Rolle von Verapamil in der Behandlung von Diabetes
Das Medikament Verapamil kann zur Behandlung von Typ-1-Diabetes verwendet werden. Behandelte Personen benötigen täglich weniger Insulin und profitieren von immunmodulatorischen Vorteilen. Nach dem Absetzen von Verapamil schwinden die erzielten Vorteile jedoch wieder.
In einer Untersuchung unter Beteiligung von Fachleuten der University of Alabama at Birmingham (UAB) wurde analysiert, wie sich eine Behandlung mit Verapamil auf Menschen mit Typ-1-Diabetes auswirkt. Die Ergebnisse wurden in dem Fachblatt „Nature Communications“ publiziert.
Was passiert bei Typ-1-Diabetes?
Bei Typ-1-Diabetes handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung. Die Krankheit führt zum Verlust der Betazellen der Bauchspeicheldrüse, welche körpereigenes Insulin produzieren.
Um die Betazellen zu ersetzen, müssen Menschen exogenes Insulin über Spritzen oder über eine Insulinpumpe zuführen. Es gab bisher noch keine Möglichkeit für eine orale Behandlung von Typ-1-Diabetes, so die Forschenden.
Zufällig wurde in einer Studie unter Beteiligung der University of Alabama in Birmingham allerdings bereits festgestellt, dass Verapamil als potenzielles Medikament gegen Typ-1-Diabetes in Frage kommt.
Diese Entdeckung geht auf mehr als zwei Jahrzehnte der Grundlagenforschung zu einem Gen in den Pankreasinseln namens TXNIP zurück, berichten die Fachleute. Im Jahr 2014 wurde dann berichtet, dass Verapamil Diabetes in Tiermodellen vollständig rückgängig machen kann.
Die Forschungsgruppe plante daher die Wirkung des Medikaments in einer klinischen Studie am Menschen zu testen. Im Jahr 2018 berichtete das Team über die Vorteile von Verapamil in einer einjährigen klinischen Studie mit Menschen mit Typ-1-Diabetes.
Menschen mit Diabetes produzierten mehr Insulin
Die Forschenden stellten fest, dass eine regelmäßige orale Verabreichung von Verapamil Menschen in die Lage versetzt, höhere Mengen ihres eigenen Insulins zu produzieren, wodurch sie weniger Insulin zur Regulierung des Blutzuckerspiegels spritzen mussten.
Die aktuelle Untersuchung baut auf dieser Erkenntnis auf und liefert entscheidende mechanistische und klinische Erkenntnisse über die positiven Auswirkungen von Verapamil bei Typ-1-Diabetes, erläutern die Forschenden.
Es wurden die Veränderungen bei den zirkulierenden Proteinen als Reaktion auf die Behandlung mit Verapamil untersucht. Dafür wurden Blutserumproben der Teilnehmenden analysiert.
Auswirkungen der Einnahme von Verapamil
Die Fachleute stellten fest, dass insgesamt dreiundfünfzig Proteine eine signifikant veränderte relative Häufigkeit im Laufe der Zeit als Reaktion auf Verapamil zeigten. Dies betraf auch Proteine, von denen bekannt ist, dass sie an der Immunmodulation und Autoimmunität bei Typ-1-Diabetes beteiligt sind.
Das am stärksten durch die Verapamil-Behandlung veränderte Serumprotein war Chromogranin A (CHGA). Dieses wurde durch die vorgenommene Behandlung herunterreguliert. CHGA ist in der sogenannten sekretorischen Granula lokalisiert, unter anderem in denen der Betazellen der Bauchspeicheldrüse.
Dies deutet laut den Forschenden darauf hin, dass veränderte CHGA-Spiegel Veränderungen der Integrität der Betazellen widerspiegeln könnten. Dagegen zeigte sich, dass sich die erhöhten CHGA-Spiegel zu Beginn von Typ-1-Diabetes bei den Personen der Kontrollgruppe nicht veränderten.
Bessere Insulinproduktion dank Verapamil
Die CHGA-Konzentrationen konnten auch direkt im Serum mit einem einfachen ELISA-Test nach einer Blutentnahme gemessen werden, berichten die Fachleute. Es zeigte sich, dass niedrigere Konzentrationen bei den mit Verapamil behandelten Personen mit einer besseren endogenen Insulinproduktion korrelierten.
Die CHGA-Serumspiegel waren bei gesunden, nicht an Diabetes erkrankten Personen etwa doppelt so hoch wie bei Menschen mit Typ-1-Diabetes. Auch noch ein Jahr nach der Behandlung mit Verapamil wiesen behandelte Personen mit Typ-1-Diabetes ähnliche CHGA-Spiegel auf wie gesunde Menschen, berichten die Fachleute.
