Bundesärztekammer-Prüfbericht zeigt Ausmaß des Transplantationsskandals
24.03.2014
Der angeklagte Chirurg im Prozess um den Göttinger Transplantationsskandal hatte mehrfach angegeben, nur das Beste für seine Patienten gewollt zu haben. Doch der nun veröffentlichte Prüfbericht der Bundesärztekammer kommt zu ganz anderen Schlüssen.
Richtlinienverstöße bei drei Viertel der Fälle
Der angeklagte Chirurg im Prozess um den Transplantationsskandal am Göttinger Universitätsklinikum hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass er stets das Beste für seine Patienten gewollt und getan habe. Wie „NDR 1“ im Sommer letzten Jahres berichtete, meinte der Angeklagte, er sei „Tag und Nacht für die Patienten bereit“ gewesen und habe seinen Beruf als Arzt als „eine Lebensaufgabe“ betrachtet. Doch ein aktuell veröffentlichter Bericht der Bundesärztekammer (BÄK) lässt sich nur schwer mit dieser Selbstdarstellung in Einklang bringen. Insgesamt 105 Fälle aus der Zeit, als der Angeklagte Leiter der Göttinger Transplantationschirurgie war, hat die Prüfungskommission der Ärztekammer untersucht. Dabei stellten die Prüfer bei 79 Patienten Richtlinienverstöße fest. Dies sind mehr als drei Viertel der Fälle.
Keineswegs immer zum Wohle der Patienten
Wie aus dem Bericht hervorgeht, waren die Verstöße keineswegs immer zum Wohle der Patienten, sondern im Gegenteil. So kam es bei einer Reihe von Patienten, die nach Ansicht der Prüfer gar keine Spenderleber hätten bekommen dürfen, nach der Transplantation zu einer teilweise dramatischen Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Die Ärztekammer hatte alle 24 Lebertransplantationsprogramme an deutschen Kliniken untersuchen lassen und stellte die Ergebnisse im September 2013 vor. Jedoch mit Ausnahme des Berichts über die Göttinger Universitätsmedizin, der erst jetzt veröffentlicht wurde. Der Arzt ist wegen versuchten Totschlages in elf Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen angeklagt. Der Prüfbericht listet jedoch deutlich mehr Fälle auf, als in dem Prozess verhandelt werden. Dem Chirurgen wird vorgeworfen, durch die Meldung manipulierter medizinischer Daten Patienten als kränker dargestellt zu haben, als sie tatsächlich waren, damit sie schneller eine Spenderleber zugeteilt bekamen. Zudem soll er drei Patienten eine Leber transplantiert haben, obwohl sie keine benötigten.
Patienten waren bei angeblicher Blutabnahme gar nicht im Klinikum
Das Ausmaß und das System der Manipulationen werden durch den Bericht deutlich. Die Prüfer stützen ihren Verdacht dabei auf mehrere Indizien. Beispielsweise gab es bei betroffenen Patienten große unerklärliche Sprünge bei den Laborwerten, die sich nicht mit dem sonstigen Krankheitsbild in Einklang bringen ließen. Trotz der Werte, die eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes anzeigten, wurde von den Ärzten nichts unternommen. Manche Patienten waren zuhause, obwohl sie auf dem Papier so krank waren, dass sie einer stationären Behandlung bedurft hätten. Die Kommission geht davon aus, dass den Medizinern bekannt war, dass die Werte nicht den tatsächlichen Gesundheitszustand wiedergaben. Zudem waren die Werte kurz vor der Transplantation plötzlich wieder auf dem früheren Niveau. Eine weitere Merkwürdigkeit, die festgestellt wurde, war, dass mehrere Patienten, deren vermeintliche Werte an Eurotransplant gemeldet wurden, am Tag der angeblichen Blutabnahme gar nicht im Klinikum waren. Zudem wird der Verdacht gehegt, dass zwei Patienten, die am gleichen Tag transplantiert wurden, das gleiche Fremdblut eines dritten Patienten untergeschoben wurde.
Ärztliche Qualitäten in Frage gestellt
In den Fällen, in denen Labormitarbeiter auf die ungewöhnlichen Werte hinwiesen, bekamen sie die Auskunft, dass die Blutproben verwechselt worden seien. Worauf dann die Unterlagen korrigiert wurden, jedoch nur intern. Eine Meldung an Eurotransplant erfolgte nicht und so waren die Patienten dort weiter mit den hohen Werten gelistet. Außerdem stießen die Prüfer auf zahlreiche Falschangaben zu Dialysen. So waren in vielen Fällen Alkoholkarenzzeiten nicht überprüft worden. Auch bezüglich der ärztlichen Qualitäten wirft der Bericht Fragen auf. Demnach gab es offenbar erhebliche Mängel bei der Anamnese, wie dass Befunde nicht erhoben und Symptome nicht abgeklärt wurden oder dass bei einem Patienten ein neun Zentimeter großes Karzinom übersehen wurde. Wie es in dem Bericht heißt, sei dies „kaum nachvollziehbar“. Teilweise hatten die mutmaßlichen Qualitätsmängel dramatische Folgen. So hätte man nach Ansicht der Prüfer in einem Fall die „absolut unzureichende“ Medikation verbessern müssen. Doch stattdessen habe der Patient unnötigerweise eine neue Leber erhalten. Er musste danach erneut transplantiert werden und verstarb später.
Patient erhält Fettleber
Auch in einem weiteren Fall sei der Patient erst durch die Transplantation sehr schwer krank geworden. Ihn wurde eine Leber transplantiert, die zu 90 Prozent verfettet war. Die eigene Leber des Patienten sei besser gewesen als die Fettleber, die er erhalten hat. Außerdem hätte nach Ansicht der Prüfer eine Patientin, die sogar dreimal transplantiert wurde und an einem Multiorganversagen starb, nie gemeldet werden dürfen, da bei ihr eine eindeutige Kontraindikation vorgelegen habe. Angesichts ihres Leidenswegs würde sich „die Frage nach dem Sinn des ärztlichen Verhaltens“ aufdrängen.
Spenderzahlen wegen Skandal drastisch eingebrochen
Aber nicht nur die Patienten damals wurden Opfer des Transplantationsskandals, sondern auch diejenigen Menschen, die noch immer auf ein Spenderorgan warten. Denn infolge des Skandals waren die Spenderzahlen in Deutschland dramatisch eingebrochen. Das Vertrauen in die Transplantationsmedizin sei insgesamt erschüttert worden. So geht aus Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) hervor, dass im letzten Jahr nur noch 876 gestorbene Menschen Organe gespendet haben. Im Vergleich zu den letzten 23 Jahren stelle dies einen neuen bundesrepublikanischen Negativrekord dar. Für die rund 11.000 Patienten, die derzeit auf ein Spenderorgan warten, ist die Lage prekär, denn täglich sterben drei Menschen, während sie auf ein Spenderorgan warten. (sb)
Bild: Henrik G. Vogel / pixelio.de
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