Tamiflu: Hersteller hält Studiendaten unter Verschluss
13.04.2012
Forscher der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore (USA), der Cochrane Collaboration in Rom und der australischen Bond University haben in dem Fachmagazin „PLoS Medicine“ die Geheimhaltung von Daten zu dem Grippemedikament „Tamiflu“ massiv kritisiert. Ohne die vollständige Veröffentlichung der Studienergebnisse könne der Nutzen und das Risiko des Wirkstoffs nicht ausreichend abgeschätzt werden, so der Vorwurf der Wissenschaftler.
Medikamente werden von den Pharmaherstellern in erster Linie produziert, um Geld zu verdienen und erst an zweiter Stelle steht die Gesundheit der Patienten. So besteht unter Umständen auch ein Interesse an der Verbreitung nahezu wirkungsloser Präparate. Um dies zu unterbinden, müssen für die Zulassung von Arzneimitteln ausreichend Daten zur Verfügung gestellt werden, die die Wirksamkeit belegen und andere Risiken sowie drohende Nebenwirkungen ausführlich erörtern. Obwohl die hierfür erforderlichen umfassende Studien bei der Zulassung von Tamiflu durchaus vorgelegen haben, werden die Daten seither gehütet wie ein Staatsgeheimnis, kritisieren die Wissenschaftler. Möglicherweise aus gutem Grund, könnten sich hier doch Anhaltspunkte ergeben, dass Tamiflu nicht die gewünschte Wirkung hat und mit zahlreichen Nebenwirkungen einhergeht.
Studien zu Wirksamkeit von Tamiflu werden geheim gehalten
Peter Doshi von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore, Tom Jefferson von der Cochrane Collaboration in Rom und Chris Del Mar vom Centre for Research in Evidence-Based Practice an der australischen Bond University berichten aktuell in dem Fachmagazin „PLoS Medicine“, von einem regelrechten Datengeheimnis, das um die Studien zu Tamiflu gemacht werde. Die Wissenschaftler hatten sich Zugang zu tausenden Seiten mit Studiendaten beschafft und diese ausgewertet, der volle Zugriff auf das verfügbare Datenmaterial wurde ihnen jedoch verweigert. Zwar liegen diese Daten bei den US-amerikanischen und europäischen Aufsichtsbehörden vor, doch diese sichern den Herstellern bei der Einreichung zu, „alle Daten als Geschäftsgeheimnisse vertraulich zu behandeln.“ Für unabhängige Wissenschaftler ist der Zugang zu den vollständigen Daten daher fast nur mit Unterstützung der Hersteller möglich. Dies führt zu einer prekären Situation, sobald – wie im Fall von Tamiflu – Zweifel an einzelnen Wirkstoffen aufkommen und Forscher deren Eignung überprüfen möchten. Für die Pharmahersteller – im Fall von Tamiflu das Unternehmen Roche – könnte ein Einbruch der Absätze drohen, so dass die Daten oft nur in Auszügen oder überhaupt nicht weitergegeben werden. Nach Ansicht der von Peter Doshi, Tom Jefferson und Chris Del Mar ein untragbarer Zustand. Denn „die Öffentlichkeit nimmt und zahlt Medikamente, die zugelassen sind“, weshalb auch ein öffentlicher „Zugang zu allen Informationen über diese Arzneimittel“ gewährleistet sein sollte, schreiben die Wissenschaftler.
Pharmaunternehmen verweigert Herausgabe der Daten
Erste Zweifel an dem Wirkstoff Tamiflu kamen bereits bei der Zulassung im Jahr 1999 auf und wurden im Jahr 2009 durch einen Beitrag im Fachmagazin „BMJ“ bekräftigt, woraufhin der Pharmakonzern Roche laut Aussage von Doshi, Jefferson und Del Mar betont habe, man sei „sehr glücklich, seine Daten durch die jeweils zuständigen Behörden oder Einzelpersonen bewertet zu haben“ und werde „in den kommenden Tagen" sämtliche Studienberichte zu zehn Versuchen veröffentlichen. Dies sei jedoch „trotz umfangreicher Briefwechsel über die nächsten anderthalb Jahre“ nicht geschehen, so der Vorwurf der Wissenschaftler. Bisher weigere sich das Unternehmen mehr als Auszüge der Berichte über die zehn klinischen Studien bekanntzugeben, kritisieren Doshi und Kollegen. Dabei schien nach Ansicht der Forscher keiner der genannten „Gründe für die Verweigerung der vollständigen Berichte über Tamiflu glaubwürdig.“ Die Wirkung des Grippewirkstoffs Tamiflu ist demnach weiterhin äußerst umstritten.
