Arzneimittelzulassung: Fünfzig Prozent der Arzneien nicht speziell für Kinder getestet
15.09.2013
Rund die Hälfte aller Arzneien, die junge Patienten einnehmen, wurden nicht speziell auch für ihre Altersgruppe getestet. Betroffen sind dabei vor allem ältere Wirkstoffe.
Nur fünfzig Prozent getestet
Immer wieder ist von unerwünschten Nebenwirkungen von Medikamenten die Rede. Von Arzneien, die eigentlich dazu gedacht sind, Schmerzen zu lindern oder Krankheiten zu heilen, können manchmal unverhältnismäßig hohe Risiken ausgehen. Dies gilt vor allem für Kinder, denn die befinden sich noch in der Entwicklung und die Arzneimittelwirkstoffe haben oft eine andere Wirkung auf deren Organismus als auf den Körper von Erwachsenen. Von den Medikamenten, die bei Kindern zum Einsatz kommen, wurden über fünfzig Prozent vorher nicht in dieser Altersgruppe geprüft.
Gesetzliche Richtlinien
Die EU hat bereits 2007 eine Arzneimittelverordnung erlassen, die Pharmakonzerne verpflichtet, jedes neue Medikament auch in Studien mit Kindern zu testen. Erste Fortschritte würden sich mittlerweile abzeichnen. Ohne die Einhaltung der Richtlinien, die in allen EU-Mitgliedssaaten verpflichtend sind, gibt es keine Zulassung. Betroffen davon sind sämtliche Neuzulassungen, jedoch nicht sogenannte Generika, also wirkstoffgleiche Kopien von bereits auf dem Markt befindlichen Produkten. Ausnahmegenehmigungen können erteilt werden für Medikamente, die in der Kinderheilkunde keine Rolle spielen.
Kinder an etwa fünf Prozent der Studien beteiligt
Doch noch bis vor wenigen Jahren war die Zahl der Studien mit Kindern nicht signifikant gestiegen, wie der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Prof. Fred Zepp im Jahr 2011 meinte. So waren damals nach Angaben der DGKJ nur an etwa fünf Prozent aller Studien Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren beteiligt. Neugeborene und Kleinkinder bis zwei Jahre seien durchschnittlich in 0,5 bis zwei Prozent der Studien beteiligt gewesen.
Eklatante Prüflücke
Ein Grund für die eklatante Prüflücke bei Kinderarzneimitteln könnte der Contergan-Skandal sein. Damals, in den frühen 60er-Jahren, mussten Hersteller neue Medikamente lediglich registrieren lassen, um auf den Markt zu kommen. Die Einnahme des Beruhigungsmittels, das unter anderem gegen die morgendliche Schwangerschaftsübelkeit empfohlen wurde, führte zu tausenden Fällen von Fehlbildungen oder gar dem Fehlen von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen. Erst diese Erfahrungen führten dazu, dass Prüfungen auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Medikaments vorgeschrieben wurden, bevor es eine Zulassung erhält. Gleichzeitig war der Skandal maßgeblich dafür mitverantwortlich, das Arzneiprüfungen bei Kindern mit hohen Auflagen und Einschränkungen belegt wurden. Argumentiert wurde mit dem Schutz der Kinder.
Nutzen für das Gesamtkollektiv
Allerdings scheint diese Strategie nicht ganz aufzugehen, da fehlende Studien die Medikamentenverordnung bei jungen Patienten oft schwierig machen. Experten meinen, es gehe darum, Kinder durch sorgfältig durchgeführte Untersuchungen zu schützen und deshalb seien die Zügel für solche Tests mittlerweile auch etwas gelockert worden. Es gilt aber nach wie vor, dass Medikamente dabei nicht an gesunden Kindern geprüft werden dürfen. Aber im Gegensatz zu früher müsse ein therapeutischer Nutzen nicht mehr für jedes in die Studie eingeschlossene Kind zu erwarten sein. Ein potentieller Nutzen für das Gesamtkollektiv von Kindern, die an der betreffenden Krankheit leiden, sei entscheidend.
Prüfungen nicht lukrativ für Pharmaindustrie
Für das Fehlen pädiatrischer Arzneiprüfungen seien jedoch keineswegs nur ethische Bedenken verantwortlich. Wie so oft im Gesundheitswesen, spiele der wirtschaftliche Aspekt eine Rolle. Für die Pharmaindustrie sind solche Prüfungen schlichtweg nicht lukrativ. Zum einen sind Kinder und Jugendliche nur ein kleiner Markt und zum anderen sich pädiatrische Untersuchungen normalerweise sehr aufwendig. Die EU-Richtlinie trägt dem aber insofern Rechnung, als sie den Produzenten neuer Medikamente im Gegenzug eine Verlängerung des Patentschutzes um sechs Monate gewährt.