Schließlich zeigte sich, dass im zweiten Jahr die CHGA-Werte bei den mit Verapamil behandelten Menschen weiter sanken. Dagegen stiegen die Werte jedoch bei den Personen mit Typ-1-Diabetes an, wenn diese das Medikament im zweiten Jahr absetzten.
„Somit scheint der CHGA-Serumspiegel Veränderungen der Betazellfunktion als Reaktion auf die Verapamil-Behandlung oder das Fortschreiten des Typ-1-Diabetes widerzuspiegeln und könnte daher ein Längsschnittmarker für den Behandlungserfolg oder die Verschlechterung der Krankheit sein“, erläutert Studienautorin Dr. Anath Shalev von der University of Alabama in einer Pressemitteilung.
Laut der Medizinerin würde dies einen entscheidenden Bedarf decken, weil das Fehlen eines einfachen Längsschnittmarkers eine große Herausforderung auf dem Gebiet von Typ-1-Diabetes darstellt.
CHGA als Autoantigen bei Typ-1-Diabetes
Andere Labore haben bereits CHGA als ein Autoantigen bei Typ-1-Diabetes identifiziert, welches T-Zellen des Immunsystems provoziert, die an der Autoimmunerkrankung beteiligt sind. Dies brachte die Forschenden dazu, zu untersuchen, ob Verapamil die T-Zellen beeinflusst.
Auswirkungen von Typ-1-Diabetes auf T-Zellen
Die Fachleute stellten fest, dass mehrere proinflammatorische Marker von T-Follikel-Helferzellen (darunter CXCR5 und Interleukin 21) in Monozyten von Personen mit Typ-1-Diabetes signifikant erhöht waren, verglichen mit gesunden Personen aus der Kontrollgruppe.
Das Team fand schließlich heraus, dass es möglich ist, diese Veränderungen durch die Behandlung mit Verapamil rückgängig zu machen.
„Unsere Ergebnisse zeigen nun zum ersten Mal, dass eine Verapamil-Behandlung auch das Immunsystem beeinflusst und diese durch Typ-1-Diabetes verursachten Veränderungen rückgängig machen kann“, berichtet Dr. Shalev.
Laut der Expertin weist dies darauf hin, dass Verapamil und/oder die damit erzielten Verbesserungen bei Typ-1-Diabetes einige zirkulierende proinflammatorische Zytokine und T-Helferzellen-Teilmengen modulieren können. Dies könnte zu den klinisch beobachteten positiven Gesamteffekten beitragen.
Zur Bewertung der Veränderungen in der Genexpression wurde eine RNA-Sequenzierung menschlicher Inselzellen der Bauchspeicheldrüse durchgeführt, welche Glukose mit oder ohne Verapamil ausgesetzt waren.
Es zeigte sich, dass eine große Anzahl von Genen entweder hoch- oder herunterreguliert wurde. Die nachfolgende Analyse dieser Gene zeigte, dass Verapamil das Thioredoxin-System, einschließlich TXNIP, reguliert und ein antioxidatives, anti-apoptotisches und immunmodulatorisches Genexpressionsprofil in den Inselzellen fördert.
Diese schützenden Veränderungen in den Inselzellen könnten eine weitere Erklärung für die nachhaltige Verbesserung der Funktion der Betazellen der Bauchspeicheldrüse sein, die bei kontinuierlicher Verapamileinnahme beobachtet wurde, erläutern die Forschenden.
Verbesserte Lebensqualität dank selber produziertem Insulin
„Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes hat sich gezeigt, dass selbst eine kleine Menge an erhaltener endogener Insulinproduktion – im Gegensatz zu einem höheren Bedarf an exogenem Insulin – mit besseren Ergebnissen verbunden ist und dazu beitragen könnte, die Lebensqualität zu verbessern und die hohen Kosten zu senken, die mit dem Insulinverbrauch verbunden sind“, so Dr. Shalev.
„Die Tatsache, dass diese vorteilhaften Wirkungen von Verapamil zwei Jahre lang anzuhalten schienen, während das Absetzen von Verapamil zu einem Fortschreiten der Krankheit führte, bietet eine zusätzliche Unterstützung für seinen potenziellen Nutzen bei der Langzeitbehandlung“, fügt die Expertin hinzu. (as)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Guanlan Xu, Tiffany D. Grimes, Truman B. Grayson, Junqin Chen, Lance A. Thielen, et al.: Exploratory study reveals far reaching systemic and cellular effects of verapamil treatment in subjects with type 1 diabetes; in: Nature Communications (veröffentlicht 03.03.2022), Nature Communications
- University of Alabama at Birmingham: An oral medication shows benefits treating Type 1 diabetes for at least two years after diagnosis (veröffentlicht 03.03.2022), University of Alabama at Birmingham
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.