Die Anthroposophische Medizin ist eine Erweiterung der Schulmedizin, die neben der naturwissenschaftlichen, häufig rein körperlichen Betrachtung von Krankheit, die seelisch-geistige Ebene des Menschen in die Behandlung einbezieht. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus den Wörtern ánthrōpos (Mensch) und sophίa (Weisheit). In der Anthroposophischen Medizin bilden Körper, Geist und Seele eine Einheit. Dies wird stets in Diagnose und Therapie berücksichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Die Anthroposophische Medizin ist eine Komplementärmedizin. Sie wird also ergänzend zur Schulmedizin angewandt. Bislang ist diese Therapierichtung nicht umfassend von der Schulmedizin anerkannt. Allerdings werden einige Heilmittel, vor allem bestimmte Phytotherapeutika (pflanzliche Arzneien), in beiden Feldern eingesetzt.
Die Anthroposophische Medizin geht auf Rudolf Steiner zurück, einen Esoteriker und Philosophen. Steiner lebte von 1861 bis 1925 und entwickelte die Anthroposophische Geisteswissenschaft. Außerdem ist er für seine Waldorfpädagogik bekannt.
Anthroposophische Medizin – ein kurzer Überblick
Einen Einstieg in die Anthroposophische Medizin vermittelt Ihnen unser Kurzüberblick.
- Beschreibung: Die Anthroposophische Medizin ist eine ganzheitliche Komplementärmedizin, die mit ihrer Grundlage, der Anthroposophie und deren Weltbild, die konventionelle Medizin erweitern möchte. Entwickelt wurde sie von Rudolf Steiner (1869-1925).
- Grundlagen: Diese Therapierichtung betrachtet als Grundlage die vier Wesensglieder, aus denen Rudolf Steiner zufolge jeder Mensch besteht: Der physische Leib, der Ätherleib, der Astralleib und die Ich-Organisation.
- Konzept: Die Anthroposophie geht davon aus, dass unterschiedliche Teile einer Pflanze, tierische Bestandteile, Mineralien oder Metalle eine unterstützende Wirkung auf entsprechende Körperbereiche des Menschen haben können.
- Wirkung: Die Heilmittel sollen nicht Beschwerden und Krankheiten beseitigen, sondern Organe oder körperliche Prozesse unterstützen, um diese wieder in ihr natürliches Gleichgewicht zu bringen.
- Behandlung: Es werden aufbereitete anthroposophische Heilmittel, besondere Therapieverfahren und die Heileurythmie (spezielle Bewegungstherapie) angewandt.
Begriffsdefinition
Die Anthroposophische Medizin beschäftigt sich mit jedem Menschen in seiner ureigenen Persönlichkeit und Individualität. Sie bezeichnet sich als integrative Medizin, da sie sowohl Methoden und Diagnosearten aus der konventionellen Medizin als auch geisteswissenschaftliche Erkenntnisse anwendet.
Für die anthroposophisch behandelnden Therapeutinnen und Therapeuten sind Laboruntersuchungen, Medikamente, Medizintechniken, Operationen und Intensivmedizin genauso wichtig wie das Betrachten des Menschen als Ganzes, als Zusammenspiel aus Körper, Geist und Seele.
Bevor an der Patientin oder dem Patienten Untersuchungen vorgenommen werden, kommt es in einer anthroposophisch arbeitenden Praxis auf die genaue Beobachtung des Menschen an. Das Auftreten, die Haltung, der Gang, der Händedruck, die Körpersprache und die Mimik werden genau wahrgenommen.
Weitere wichtige Komponenten für die Anamnese sind Stimmung, Schlafverhalten, Temperatur der Haut und körperliche Rhythmen. Hierbei soll die Individualität des Einzelnen sensibel erkannt werden. Die Therapeutin oder der Therapeut benötigt dazu großes Wissen, Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Intuition.
In der Anthroposophischen Medizin ist nicht die Krankheit im Menschen, sondern der Mensch in seiner Krankheit wichtig. Ein ausführliches Gespräch (Anamnese), bei dem der Patient oder die Patientin als Ganzes im Mittelpunkt steht, ist Basis der Behandlung. Auch wenn allgemein bekannte und übliche Diagnosemethoden angewandt werden, so ist die Interpretation dennoch ganzheitlich und die daraus resultierenden Therapiemaßnahmen erweitern und ergänzen das Konzept der Schulmedizin.
Nach Rudolf Steiner ist der physische Körper der sichtbare Ausdruck der Individualität des Menschen und seine körperlichen Vorgänge werden durch Seele und Geist geprägt und gestaltet.
