EGMR: Bayern hat Suchtkranken in Haft unmenschlich behandelt
Langzeitdrogenabhängigen Straftätern muss in der Haft eine medizinisch notwendige Substitutionstherapie gewährt werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem am Donnerstag, 1. September 2016, verkündeten Urteil entschieden und damit einem heroinabhängigen früheren Häftling einer bayerischen Justizvollzugsanstalt recht gegeben (Az.: 62303/13). Die Straßburger Richter rügten, dass die deutschen Gerichte nicht ausreichend geprüft haben, ob der Mann zur Linderung seiner Gesundheitsbeschwerden auf eine Substitutionstherapie medizinisch angewiesen war.
Der 61-jährige schwerbehinderte Beschwerdeführer ist seit 1973 heroinabhängig und seit 1988 HIV-positiv. Von 1991 bis 2008 wurde die Drogenabhängigkeit des Mannes im Rahmen einer Substitutionstherapie mit einem Heroinersatzstoff behandelt. Als der Mann unter anderem wegen Drogenhandels zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt und in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim im Landkreis Donau-Ries inhaftiert wurde, musste er die Substitutionstherapie gegen seinen Willen unterbrechen.
Während der Haftzeit wurde er zwar zeitweise in einer bayerischen Drogenentzugsklinik behandelt, dort wurde jedoch nur ein sogenannter „kalter Entzug“ vorgenommen. Die ursprüngliche Substitutionstherapie wurde nicht fortgesetzt.
Im Juni 2011 beantragte er eine Substitutionsbehandlung. Nur diese könne seine chronischen Schmerzen lindern, so der Drogenabhängige, der gleichzeitig auf entsprechende Richtlinien der Bundesärztekammer verwies. Alternativ beantragte er, dass ein unabhängiger, auf Suchterkrankungen spezialisierter Facharzt die medizinische Notwendigkeit der Substitutionsbehandlung überprüft.
Das Landgericht Augsburg und das Oberlandesgericht München lehnten dies ab und meinten, dass die Behandlung weder medizinisch erforderlich sei, noch dies in den bayerischen Strafvollzugsvorschriften vorgesehen ist.
Erst nach der Haftentlassung wurde die Substitutionstherapie des Beschwerdeführers, so wie bereits vor Haftantritt, fortgesetzt.
Der EGMR urteilte, dass der drogenabhängige Beschwerdeführer damit unmenschlich und erniedrigend behandelt wurde und die deutschen Gerichte gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen haben. Zwar hätten Staaten einen gewissen Spielraum in der Frage, auf welche Weise sie die Gesundheit von Häftlingen sicherstellen.
Hier habe es aber sehr deutliche Hinweise gegeben, dass eine Substitutionstherapie medizinisch erforderlich war. So habe der 61-Jährige vor Haftantritt 17 Jahre lang bereits eine entsprechende Behandlung erhalten. Auch sei nach dem Aufenthalt in der Drogenentzugsklinik klar gewesen, dass der langzeitdrogenabhängige Häftling nicht von seiner Sucht geheilt war.
Die Straßburger Richter verwiesen zudem auf eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums, wonach die Substitutionstherapie die bestmögliche Behandlungsform für Langzeitdrogenabhängige sei. Diese Behandlung werde in der Praxis auch in Haftanstalten einzelner Bundesländer durchgeführt, in Bayern jedoch nicht.
Die bayerischen Behörden hätten zumindest einen externen Arzt beauftragen müssen, der die medizinische Erforderlichkeit der Substitutionstherapie bei dem Beschwerdeführer überprüft, so der EGMR. Ein Schmerzensgeld sprachen die Richter dem Suchtkranken jedoch nicht zu.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin sind bis zu 30 Prozent aller Häftlinge in Deutschland von illegalen Drogen wie Heroin abhängig. Während in Bundesländern wie Bremen, Hamburg und in Ansätzen auch in Nordrhein-Westfalen eine Substitutionstherapie in der Haft ermöglicht wird, passiere in Bayern und den ostdeutschen Bundesländern trotz der aktuellen Richtlinien der Bundesärztekammer gar nichts. Folge sei ein illegaler Drogenkonsum in der Haft, verbunden mit der Gefahr von Hepatitis- und HIV-Infektionen.
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