Forscher wollen künstliche Spinnenseide gewinnen
14.07.2014
Viele Menschen ekeln sich vor Spinnen und erschauern bei der Berührung mit einem Spinnennetz. Aber das Material, aus dem die Netze bestehen, hat hervorragende Eigenschaften: es ist elastisch, reißfest und sehr leicht. Forscher versuchen sich an der Herstellung künstlicher Spinnenseide, die in der Medizin oder auch für Sportbekleidung zum Einsatz kommen könnte.
Spinnenfäden vier Mal so belastbar wie Stahl
Viele Menschen haben Angst vor Spinnen: Die Tierchen mit ihren acht behaarten, flinken Beinen, dem dicken Körper und ihren klebrigen Netzen werden oft als gruselig empfunden. Doch sie haben einen Trick, den die Menschen bisher so nicht nachmachen konnten: Sie können Fäden spinnen, die vier Mal so belastbar wie Stahl und um das Dreifache dehnbar sind. Zudem sind sie beständig gegen Hitze, Pilze sowie Bakterien und trotzdem biologisch. Besonders Mediziner setzen Hoffnungen auf die Seide, da sie sehr verträglich ist und vom Körper gut abgebaut werden kann. Bereits in der Antike legte man Spinnennetze auf Wunden. Wissenschaftler und Unternehmen forschen weltweit an Methoden, die Spinnenseide zu gewinnen oder künstlich herzustellen.
Ein von Menschen gemachtes Spinnennetz
Dabei ist die Firma Amsilk in Planegg bei München in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) schon sehr weit. Sie präsentierte im vergangenen Jahr das nach ihren Angaben erste von Menschen gemachte Spinnennetz. „Lange haben Leute geglaubt, das geht gar nicht“, so der Leiter der Geschäftsentwicklung bei Amsilk, Mathias Woker. Es sei schwierig, die Fäden direkt zu gewinnen. Da Spinnen Kannibalen sind, wird es bei bestimmten Arten als „Herde“ im Käfig problematisch. „Da ist dann jeden Tag nur eine Spinne übrig.“ Doch an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) klappt das. Dort sitzen im früheren Krankenhaus anstatt Patienten „Rosa“, „Dasha“ und rund 150 andere Goldene Radnetzspinnen im Wartezimmer. Diese besonders friedlichen, etwa fünf Zentimeter großen Tiere werden regelmäßig gefangen und gemolken.
Spinnen bekommen Grillen zur Stärkung
Ihnen wird, auf einem Stück Schaumstoff mit Gaze gehalten, Faden abgenommen. „Den Haltefaden benutzt die Spinne, um sich zum Beispiel an einem Ast zu befestigen. Wenn daran gezogen wird, simuliert man ein Fallen der Spinne“, erläuterte Kerstin Reimers, Leiterin des Bereichs Experimentelle Plastische und Rekonstruktive Chirurgie. Dann spult der Faden automatisch ab. „Das kann die Spinne nicht kontrollieren.“ Die Wissenschaftler melken im Schnitt 200 Meter pro Eingriff. „Man könnte wahrscheinlich 500 Meter nehmen, aber das tun wir nicht.“ Da das Melken die Spinnen anstrengt, werden sie nach zehn Minuten unruhig. Sie bekommen danach Wasser und Grillen zur Stärkung.
