Wie Zelltröpfchen an neurodegenerativen Krankheiten beteiligt sind
Bereits im Jahr 2009 entdeckte der britische Zellbiologe Anthony Hyman einen völlig neuen Zustand biologischer Materie, bei dem sich örtlich Proteine in hoher Konzentration in Zellflüssigkeit ansammeln. Diese sogenannten Zelltröpfchen brachte das Team um Hyman nun mit der Entstehung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und ALS in Verbindung.
Der mit einer Million Euro dotierte Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2022 wird dieses Jahr an Anthony Hyman verliehen. Die Arbeitsgruppe um den Biologen konnte erstmals einen bislang unbekannten Mechanismus bei der Entstehung von neurodegenerativen Krankheiten aufdecken und legt somit die Grundlage für neue Behandlungsansätze.
Was sind Zelltröpfchen?
Bei Zelltröpfchen handelt es sich um dynamische Kondensate von Zellflüssigkeit, die sich wie winzige Tropfen sekundenschnelle bilden können und im Anschluss zügig wieder abgebaut werden. Die Zelltröpfchen enthalten oft eine große Menge an Proteinen, die für eine örtliche Anreicherung sorgen.
Zelltröpfchen mit neurodegenerativen Erkrankungen verbunden
Wie Zellbiologe Hyman in seinen ausgezeichneten Forschungsarbeiten beschreibt, sind Störungen in diesem Prozess mit der Entstehung von neurodegenerativen Krankheiten wie ALS oder Alzheimer verbunden. Denn wenn die Zelltröpfchen nicht ordentlich abgebaut werden, können sich an den Stellen toxische Stoffe ablagern.
Lockdown in den Zellen
Zelltröpfchen entstehen unter anderem in Zellen vermehrt bei Stressreaktionen, wie beispielsweise Vergiftung, Strahlung oder Hitze. Die gestressten Zellen wechseln dann zu einer Art Lockdown-Strategie, bei der die Aktivität der betroffenen Zellen heruntergefahren wird, um dauerhafte Schäden zu vermeiden.
Geschieht dies bei Gehirnzellen, sammeln sich in den Kondensaten vermehrt Neurotransmitter an, die gewöhnlich für die Signalübertragung in den Synapsen verantwortlich sind. Laut Hyman sind rund ein Drittel der Moleküle im Zellkern ständig in solchen membranlosen Kondensaten organisiert.
Schlüssel zu den größten Fragen der Neurobiologie
Diese erst im Jahr 2009 entdeckten Kondensate sind mittlerweile zu dem am schnellsten wachsenden Pioniergebiet in der Zellbiologie geworden. Forschende auf dem Gebiet sehen in ihnen den Schlüssel zu einigen der größten Wissenslücken in diesem Fachgebiet.
Die Beeinflussung der Zelltröpfchen hat sogar das Potenzial, neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) kurieren zu können. Denn bei diese Art von Krankheiten sind toxische Ablagerungen von erstarrten Kondensaten laut Hyman die Ursache.
Hymans Dorf-Beispiel
Hyman selbst erklärt die wissenschaftliche Bedeutung seiner Entdeckung gern am Beispiel eines Dorfes. Alle Einwohnerinnen und Einwohner sind in verschiedenen Bereichen organisiert, aus denen sich ein Zusammenspiel ergibt. Der Bauer baut Getreide an, der Müller mahlt es zu Mehl, der Bäcker backt daraus Brötchen und so weiter.
In ähnlicher Weise seien auch Zellen organisiert. Proteine und RNA einer Zelle arbeiten gemeinsam in bestimmten Zellbereichen, darunter auch in den Kondensaten. Jeder hat eine unterschiedliche Funktion, die es zu erfüllen gilt.
Ein Fehler in dieser Kette kann Auswirkungen an ganz anderer Stelle haben. Auch der Bäcker kann keine Brötchen mehr backen, wenn der Bauer kein Getreide mehr zur Mühle liefert. Die Kette bei den Proteinen sei jedoch äußerst komplex, was den Forschungsansatz dementsprechend kompliziert mache.
Wissenschaftliche Pionierarbeit
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Hyman gelten als Pioniere auf dem Gebiet. Sie haben ein ganzes Arsenal an Methoden entwickelt, mit denen sich Zelltröpfchen beobachten lassen, um ihre genauen Funktionen besser zu verstehen.
Die außergewöhnlichen Erkenntnisse von Hyman wurden nun mit dem hochdotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2022 gewürdigt. „Wir kombinieren Konzepte der Molekularbiologie, der physikalischen Chemie und der Physik der weichen Materie“, betont der Preisträger.
Auf Zelltröpfchen abzielende Wirkstoffe in der Entwicklung
Mit den Mitteln aus dem Forschungspreis will Hyman die entwickelten Methoden noch weiter verfeinern. Außerdem sucht der Biologe nach Aminosäure-Codes, die das biophysikalische Verhalten von Proteinen beeinflussen. Er vermutet, dass an diesen Stellen zu finden ist, was schiefläuft, wenn es zu vermehrten Ablagerungen der Tröpfchen kommt.
Hyman ist zudem auch Mitgründer der deutsch-amerikanischen Firma Dewpoint Therapeutics, die die Wirkung von Medikamenten auf die Kondensate erforscht. Das Unternehmen arbeitet daran, die Bildung krankheitsauslösender Ablagerungen mit geeigneten Wirkstoffen zu verhindern.
„Das zellbiologische Verständnis der Kondensatbildung wird einen wichtigen Einfluss auf die künftige Medikamentenentwicklung haben”, betont Hyman abschließend. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Körber-Stiftung: Aktueller Preisträger Anthony Hyman (2022) Forschung an Zelltröpfchen (Abruf: 30.06.2022), koerber-stiftung.de
- Körber-Stiftung: Neue Hoffnung für die Behandlung neurodegenerativer Krankheiten (Abruf: 30.06.2022), koerber-stiftung.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.