Trotz Zweifel an der Wirkung Tamiflu als Grippemedikament empfohlen
Auch die US-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) hatte bereits bei der Zulassung von Tamiflu erhebliche Zweifel an dem beschriebenen Nutzen geäußert. Die Behauptung Tamiflu vermindere die sekundären Komplikationen einer Grippeinfektion sei nicht nachvollziehbar, ermahnte die FDA den Hersteller Roche. Auch konnte die FDA die Wirkung von „Tamiflu in der Prävention der Übertragung von Influenza“ nicht bestätigte, berichten Doshi, Jefferson und Del Mar. Die US-Zulassungsbehörde habe „nie die vielen Unstimmigkeiten in den Ansprüchen über die Wirkungen von Tamiflu geklärt“, so der Vorwurf der Wissenschaftler und die Begründung ihrer Untersuchungen. Die Zulassung und weitere Verwendung von Tamiflu basierten laut Aussage der Forscher auf den Daten aus zehn Medikamentenstudien des Herstellers Roche aus den 1990er Jahren, die in einer Meta-Studie aus dem Jahr 2003 erneut aufgearbeitet wurden. Obwohl sowohl die FDA als auch zahlreiche Wissenschaftler deutliche Zweifel an der Wirkung von Tamiflu äußerten, wurde der Grippewirkstoff für Roche zu einem Erfolgsprodukt. Denn Tamiflu erhielt von der FDA nicht nur die Zulassung, sondern wurde sowohl von der europäische Arzneimittelbehörde, als auch vom deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, der australischen Zulassungsbehörde und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als geeigneter Grippewirkstoff empfohlen. Zuletzt hatte die WHO Tamiflu auf seine Liste unentbehrlicher Arzneimittel gesetzt. Doch wenn die „FDA recht behält, kann die Wirksamkeit des Medikaments nicht besser als bei Aspirin oder Acetaminophen (Paracetamol)“ sein, so die aktuelle Aussage von Doshi und Kollegen.
Milliardenkosten für ein nicht benötigtes und möglicherweise wirkungsloses Medikament
Tamiflu wurde von den Gesundheitsbehörden über Jahre als einziger Wirkstoff gegen sämtliche Influenza-Erkrankungen – also auch gegen Vogel- und Schweinegrippe – empfohlen, in der Annahme, dass Tamiflu die Zahl der Krankenhauseinweisungen senken, sekundäre Komplikationen reduzieren und die Dauer der Erkrankung verringern kann. Aus Angst vor neuen Grippeerregern und möglichen Pandemien, begannen die Staaten Massen des Wirkstoff aufzukaufen und einzulagern. Im Zweifelsfall wollte jeder vorbereitet sein. Für den Pharmakonzern ein Geldsegen, orderten doch allein die USA Tamiflu im geschätzten Wert von 1,5 Milliarden Dollar. Auch in Deutschland wurden aus Angst vor der Vogelgrippe 2005/06 Tamiflu-Vorräte in den einzelnen Bundesländern gebildet, wobei ausreichend Wirkstoff für ein Drittel der Bevölkerung angeschafft wurde. Die Ausgaben beliefen sich nach Schätzung von Experten hierzulande auf rund 300 Millionen Euro. Gebraucht wurden Tamiflu glücklicherweise nicht, zumal den Aussagen von Doshi, Jefferson und Del Mar zufolge die Anwendung im Ernstfall möglicherweise nicht einmal den gewünschten Effekt gezeigt hätte. Demnächst wird das Haltbarkeitsdatum des eingelagerten Wirkstoffs überschritten und theoretisch würde dann die Beschaffung neuer Bestände anstehen. Doch sollen tatsächlich erneut 300 Millionen Euro für ein Medikament ausgegeben werden, das im Zweifelsfall nicht besser wirkt als Aspirin? Angesichts der aktuellen Vorwürfe von Peter Doshi, Tom Jefferson und Chris Del Mar kann hiervon nur abgeraten werde.
