Kinder zeigen bei Vernachlässigung weitreichende Beeinträchtigungen
Kinder sollten grundsätzlich viel Liebe und persönliche Zuwendung erfahren, doch ist dies leider nicht immer der Fall. Werden Kinder vernachlässigt oder erfahren sie Misshandlungen, hat dies nachhaltige Folgen auf ihre persönliche Entwicklung. Auch der Stresshormonpegel der Betroffenen wird langfristig deutlich verändert, was wiederum mit neurobiologischen Beeinträchtigungen einhergehen kann.
Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig haben in einer aktuellen Studie den Stresshormonpegel von misshandelten und vernachlässigten Kindern untersucht und dabei festgestellt, dass dieser bei vernachlässigten Kinder ab einem bestimmten Alter deutlich unter dem von nicht vernachlässigten Kindern liegt. Eine Reaktion mit weitreichenden neurobiologischen Folgen. Die Ergebnisse der Studie wurden in dem Fachmagazin „Journal of Child Psychology and Psychatry“ veröffentlicht.
Stresshormonpegel bei mehr als 500 Kindern untersucht
An mehr als 500 Kindern untersuchten die Wissenschaftler der Universität Leipzig die Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung auf den Stresshormonpegel der Kinder. Rund die Hälfte der Kinder hatte laut Mitteilung der Universität in der Kindheit Gewalt, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässigung erfahren – „sei es körperlich, emotional oder kognitiv.“ Zum Vergleich des Stresshormonpegels bei misshandelten und nicht misshandelten Kindern analysierten die Forscher den Cortisol-Spiegel der Kinder im Alter von 3 bis 16 Jahren. Cortisol ist eines von vielen Stresshormonen, das dem Körper in bestimmten Situationen schnell und direkt Energie bereitstellt, erläutern die Wissenschaftler. Überprüft wurde die Hormonkonzentration in den Haaren von misshandelten Kindern bzw. nicht misshandelten Kindern aus der sogenannten „LIFE Child Depression Kohorte“ des Leipziger Forschungszentrums für Zivilisationserkrankungen.
Haaranalyse auf Stresshormon relativ neues Verfahren
In den Haaren lagert sich das Cortisol über längere Zeiträume ein, was eine gute Messbarkeit ermöglicht. „Das ist ein ganz besonderer Aspekt unserer Studie, denn die Haaranalyse für Stresshormone gibt es noch nicht lange und sie wurde bislang noch nicht in einer so großen Stichprobe von belasteten und unbelasteten Kindern eingesetzt“, betont Studienleiter Dr. Lars White von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig. Mit Hilfe der Methode lasse sich der Cortisol-Spiegel über mehrere Monate hinweg beobachten und zeige die längerfristige Anpassung des Körpers an stressvolle Situationen, erläutert der Experte.
Stresshormonpegel fällt unter Normalwerte
Zu den Stresssituationen zählt laut Aussage der Forscher auch Vernachlässigung. Sehr viele Kinder in der Stichprobe seien davon betroffen. Der Aspekt bleibe in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch unterrepräsentiert. „Wir sprechen von der Vernachlässigung der Vernachlässigung“, so der Studienleiter. Für die Kinder könne die Vernachlässigung schwerwiegende Folgen haben. „In unserer Studie traten für diese Gruppe die größten Effekte im Stresshormonpegel auf“, so Dr. White. Die Studie liefere den Beleg für die Annahme, dass bei chronischem Stress – unter dem die misshandelten Kinder leiden – der Stresshormonpegel ab einem gewissen Punkt abfällt, der Körper sich der Situation praktisch mit einer Erschöpfungsreaktion anpasse und der Stresshormonpegel dann unter den normalen Wert fällt.
Biologische Stressregulationssysteme zunehmend überfordert
Der beobachtetet Effekt dient laut Aussage des Experten möglicherweise auch zum Schutz anderer Körpersysteme vor zu großer Cortisol-Ausschüttung. Besonders deutlich lies sich die Veränderung des Cortisol-Spiegels bei Kindern mit Vernachlässigungserfahrungen und Misshandlungen im Säuglingsalter beobachten, berichten die Leipziger Forscher. „Wir wissen, dass vernachlässigte und misshandelte Kinder in ihrem Leben dauerhaft hohem Stress ausgesetzt sind, aber ihre biologischen Stressregulationssysteme sind zunehmend weniger in der Lage, diese Stresserfahrungen so zu regulieren, dass sie zu einem gesunden Entwicklungsverlauf beitragen“, so Dr. White.
Verbleibendes Zeitfenster zur Vermeidung von Beeinträchtigungen
Den Leipziger Medizinern zufolge kann der veränderten Cortisol-Spiegel gravierende Folgen haben und im weiteren Verlauf drohen neurobiologische Veränderungen, „die sich etwa in einer gesteigerten Aggressivität, Hyperaktivität oder auch Ängstlichkeit äußern“ können. Die festgestellten niedrigeren Stresshormonpegel seien allerdings erst bei Kindern im Alter ab neuneinhalb Jahren aufgetreten, woraus sich ein Zeitfenster in der frühen Kindheit ergebe, in dem der Effekt noch nicht zu beobachten ist. Demnach müssen „Interventionen wie Therapie- und Unterstützungsangebote möglichst frühzeitig, also am besten vor dem neunten Lebensjahr stattfinden, um die Lebensumstände für das Kind zu verbessern“, erläutert Dr. White. Bei rechtzeitigem Eingreifen könne die Erschöpfungsreaktion und damit der Abfall des Stresshormonpegels noch verhindert werden. (fp)
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