Mediziner und Medizinerinnen, Pflegekräfte, Kulturschaffende und Forschende haben die Initiative “Zero Covid” gegründet. Die Erstunterzeichner fordern einen harten, aber solidarischen Shutdown, um Menschenleben zu retten. Mittlerweile haben über 80.000 Menschen den Aufruf unterzeichnet. Wir haben bei Oliver Kube, einem der Initiatoren, nachgefragt.
Die Kampagne “Zero Covid” fordert einen harten “Shutdown”. Ist das überhaupt realistisch?
Oliver Kube Dass es prinzipiell machbar und wirksam ist, steht außer Frage: Länder wie Australien, Neuseeland, China, Taiwan, Vietmam haben das bereits erfolgreich umgesetzt. Die Frage ist, ob wir unsere Forderungen politisch durchsetzen können. Das hängt zentral davon ab, wie viel Druck wir auf die Regierungen Europas aufbauen können. Uns ist dabei wichtig, dass wir nicht eine noch detailliertere und repressivere Reglementierung des Privatlebens fordern, sondern einen Shutdown auch der Wirtschaft und des Arbeitslebens. Die privaten Kontaktbeschränkungen helfen wenig, wenn gleichzeitig Millionen von Menschen gezwungen sind, täglich ins Büro, in die Fabrik oder auf die Baustelle zu fahren. Homeoffice ist prinzipiell nur für Menschen in Bürojobs möglich und kann somit keine allumfassende Lösung sein.
Auf welcher wissenschaftlichen Expertise basieren die Forderungen von Zero Covid?
Oliver Kube Die Forderung zur konsequenten Pandemiebekämpfung lehnt sich an Forderungen an, die Wissenschaftler:innen bereits Ende 2020 aufstellten. Ein prominentes Beispiel ist der in “The Lancet” veröffentlichte Aufruf, den über 300 Wissenschaftler:innen unterzeichnet haben. Zudem beziehen wir uns auf diejenigen Länder, die eine solche Strategie bereits erfolgreich umgesetzt haben. Wir reden hier also nicht (nur) von einem theoretischen Modell, sondern von etwas, das anderswo bereits Realität ist.
Mit Ausbreitung der neuen Virusvariante B.1.1.7 verstärkt sich die Infektionsrate. Ist unter diesen Vorzeichen ein harter Lockdown überhaupt machbar?
Oliver Kube Neue, noch ansteckendere Varianten machen den von uns geforderten Shutdown der Wirtschaft noch wichtiger und dringlicher. Christian Drosten warnte bereits davor, dass die Hoffnung auf einen relativ “entspannten Sommer”, wie wir ihn 2020 erlebt haben, trügerisch sei. Wir dürfen nun nicht warten, bis die Infektionszahlen durch die neue Variante alles bisherige trifft, sondern müssen rasch und konsequent handeln.
Die Betriebe, insbesondere der Einzelhandel und Gastronomie, leiden unter dem fortgesetztem Lockdown. Müssten nun alle Betriebe während eines harten Shotdowns schließen, würde sich die wirtschaftliche Lage verschlimmern. Was ist die Antwort der Kampagne darauf?
Oliver Kube Zunächst mal vertreten wir nicht die Profitinteressen von Unternehmen. Die Gesundheit und das Überleben von Menschen hat für uns absoluten Vorrang vor Kapitalinteressen. Gleichzeitig ergibt der Einwand auch innerhalb der Profitlogik wenig Sinn. Der ewige Lockdown light, das ständige Hin und Her zwischen lockern und verschärfen richtet auf Dauer mehr wirtschaftlichen Schaden an als es ein harter Shutdown könnte.
Die ZeroCovid-Strategie führt dazu, dass etwa die Gastronomie früher wieder öffnen kann, und zwar nicht für nur drei Wochen bis zur nächsten Schließung, sondern dauerhaft. Das “weiter so” der Regierungen etwa in Deutschland und Österreich hingegen führt dazu, dass die Gastronomie und die Kulturbranche sich auch 2021 kaum erholen kann. In Australien gehen die Menschen längst wieder zu Konzerten, und zwar ohne sich und andere zu gefährden. Insgesamt lässt sich beobachten, dass sich in Ländern mit ZeroCovid-Strategie die Wirtschaft wieder erholt.
Außerdem fordern wir nicht nur das Herunterfahren der Wirtschaft, sondern auch ein umfassendes soziales Rettungspaket, für alle die es brauchen. Dazu gehört auch, dass Lohnausfälle vom Staat ersetzt werden, wenn das Unternehmen nicht mehr bezahlen kann.
Wie lange müsste der Shutdown anhalten, um das Infektionsgeschehen Ihrer Meinung nach auf ein Minimum zu reduzieren?
