zu langweilen. Aber ausrechnet diese Langeweile ist Experten zufolge wichtig, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und kreative Ideen zu entwickeln.
Stirbt das reine Warten aus?
Einfach nur in die Wand starren oder in den Himmel schauen, sich in Geduld üben und abwarten. Während die Menschen früher nicht wenig Zeit damit verbracht haben, einfach nur zu warten, wie etwa auf den Bus, in der Supermarktschlange oder bei Behördengängen, wird heute jede freie Minuten mit Ablenkung durch das Smartphone gefüllt. Nachrichten schreiben, viele Spielen, Social Media, im Internet surfen und vieles mehr soll uns dank zahlreicher Apps das Leben erleichtern und für das passende Entertainment sorgen. Bloß nicht langweilen, heißt die Devise.
Experten zufolge erfüllt das Warten und sich langweilen aber eine wichtige Aufgabe. Nur in solchen Momenten lassen wir unsere Gedanken schwelgen und sind kreativ. Verbieten wir uns das, droht ein Kulturverlust, wie Stefan Gosepath, Professor an der Freien Universität Berlin, betont. „Wenn wir das Warten verlernen würden, wäre das ein kultureller Verlust”, so der Philosoph gegenüber der Nachrichtenagentur „dpa“. Warten zu können und auszuhalten erfordert Selbstdisziplin. Offenbar eine Eigenschaft, über die heute nicht mehr viele Menschen verfügen. Denn bereits fünf Minuten an der Supermarktkasse, machen manch einen nervös. Schnell wird das Handy aus der Tasche geholt, um „mal schnell die Mails zu checken“, heißt es dann. Das dieses Verhalten aber tatsächlich wenig damit zu hat, wichtige Informationen einzuholen, und vielmehr eine Art Ablenkungsmanöver darstellt, um der Situation zu entfliehen, ist vielen nicht einmal bewusst. Ist gerade kein Empfang oder sind die Hände voll, wird manch einer bereits nach wenigen Minuten unruhig und ungeduldig.
Warten fördert kreatives Denken
Dabei hat das reine Warten, wie es vor einigen Jahren noch fest zum Alltag gehörte, auch seine Vorzüge. „Das Warten – so unangenehm es sein konnte – hatte etwas Positives”, erläutert der Kommunikationswissenschaftler Peter Vorderer von der Universität Mannheim gegenüber der Nachrichtenagentur. „Das war dieser Moment der Kontemplation. Ein Moment der Pause. Man ließ die Welt auf sich wirken. Man konnte nachdenken. Dass das verschwindet, ist sicherlich ein Problem. Das wird etwas sein, das uns nachhaltig verändern wird.” Nicht zuletzt wird es unser Denken verändern. Forscher haben herausgefunden, dass Kinder, deren Tagesablauf mit vielen Programmpunkten durchgeplant ist, nicht kreativ sein können. Um eigene Ideen zu entwickeln, brauchen sie Langeweile.
„In der Erfahrung des Wartens kann eine Chance liegen”, erläutert Gosepath. „Man braucht die Phasen des Nichtstuns, auch der Langeweile, zum Beispiel während einer Fahrt in der U-Bahn, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Was man sonst fast nur beim Psychotherapeuten hat.” Wenn die Gedanken schweifen, entsteht manche gute Idee, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Auch Probleme lösen sich auf diese Weise häufig ganz von allein. „Das ist natürlich nicht garantiert, aber wenn man keine Gelegenheiten schafft für solche Gedanken, dann kommen sie auch nicht”, meint Gosepath. „Man muss ihnen Raum geben.”
Warten schärft den Blick fürs Detail
Neben dem Denken könnte auch das Sehen negativ beeinträchtigt werden, wenn wir aufhören zu warten. Dabei geht es weniger um die Sehschärfe als vielmehr um die Fähigkeit, genau hinzuschauen und den Blick fürs Detail zu schärfen. Wer früher jeden Morgen an der selben Bushaltestelle auf den Bus gewartet hat, erkannte kleinste Veränderungen: Ob die Leute gegenüber neue Vorhänge hatten, die Hecke geschnitten wurde oder der Mann, der auch jeden Morgen an der Haltestelle stand, einen neuen Hut trug – kaum etwas entging der Aufmerksamkeit. Zudem waren kurze Gespräche üblich, wie etwa darüber, wann der Bus kommt und welche Buslinie die richtige ist: „Endlich, da kommt er!“ oder „Nein, dass ist doch der 42er, das ist die 22!”. Solche Gespräche sind mittlerweile nur noch selten zu hören. Niemand macht sich mehr die Mühe, die Straße zu beobachten, um zu schauen, wann und welcher Bus ankommt. Kurz vom Smartphone aufschauen und in den Bus einsteigen. Mehr passiert nicht.
Gibt es eine Gegenreaktion?
Auf der Kunstmesse Art Cologne äußerten einige Galeristen die Befürchtung, dass die heranwachsende Generation nicht mehr gewohnt sein könnten, immer das gleiche Bild anzusehen und deshalb das Bildersammeln verlernt.
Werden wir das Warten tatsächlich vollständig verlernen? Vorderer glaubt nicht daran. Vielmehr hofft er auf ein Comeback des Wartens. „Ich bin davon überzeugt, dass wir uns diese Momente des Wartens zurückholen werden. Die Zunahme von Kommunikation in Situationen, in denen man bisher nicht kommuniziert hat – oder nur mit seinem direkten Gegenüber kommuniziert hat –, ist so dramatisch, dass es hier unweigerlich eine Gegenreaktion geben muss.“ (ag)
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Bild: Lupo / pixelio.de
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