Bundesverfassungsgericht: Resozialisierung muss beachtet werden
Der Wunsch nach Familienkontakt und die Aussicht auf Resozialisierung können eine Haftverlegung eines Gefangenen begründen. Dies gilt umso mehr, wenn der Häftling über 600 Kilometer von seiner Familie entfernt in einem Gefängnis untergebracht ist und er wegen der Wegstrecke kaum Kontakt zu seiner Ehefrau und Kindern aufrechterhalten kann, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Donnerstag, 13. Juli 2017, veröffentlichten Beschluss (Az.: 2 BvR 345/17).
Die Verfassungsrichter hielten damit die Verfassungsbeschwerde eines inhaftierten irakischen Gefangenen für „offensichtliche begründet“. Der Mann wurde 2004 zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe wegen zweifacher Vergewaltigung und Körperverletzung verurteilt. Wegen seiner Abschiebung in den Irak wurde die Haftstrafe zunächst nicht vollstreckt.
Als er später auf der Durchreise nach Finnland in Deutschland erneut aufgegriffen wurde, sollte er nun doch seine Haftstrafe antreten. Er kam in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Landsberg am Lech. Seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder wurden über 600 Kilometer entfernt in eine Erstaufnahmeeinrichtung in Bochum untergebracht.
Der Gefangene stellte einen Antrag auf Haftverlegung nach Bochum. Seine Partnerschaft leide unter der Entfernung. Neben Eheproblemen könne er auch nicht seine Kinder sehen und bei der Erziehung helfen.
Sowohl die JVA als auch das Landgericht Augsburg lehnten den Antrag ab. Besuchsschwierigkeiten seien noch kein Grund für eine Haftverlegung. Auch bei anderen Gefangenen leben die Familien nicht am selben Ort. Außerdem sei er bereits Anfang 2016 zweimal in die JVA nach Bochum für kurze Zeit überstellt worden, damit er seine Ehefrau und seine Kinder sehen könne. Ein Anspruch auf Haftverlegung gebe es nicht. Dies stehe allein im Ermessen der Behörden, so die JVA.
In seinem Beschluss vom 20. Juni 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die JVA ihr Ermessen falsch ausgeübt hat. Zwar gebe es keinen Haftverlegungsanspruch. Dennoch verpflichte der Resozialisierungsgrundsatz die Justizvollzugsanstalten, „schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs im Rahmen des Möglichen zu begegnen“.
„Für das Resozialisierungsziel, auf das der Strafvollzug von Verfassungs wegen auszurichten ist, haben die familiären Beziehungen des Gefangenen wesentliche Bedeutung“. Denn das Grundgesetz schütze die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern und Kindern.
Bei der Prüfung eines Haftverlegungsantrags müsse die JVA daher immer auch die Resozialisierung und das Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie im Blick haben. Hier sei die JVA und das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Entfernung von über 600 Kilometer zur Familie noch hinnehmbar ist.
Auch spiele es bei der Entscheidung über die Haftverlegung keine Rolle, ob der Häftling ausreisepflichtig und in Deutschland nur geduldet ist. Der Schutz der Familie gelte auch bei einer Ausreisepflicht.
Die nur kurzzeitigen gelegentlichen Überstellungen des Gefangenen nach Bochum würden dem Interesse „an einer kontinuierlichen Pflege seiner familiären Beziehungen nicht gerecht“, so das Bundesverfassungsgericht. Diese seien nicht verhältnismäßig, so dass hier nur eine Haftverlegung in Betracht komme. fle
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