Nur jedes fünfte Medikament für Kinder getestet
Derzeit werde jedoch trotz der EU-Richtlinie noch immer nur jedes fünfte Medikament auf dem Markt bei Kindern und Jugendlichen getestet und zugelassen. Daraus folgt, dass in der Kinderheilkunde immer noch viele Arzneien ins Blaue hinein verabreicht werden. Über fünfzig Prozent der Medikamenteneinsätze bei Kindern erfolge „Off Label“, das heißt ohne Zulassung. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hatte diese Zahl im Jahr 2007 publiziert. Die Europäische Kommission zog fünf Jahre nach Inkrafttreten der EU-Richtlinie Bilanz und legte einen sogenannten Fortschrittsbericht vor: Die EMA hat 600 pädiatrische Prüfungen bis 2012 genehmigt. 33 Prüfungen waren bereits abgeschlossen und 31 von insgesamt 152 Neuzulassungen bei Medikamenten waren für den Einsatz an Kindern und Jugendlichen bestimmt. Darüber hinaus wurden 72 Medikamente, die bereits bei Erwachsenen etabliert waren, nachträglich auch für Kinder zugelassen.
Off-Label-Use ist eine Zumutung
Der Chef der Unikinderklinik in Aachen und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Norbert Wagner, hatte sich mehr erhofft: „Wir brauchen für unsere kleinen Patienten unbedingt viel mehr Medikamente mit gesicherten Wirk- und Sicherheitsprofilen. Der "off label use" ist eine unzumutbare Belastung für das kranke Kind und für den behandelnden Arzt.“ Laut Wagner greife die EU-Richtlinie zu kurz, da der große Topf der alteingeführten Medikamente unangetastet bleibe.
Kinder werden zu Versuchskaninchen
Dass der Missstand bei den Medikamenten endlich zu einem Politikum geworden ist, sei maßgeblich dem Engagement der Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin zu verdanken. Nach den Vorstellungen der Kinderärzte solle es spezielle Prüfzentren, etwa an Universitätskliniken geben, wo Medikamente, die bereits länger bei Erwachsenen etabliert sind, gezielt an Kindern erprobt werden könnten. Bislang gebe es dafür aber keine Bemühungen des Gesetzgebers und so stelle sich bei schweren Erkrankungen weiterhin das Problem des „Off Label Use.“ Für weitverbreitete Kinderkrankheiten gibt es in der Regel genug geprüfte Medikamente, bei schwereren Erkrankungen würden Ärzte jedoch oft studientechnisch vor dem Nichts stehen und müssen experimentieren. Dabei finden die meisten dieser „Off-Label-Anwendungen“ auf pädiatrischen Intensivstationen statt, wobei die Rate auf Neugeborenen-Intensivstationen mit rund 90 Prozent am höchsten ist. Bislang muss ein Arzt es auf seine eigene Kappe nehmen, wenn ein Kind ein nicht für sein Alter zugelassenes Medikament benötigt. Wenn also etwas schief läuft, trägt er die alleinige Verantwortung und die behandelten Kinder werden gleichzeitig zu Versuchskaninchen.
„Für Kinder halbe Dosis“ ist überholt
Ein vorrangiges Problem bleibt die Unklarheit bezüglich der richtigen Dosis. Der Arzt muss sich erst an die optimale Dosierung herantasten und verliert dabei wertvolle Zeit. Auch die teilweise noch angewandte Regel „bei Kindern die halbe Dosis“ sei längst überholt, da sie viel zu wenig differenziert. Außerdem würden oft kindgerechte Darreichungsformen fehlen, wenn sich etwa große Tabletten nicht exakt teilen ließen. Andere Varianten, die sich leichter schlucken lassen, wie beispielsweise Säfte gebe es häufig auch nicht.
Kinder entwickeln sich noch
Bei Kindern und Jugendlichen weist der sich entwickelnde Organismus physiologische Besonderheiten auf, welche die Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung von Arzneimitteln beeinflussen. So sind etwa Organe wie Leber, Niere, Magen und Darm noch nicht ausgereift und funktionieren anders als bei Erwachsenen. Außerdem haben Kinder in der Regel eine höhere Atemfrequenz, niedrigeren Blutdruck und ein größeres Schlafpensum. All dies sind Faktoren, die bei der Wirkung von Medikamenten eine Rolle spielen können.
Besonderheiten des kindlichen Organismus
Weitere Umstände, die bei der Verabreichung von Arzneien bei den Jüngsten beachtet werden müssen: Säuglinge können Medikamente in den ersten Wochen nur sehr langsam abbauen und ausscheiden. Da sich der Körperfettanteil bei Kindern mit der Zeit ändert und sich manche Arzneistoffe bevorzugt im Fettgewebe anreichern hat dies Auswirkung auf die Medikamenten-Dosierung. Ein weiterer Punkt ist die Wassermenge im Körper, die mit zunehmendem Alter abnimmt. Deshalb werden fettlösliche Medikamente bei Kindern deutlich niedriger und wasserlösliche höher dosiert als bei Erwachsenen. Es gilt also all diese Besonderheiten des kindlichen Organismus zu berücksichtigen, sonst drohen manchmal unerwünschte oder gefährliche Nebenwirkungen, die teils bei Erwachsenen gar nicht bekannt oder extrem selten sind. (ad)
Bild: Katrin Schindler / pixelio.de
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