Spinnenseide könnte bei Züchtung von künstlicher Haut helfen
Mit den Spinnenfäden wollen die Mediziner Menschen mit durchtrennten Nerven helfen. Sie sollen das Leitmaterial bilden, an dem Nerven nach Unfällen oder Tumor-OPs neu entlang wachsen. „Wir haben die präklinische Testung abgeschlossen“, so Reimers. Die Methode habe in Zellkulturen, bei Ratten und Schafen „ausgezeichnet“ funktioniert. „Wir konnten bei einem Schaf sechs Zentimeter überbrücken, ohne zusätzlich mit eigenen Zellen zu behandeln.“ Die Biologen und Mediziner wollen nun eine klinische Studie mit Patienten starten. Reimers zufolge "sind auch Forscher in Belgien und den Niederlanden auf einem ähnlichen Weg". Bereits vor knapp drei Jahren hatte Hanna Wendt von der Klinik für Plastische Hand- und Wiederherstellungschirurgie der MHH im Fachmagazin „PLoS ONE“ berichtet, dass Spinnenseide in Zukunft bei der Züchtung künstlicher Haut eine wesentliche Rolle spielen und so die Behandlungsmöglichkeiten bei chronischen Wunden oder Verbrennungen deutlich verbessern könnte.
An künstlicher Spinnenseide wird weltweit geforscht
Unterdessen wird weltweit, in Japan, in den USA, in Schweden und in Deutschland an künstlicher Spinnenseide geforscht. So experimentierten manche mit genveränderten Seidenraupen und andere probierten es mit Ziegen, in deren Euter die Eiweiße gezüchtet werden sollten. Amsilk und die Wissenschaftler der LMU verwenden Kulturen genveränderter Coli-Bakterien, um die Eiweiße herzustellen. Wissenschaftler hatten 2010 die molekularen Grundlagen der Fadenproduktion in der Spinndrüse entschlüsselt und 2011 fanden sie die Mechanismen für die enorme Festigkeit des Spinnenseidenfadens. Doch selbst wenn das richtige Protein hergestellt ist, ist es vom Pulver bis zum Faden ein großer Schritt. „Wir haben den Weg gefunden, aus dem Protein eine Faser zu machen“, so Woker. Doch auch wenn die Amsilk-Pilotanlage tonnenweise Faden spinnen könne, läuft sie bislang noch im Pilotbetrieb.
Brustimplantate und kugelsichere Westen
Von der Firma wird Kosmetik mit Spinnweben-Eiweiß vertrieben. Woker erläuterte: „Es bildet einen schönen Film und kann eine Barriere schaffen gegen Umwelteinflüsse.“ Beschichtete Brustimplantate sind das nächste Projekt. Die Spinnenseide hemme Entzündungsreaktionen und könne Verhärtungen des Gewebes nach einer Operation verhindern. „Die Entwicklung dieses Produktes läuft.“ Über ein Jahr lang sei es an Ratten getestet worden. Künftig soll auch elastische, leichte Sportkleidung entstehen. Dies als Alternative zur Funktionskleidung, die meist aus Kunststoff und damit aus Erdöl besteht. Im militärischen Bereich könne Kleidung dadurch so reißfest sein, dass es gegen Minensplitter schützt. Schon seit Jahren wird thematisiert, dass sich Spinnenseide zur Herstellung besonders leichter kugelsicherer Westen eignen würde.
Spinnenfäden schon seit Jahrhunderten im Einsatz
Für Kleidung wurde das Material bereits im 19. Jahrhundert geschätzt. Damals wurden aus Fäden der Radnetzspinnen Gewänder in zart goldenem Ton gewebt. Auch der Sonnenkönig Ludwig XIV. soll Handschuhe aus Spinnweben besessen haben. 2012 wurde ein Umhang aus der Seide nachempfunden und im Victoria and Albert Museum in London gezeigt. Die Forscher in Hannover machen anders als in Planegg täglich direkt Bekanntschaft mit Spinnen. Offenbar fördert dies das Verständnis. „Wenn man so eine Spinne einmal angefasst hat, dann sieht man, dass die auch gleich anfängt, zu putzen, wo man sie berührt hat. Unsere Haut ist für die Tiere ja fettig und salzig, das klebt – und ist vermutlich total unangenehm“, so die Biologin Sarah Strauß gegenüber dem Bayerischen Rundfunk. „Das, was die meisten Menschen für die Spinnen empfinden, empfinden die Spinnen wahrscheinlich für uns.“ (ad)
Bild: Rita Thielen / pixelio.de
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