Studie: 8,5 Prozent der jungen Deutschen wurden als Kind missbraucht
Noch immer wird viel zu oft darüber geschwiegen: Missbrauch von Kindern zerstört Leben. Überlebende Opfer sind meist lebenslang traumatisiert. Wie viele Menschen wirklich betroffen sind, ist schwierig zu sagen, da sich nur die wenigsten offenbaren. Einer Studie zufolge mussten etwa 8,5 Prozent der heute jungen Erwachsenen als Kinder Missbrauchserfahrungen machen. Es sei aber von einer „immensen“ Dunkelziffer auszugehen.
8,5 Prozent mussten Missbrauchserfahrungen machen
Vor wenigen Monaten haben sich Kinder- und Jugendpsychiater an die Öffentlichkeit gewandt und gewarnt: Depressionen bei Kindern werden unterschätzt. Wie die Experten hervorhoben, gehören traumatische Erlebnisse, wie beispielsweise sexueller Missbrauch, zu den Hauptrisiken für psychische Störungen. Leider wird über das Thema Missbrauch von Kinder aber noch immer allzu oft geschwiegen.
Da sich nur die wenigsten Opfer offenbaren, ist unklar, wie viele Menschen wirklich betroffen sind. Einer nun veröffentlichten Studie zufolge wurden schätzungsweise 8,5 Prozent der jungen Erwachsenen als Kinder missbraucht.
Missbrauch im Alter von neuneinhalb Jahren
Zu diesem Ergebnis kam das Forschungsprojekt „MiKADO“ der Universität Regensburg. „MiKADO“ steht für „Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer“. Die Forscher veröffentlichten nun eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse. Demnach erlebten die Betroffenen den ersten Missbrauch im Durchschnitt im Alter von 9,5 Jahren. Dabei berichteten Frauen mit 11,5 Prozent deutlich häufiger von sexuellen Übergriffen im Kindesalter als Männer (5,1 Prozent). Allerdings sei das Dunkelfeld dabei „immens“, wie die Wissenschaftler berichten.
Mit und ohne Körperkontakt
Bei ihrer Arbeit hielten sich die Forscher an die gesetzliche Definition des Begriffs „Kindesmissbrauch“, die vor allem auf den Altersabstand abhebt. Die Leiterin des Projekts, Dr. Dipl. Psych. Janina Neutze, erklärt: „Als sexueller Kindesmissbrauch wurde eine sexuelle Erfahrung unter 14 Jahren mit einer mindestens fünf Jahre älteren, mindestens 14-jährigen Person gewertet.“ Die Psychologin weiter: „Als sexuelle Grenzverletzung wurden sexuelle Erfahrungen vor dem 16. Geburtstag gewertet, die als unangenehm und belastend bewertet wurden.“ Verbale Gewalt wurde bei ihrer Untersuchung ausgeklammert. Die Wissenschaftler unterscheiden den Angaben zufolge zwischen Missbrauch mit Körperkontakt und ohne Körperkontakt, also Exhibitionismus und Selbstbefriedigung vor Kindern oder Aufforderung an Kinder, sich selbst an den Genitalien zu berühren.
Betroffene schweigen oft aus Scham
In den meisten Fällen verschweigen die Kinder und Betroffenen den Missbrauch, meist aus Scham. Nur rund jeder dritte Fall wurde jemand anderem mitgeteilt. Der Studie zufolge wird gerade einmal ein Prozent der Fälle den Ermittlungsbehörden oder Jugendämtern bekannt. Insgesamt nahmen etwa 28.000 Erwachsene und über 2.000 Kinder und Jugendliche an den Studien teil. In den vergangenen dreieinhalb Jahren beteiligten sich neben der Uni Regensburg auch Mediziner und Psychologen in Hamburg, Bonn, Dresden, Ulm und Finnland sowie verschiedene Opferschutzvereine an dem umfassenden Projekt.
Belastende sexuelle Online-Erfahrungen
Untersucht wurden auch Fälle im Zusammenhang mit dem Internet. So berichteten zusätzlich sechs Prozent der befragten Mädchen und zwei Prozent der Jungen, im letzten Jahr mindestens eine belastende sexuelle Online-Erfahrung gemacht zu haben. Dazu werden Gespräche über sexuelle Themen, Online-Sex vor der Kamera, der Erhalt pornografischer Abbildungen und das Verschicken eigener sexueller Fotos gezählt. Nur wenige der Jugendlichen brachen den Onlinekontakt ab, wenn ein sexuelles Thema aufkam oder eine sexuelle Handlung gefordert wurde (14 Prozent). Fast ein Viertel traf sich sogar mit den Onlinebekanntschaften. Zwei Prozent von ihnen erlebten diese Treffen als belastend und 2,5 Prozent berichteten über sexuelle Handlungen bei den Treffen. Im Vergleich zu Jungen hatten jüngere und weniger gebildete Mädchen ein höheres Risiko für belastende sexuelle Onlineerfahrungen, insbesondere mit älteren Männern.
Anfälliger für psychische Erkrankungen
Es zeigte sich, dass betroffene Kinder und Jugendliche, die vom Hilfesystem erfasst wurden, deutliche Belastungssymptome aufwiesen. Demnach erfüllten 60 Prozent die Kriterien einer psychischen Störung, vor allem Störungen des Sozialverhaltens, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung), Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen. Viele offenbarten sich – wenn überhaupt – frühestens nach einem Jahr und viele Betroffene nahmen gar keine therapeutische Hilfe in Anspruch. Bereits vor Jahren berichteten US-amerikanische Wissenschaftler, dass Gehirnschäden durch Misshandlungen in der Kindheit nachweisbar sind und diese der Grund dafür sein könnten, dass Opfer anfälliger für psychische Erkrankungen sind.
Besserer Schutz vor sexueller Gewalt
Die Forscher der „MiKADO“-Studie haben auch untersucht, wie häufig sexuelles Interesse an Kindern in der Bevölkerung vorkommt. Demnach berichteten 4,4 Prozent der Männer von sexuellen Fantasien mit Kindern und 1,4 Prozent gaben an, ein Kind unter zwölf Jahren missbraucht zu haben. Wie es hieß, sei das Dunkelfeld der Kindesmissbraucher jedoch „groß“. Der Studie zufolge erfüllt wahrscheinlich weniger als einer unter 1.000 Männern die diagnostischen Kriterien der Pädophilie. Der Bund finanzierte das über dreieinhalb Jahre laufende Projekt mit rund 2,5 Millionen Euro. Nach Anagben der Forscher könnten die Ergebnisse auch Ansätze zur Entwicklung von konkreten Maßnahmen liefern, um Kinder und Jugendliche besser vor sexueller Gewalt zu schützen. (ad)
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