Schwerhörige haben einen feineren Tastsinn
23.11.2011
In einer kürzlich im Fachmagazin „Nature Neuroscience“ veröffentlichten Studie fand ein Forscherteam um Studienleiter Thomas Jentsch heraus, dass sich genetisch bedingte Schwerhörigkeit auch auf den Tastsinn auswirkt. Verantwortlich dafür ist ein Gen, das bisher nur in Zusammenhang mit Schwerhörigkeit identifiziert wurde. Nun wurde entdeckt, dass sich dieses Gen auch auf den bisher wenig erforschten Tastsinn auswirkt. Laut der Studienarbeit ist der Tastsinn von Menschen mit genetisch bedingter Schwerhörigkeit sensibler als der von gehör- gesunden Menschen.
Genetisch bedingte Schwerhörigkeit
In der Studie wurden spanische und niederländische Familien untersucht, in denen eine genetische Schwerhörigkeit vom Typ DFNA2 vorliegt. Bei dieser Form der Schwerhörigkeit wird die Funktion mancher Haarzellen im Ohr durch Mutation gestört.
Um zu hören, schwingen die feinen Härchen im Ohr im Rhythmus der Schallwellen. Dadurch strömen Kalium-Ionen in die Haarzellen, und es wird ein Nervensignal ins Gehirn übertragen. Die Kalium-Ionen fließend anschließend über einen Kanal in der Zellmembran wieder ab. Bei Schwerhörigen ist dieser Kanal durch eine Mutation defekt. Der Kanal besteht aus einem Eiweißmolekül namens KCNQ4. Durch Überlastung kommt es zum Absterben der Sinneszellen.
Nun fanden Forscher heraus, dass sich diese Mutation auch auf den Tastsinn auswirkt. Studienleiter Thomas Jentsch vom Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) berichtet: „Wir haben aber herausgefunden, dass KCNQ4 nicht nur im Ohr vorkommt, sondern auch in bestimmten Sinneszellen der Haut.“ Jentsch weiter: „Das hat uns auf die Idee gebracht, dass die Mutation sich auch auf den Tastsinn auswirken könnte. Dies konnten wir dann in einer engen Zusammenarbeit mit dem Labor von Gary Lewin, einem auf Tastsinn spezialisierten Kollegen vom MDC, in der Tat zeigen.“
Wie funktioniert der Tastsinn?
Ohne es bewusst wahrzunehmen, liefert uns der Tastsinn in jedem Moment lebenswichtige Informationen über unsere Umwelt. Greifen wir nach etwas, wissen wir durch die Berührung sofort, ob es heiß, kalt, glatt oder rau ist. Unsere Oberflächenwahrnehmung funktioniert über Rezeptoren in der Haut, die in Schmerz-, Mechano- und Thermorezeptoren eingeteilt werden. So können wir Schmerzen, Vibrationen, Berührungen, Temperatur und Druck wahrnehmen. Da der Tastsinn bisher noch weitgehend unerforscht ist, kann über die genauen Mechanismen nur spekuliert werden. Bekannt ist jedoch, dass für die verschiedenen Berührungsreize Sinneszellen in der Haut vorhanden sind. Durch Verformung dieser Zellen entsteht ein elektrisches Nervensignal, das an das Gehirn weitergegeben wird.
Um der Verbindung von genetisch bedingter Schwerhörigkeit und dem veränderten Tastsinn auf die Spur zu kommen, entwickelten die Forscher zunächst ein Untersuchungsmodell anhand von Mäusen, die die gleiche Mutation des Kaliumkanals zeigten wie Menschen mit dieser Form der Schwerhörigkeit. Die Tastrezeptoren in der Haut sterben durch den defekten Kanal nicht wie im Ohr ab. Die mutierten Mäuse zeigten jedoch, dass sie mit einem anderen elektrischen Signal auf mechanische Reize reagierten. Die Tastrezeptoren reagierten deutlich empfindlicher auf Vibrationsreize im niedrigen Frequenzbereich. Die Forscher schlossen daraus, dass der Kalium-Kanal als eine Art Dämpfer zu wirken scheint. Ist der Kanal normal ausgebildet werden nur schnelle Vibrationen sowie höhere Frequenzen wahrgenommen. Ist der Kanal geschädigt wird die Haut empfindlicher.
Bei der Untersuchung der Familien kamen die Forscher zum gleichen Ergebnis. Die Kinder, die Mutationen des Kaliumkanal aufwiesen, konnten wesentlich langsamere Vibrationen empfinden als ihre gesunden Geschwister. Gary Lewin und Thomas Jentsch fassen zusammen: „Die Haut hat mehrere unterschiedliche Typen von Mechanorezeptoren, die auf verschiedene Reizqualitäten ansprechen, insbesondere auch auf verschiedene Frequenzbereiche. Das Zusammenspiel verschiedener Rezeptorklassen ist für den Tastsinn wichtig. Obwohl die von uns untersuchten Rezeptoren durch Verlust des Kalium-Kanals insgesamt empfindlicher werden, überwiegt möglicherweise der Nachteil der falschen ‘Stimmung’ auf andere Frequenzen. Mit KCNQ4 haben wir zum ersten Mal ein menschliches Gen identifiziert, das die Eigenschaften des Tastsinns verändert.“ (Quelle: (Nature Neuroscience, 2011; DOI: 10.1038/nn.2985)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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