Seltene Erkrankungen sind gar nicht so selten
01.03.2015
Am 28. Februar fand der Tag der seltenen Erkrankungen statt. Viele dieser Krankheiten sind lebensbedrohlich und zudem meist unheilbar. Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen Erkrankung. In Zukunft soll ein neuer Versorgungsatlas im Internet die Behandlung erleichtern.
Vier Millionen Deutsche leiden an seltenen Erkrankungen
Nach der in Europa gültigen Definition gilt eine Krankheit als selten, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Bis ein Patient die richtige Diagnose gestellt bekommt, dauert es durchschnittlich sieben Jahre, wie die „Welt“ in einem aktuellen Beitrag zum Thema schreibt. Rund vier Millionen Menschen leiden hierzulande an einer der etwa 6.000 seltenen Erkrankungen, die bislang einen Namen haben. Europaweit sind 30 Millionen Patienten betroffen. Da es an Spezialisten und oft auch an wirksamen Therapien fehlt, ist die Diagnose häufig schwierig und langwierig. Die Erforschung ist teuer und für die Pharmaindustrie wenig lukrativ. Den Angaben zufolge ist der Großteil der „Seltenen“ unheilbar. Zudem sind viele lebensbedrohlich und verlaufen chronisch.
Patientin erhält erst nach jahrelangen Schmerzen die richtige Diagnose
Die Zeitung schreibt über die Betroffene Jana Seifried, die erklärte: „Als Kind galt ich als verwöhnt und nörgelig am Tisch.“ Sie aß instinktiv schon immer vor allem Speisen, die leicht rutschten. Als sie Anfang 30 war, stellten sich massive Schmerzen ein und sie bekam irgendwann nur noch Pudding, Eis oder Sahne hinunter und litt schließlich an starker Adipositas. Als sie während ihrer Pubertät wegen der unerträglichen Schmerzen beim Essen in eine Klinik ging, wies man sie mit „unklarer Genese“ wochenlang in die Psychosomatik ein. Erst Jahre später hatte Frau Seifried schließlich ihre Diagnose: Achalasie, eine unheilbare Bewegungsstörung der Speiseröhre, bei der es zu enormen Schluckproblemen kommt. Heute ist die Berlinerin stark abgemagert und wird über eine Sonde und einen Port ernährt. Ihre Speiseröhre hat sie längst nicht mehr. Da nach weiteren Komplikationen auch Magen und Dünndarm entfernt werden mussten, ist es jetzt ein Stück ihres Dickdarms, der am Zungengrund angenäht wurde und als Speiseröhre fungiert. „Kleine Mengen püriertes Babyobst kann ich zu mir nehmen“, so Seifried. „Doch das Dickdarmstück ist praktisch ein totes Abflussrohr.“
21 Fachzentren für verschiedene seltene Erkrankungen
Die Patientin bekommt mittlerweile Morphium gegen die starken Schmerzen. „Meine Hoffnung ist eine Dünndarmtransplantation“, sagte sie. Allerdings stehen die Chancen dafür schlecht. Als Beiratsmitglied der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.), eines bundesweiten Netzwerks für Betroffene und ihre Familien, kennt Annette Grüters-Kieslich solche Fälle zur Genüge. Die Professorin leitet an der Berliner Charité die Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Endokrinologie und Diabetologie. In dieser Funktion behandelt sie auch Kinder mit seltenen Erkrankungen. „Bei seltenen Erkrankungen spielt die Koordination eine wesentliche Rolle. Wir haben Anfragen von außen und von innen, von Ärzten und Patienten. Und wenn die Symptome unklar sind, halten wir eine Fallkonferenz mit Vertretern verschiedener Disziplinen ab.“ Die 21 Fachzentren mit Schwerpunkten auf verschiedenen seltenen Erkrankungen (SE) sind auch bundesweit vernetzt. „Vieles ist im Rahmen des Nationalen Aktionsplanes aber noch im Aufbau“, so Grüters-Kieslich.
Medizinischer Versorgungsatlas soll Behandlung erleichtern
Seit dem 28. Februar, als der „Tag der seltenen Erkrankungen“ stattfand, gibt es online unter www.se-atlas.de für Ärzte und Betroffene die Möglichkeit, sich einen Überblick über die Versorgungsmöglichkeiten zu verschaffen. Dieser medizinische Versorgungsatlas soll die Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheiten erleichtern.Die Medizinerin Christine Mundlos, die an der Charité für ACHSE arbeitet, ist als Lotsin Ansprechpartnerin für Ärzte, die Rat suchen. Während am Betroffenen-Telefon der ACHSE 800 bis 1.000 Anfragen jährlich auflaufen, melden sich bei der Lotsin etwa 90 Personen. „Was uns beunruhigt ist, dass der Anteil der unklaren Diagnosen zunimmt“ – seit 2006 von 15 Prozent auf mittlerweile 25 Prozent. Eine interessante Methode, wie man möglicherweise besser zu den richtigen Diagnosen kommt, wird in Hessen praktiziert. Dort werden am „Frankfurter Referenzzentrum für SelteneErkrankungen“ (FRZSE) Medizinstudenten als Diagnose-Detektive eingesetzt. Da die angehenden Mediziner nicht in vorgefertigten Mustern denken und nicht durch die Fachbrille schauen, ziehen sie mehr Möglichkeiten in Betracht und erkennen seltene Erkrankungen häufig besser als ältere, erfahrenere Mediziner. (ad)
: Andrea Damm / pixelio.de
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