Oliver Kube Wir können keine genaue Zeitspanne nennen. Je niedriger die Infektionszahlen zu Beginn des Shutdowns, desto kürzer die notwendige Dauer. Je geringer die Ausbreitung der hochinfektiösen Viarianten des Virus, desto kürzer die notwendige Dauer.
Daraus ergibt sich auch: Je früher unsere Forderungen umgesetzt werden, desto kürzer die notwendige Dauer und desto geringer der Schaden in jeder Hinsicht. Auf alle Fälle wäre die Rückkehr zu den Alltagsfreiheiten zumindest absehbar, während die Fortsetzung der aktuellen Regierungspolitik diese in weite Ferne rückt.
Zero Covid setzt sich auch für eine gemeinsame europäische Zusammenarbeit der Maßnahmen ein, damit Infektionsgeschehen nicht wie bei einem Ping-Pong-Effekt zwischen den EU-Ländern hin und her springt. Könnte das nicht schwierig werden?
Oliver Kube Die Schwierigkeit liegt insbesondere in den Prioritäten der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Das Beispiel der europäischen Abschottungspolitik gegen Geflüchtete zeigt, dass “Menschenleben retten” für die gesamte EU keine Priorität hat.
Wenn wir erstens europaweit Druck von unten aufbauen und die Regierungen bereit wären, von asiatischen Ländern zu lernen, dann wäre ein gemeinsames Vorgehen durchaus möglich. Wir sind bereits dabei, uns international zu vernetzen. Oder andersrum gefragt: Warum soll Europa auf das Ende der Pandemie verzichten?
Zero Covid würde mehr Abschottung, strikte Reise- und Migrationskontrolle bedeuten. Ist das im Sinne der Initiative?
Oliver Kube Tourismus und Flucht sind hier klar voneinander zu trennen. Der Shutdown der Wirtschaft umfasst auch die Tourismusbranche, die ja bereits heruntergefahren ist. Hier gilt wie für alle anderen Bereiche, dass die ZeroCovid-Strategie zu einer früheren Öffnung führt als die Fortsetzung des ewigen Lockdown light. Fluchtwege hingegen müssen offen bleiben, Massenunterkünfte und -lager aufgelöst. Geflüchtete und Obdachlose können in leerstehenden Hotels untergebracht werden.
Zero Covid fordert einen solidarischen Shutdown. Was ist damit genau gemeint?
Oliver Kube Solidarisch meint hier, dass wir umfassendes soziales Rettungspaket fordern. Das beinhaltet zum Beispiel die Kompensation von Lohnausfällen, Hilfen für Erwerbslose, bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung für Pflegekräfte.
Unser Ansatz geht jedoch auch über Europas Grenzen hinaus: Der globale Norden hat sich einen Großteil des Impfstoffs gesichert, während unklar ist, ob und wann Länder des globalen Südens überhaupt an Impfstoff herankommen würde. Wir fordern daher, den Impfstoff der Profitlogik zu entziehen und das Patentrecht auszusetzen, sodass die Profitinteressen von Pharmakonzernen der Impfung von Menschen im globalen Süden nicht im Wege stehen.
In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass sich die Staaten zwar auf den repressiven Teil einigen könnten, aber das solidarische Rettungspaket für alle” ein frommer Wunsch bliebe. Ist das nicht eine Gefahr?
Oliver Kube Dafür ist es wichtig, dass wir die sozialen Forderungen weiterhin oder stärker als bisher in den Vordergrund stellen.
Gleichzeitig gilt aber selbst in dem Fall, dass “nur” der Shutdown – ohne Solidarität – umgesetzt wird, dass der Schaden geringer wäre. Die privaten Einschränkungen, also den “repressiven Teil”, wenn man so will, haben wir doch sowieso schon seit einem knappen Jahr. ZeroCovid würde dessen Ende ermöglichen. Der Kurs der Regierung hingehen läuft darauf hinaus, den repressiven Ausnahmezustand zu normalisieren.
Wie viele Unterstützer:innen konnte Zero Covid bisher erreichen?
Oliver Kube Bisher haben über 82.000 Menschen die Online-Petition unterzeichnet (Stand 23.01.2021, 13:30 Uhr).
Gibt es seitens der Wissenschaft/Medizin namhafte Unterstützung für Zero Covid?
Oliver Kube Wissenschaftler:innen forderten bereits vor unsere Kampagne eine ähnliche Strategie der Pandemiebekämpfung. Unter unseren Erstunterzeichner:innen sind auch einige Mediziner:innen. Der sogenannte “No Covid”-Ansatz geht in eine ähnliche Richtung.
Autoren- und Quelleninformationen
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