Vorgehen des Pharmakonzerns weckt Misstrauen
Die drei Forscher führten angesichts der massiven Zweifel, die in den vergangenen Jahren zur Wirkung von Tamiflu geäußert wurden, einen sogenannten Cochrane-Bericht durch, der sämtliches Datenmaterial unabhängig bewertet und dabei eigentliche alle bis dato vorliegenden Studien berücksichtigen sollte. Der Zugang zu den erforderlichen Daten wurde den Forschern jedoch nur eingeschränkt gewährt. Der Pharmakonzern Roche habe auf die 16 Anfragen, die von den Forschern von Oktober 2009 bis Februar 2011 gestellt wurden, zwar stets geantwortet, doch die gewünschten Daten nicht beziehungsweise nur in Auszügen geliefert, so der Vorwurf in dem aktuellen Artikel von Doshi, Jefferson und Del Mar. Mit immer neuen fadenscheinigen Argumenten habe der Pharmahersteller die Herausgabe der vollständigen Studiendaten verweigert. Ein solches Vorgehen wecke besonderes Misstrauen, da die Wirkung von Tamiflu ohnehin in Frage gestellt wird.
Ethische Argumente sprechen für eine umfassende Veröffentlichung alle Studiendaten
Die Forscher greifen in ihrem Beitrag zwar das direkte Beispiel Tamiflu auf, doch bezieht sich die Kritik auch auf den generellen Umgang mit den Studienergebnissen bei zugelassenen Wirkstoffen. „Es gibt starke ethische Argumente dafür, dass alle Berichte über klinische Studien öffentlich zugänglich“ gemacht werden, betonten Doshi, Jefferson und Del Mar. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, dass die Teilnehmer klinischer Studien der Annahme sind, „einen Beitrag zur medizinischen Forschung zu leisten.“ Eine „Nicht-Offenlegung der vollständigen Studienergebnisse untergräbt die Philanthropie der menschlichen Teilnehmer“ und stehe dem Streben nach Wissen entgegen, so die Aussage der Forscher. Fatal bei dem Vorgehen der Pharmahersteller sei auch, dass hier das Vertrauen in den freien Austausch von Forschungsdaten zum Schutz der Bevölkerung untergraben werde. Auf diese Weise verliere die Bevölkerung die Hoffnung, dass Politik und Behörden regulierend eingreifen können, erklärten die Wissenschaftler.
Unpassende Studienergebnisse bleiben oft unter Verschluss
Allerdings tragen die Zulassungsbehörden im Fall von Tamiflu selbst eine Teilschuld, da sie trotz Zweifeln an der Wirkung eine Zulassung erteilt haben. Dass die Pharmahersteller von sich aus unliebsame Ergebnisse eher geheim halten, schürt zwar das Misstrauen, ist aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht jedoch durchaus noch nachvollziehbar. Hier muss der Gesetzgeber einschreiten und die Hersteller zur Bekanntgabe sämtlicher Studienergebnisse verpflichten, fordern Doshi und Kollegen. Auch sollten sämtliche Studien, sobald sie anlaufen registriert werden, damit am Ende unpassende Ergebnisse nicht so einfach verschwinden können. Dieses Schicksal ereilt nach Schätzung von Experten des deutschen Cochrane-Zentrums rund 50 Prozent der Studien, was verdeutliche, wie hoch hier offenbar das Geheimhaltungsinteresse ist. Allerdings beteiligen sich laut Aussage des Leiters vom Deutsche Cochrane-Zentrum, Gerd Antes, nicht nur Pharmahersteller sondern auch Unikliniken und Institute an diesen unwürdigen Spiel. (fp)
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Bild: Gerd Altmann / pixelio.de
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