Natur und Mensch
In der Anthroposophischen Medizin ist man der Meinung, dass Mensch und Natur eine gemeinsame evolutionäre Entwicklung durchlaufen haben und dadurch zwischen beiden eine Wesensverwandtschaft besteht.
Demnach existiert im Pflanzenreich eine Dreigliederung, genauso wie beim Menschen, nur in umgekehrter Form: So steht die Wurzel für Kopf, Gehirn und das Nerven-Sinnes-System. Die Blätter symbolisieren das Rhythmische und die Blüten und Früchte stehen für das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System.
Um diese Zusammenhänge vollständig nachvollziehen zu können, müsste man sehr viel tiefer in die Theorie der Anthroposophischen Medizin einsteigen. Es handelt sich hierbei um ein ganz eigenes, umfassendes theoretisches Konzept Rudolf Steiners mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Begriffen.
Was ist Krankheit – was ist Gesundheit?
Auch auf die Definition von Krankheit und Gesundheit hat die Anthroposophische Medizin einen eigenen Blick. Beides wird hier als etwas ganz Individuelles gesehen. Krankheit steht für ein aus dem Gleichgewicht geratenes menschliches System.
Jeder Mensch hat demzufolge sein ureigenes Gleichgewicht; durch seine Krankheit bekommt er den Impuls, die Aufgabe oder gar die Möglichkeit, das Ungleichgewicht aktiv anzugehen und auszugleichen. Dies gehört zum Gedankengut anthroposophisch arbeitender Therapeutinnen und Therapeuten. Die eingesetzten Medikamente und Therapieverfahren können helfen, das Gleichgewicht wieder herzustellen.
Diagnose
Für die Diagnose von Krankheiten sind zuerst die Sinne des Behandlers oder der Behandlerin wichtig. Die Patientin oder der Patient wird von Kopf bis Fuß genau betrachtet.
Wichtig dabei sind vor allem Gang, Körperhaltung, Körpersprache und Mimik. Hinzu kommt das Berühren der Haut, um sich ein Bild von der Temperatur des Menschen zu machen. Ist die Haut eher kühl oder warm, feucht oder trocken? Dies ist ein wichtiger Teil der Anamnese und für die weitere Behandlung.
Das anthroposophische Menschenbild
Rudolf Steiner sieht in der Anthroposophie den Körper als Ausdruck seiner Individualität, wobei Seele und Geist die körperlichen Vorgänge gestalten und prägen. In der Denkweise der Anthroposophischen Medizin besteht der Mensch aus vier Wesensgliedern, und zwar aus dem physischem Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und der Ich-Organisation.
Jeder Wesensart sind bestimmte Krankheitsabläufe zugeordnet. So spielen sich aus der Sicht dieser Therapierichtung Sklerosen (Verhärtungen von Gewebe oder Organen) im physischen Leib ab, Geschwülste im Ätherleib, Entzündungen sind dem Astralleib zuzuordnen und Lähmungen der Ich-Organisation.
Physischer Leib
Der physische Leib wird auch als Stoffleib bezeichnet. Darunter sind Organe und Organsysteme zu verstehen. Um Probleme in diesem Bereich zu diagnostizieren, werden konventionelle Untersuchungsmethoden wie zum Beispiel Röntgen, Sonographie, Computertomographie, Blutbild und Urintest angewandt.
Ätherleib
Der Ätherleib, Lebensleib oder auch Bildkräfteleib genannt, umfasst aus Sicht der Anthroposophischen Medizin die Bereiche Verdauung, Wachstum, Denken und Fortpflanzung. Er organisiert in diesem Verständnis das physische Leben. Im Ätherleib ist das Befinden „zuhause“. Er spiegelt die Vitalität des Menschen wider.
Astralleib
Der Astralleib oder auch die Empfindungsorganisation ist aus Sicht der Anthroposophie so etwas wie ein „Seelenleib“. Er stellt die Verbindung zwischen Empfindungen und Körper dar und zeigt sich vor allem in endokrinen Organen beziehungsweise Drüsen (zum Beispiel Schilddrüse oder Nebenniere) und dem Immunsystem.
Der Astralleib ist laut Anthroposophischer Medizin nur bei Lebewesen vorhanden, die wahrnehmen können, so bei Tieren und Menschen, jedoch nicht bei Pflanzen.
Ich-Organisation
Die Ich-Organisation bildet für anthroposophisch arbeitende Therapeutinnen und Therapeuten die höchste Stufe, die geistige Individualität, Denkfähigkeit und das Bewusstsein des Menschen. Sie spiegelt sich in unserem Wärmeorganismus wider. Die Ich-Organisation differenziert zwischen Mensch und Tier.
Zusammenspiel der vier Wesensglieder
Die vier Wesensglieder arbeiten aus Sicht der Anthroposophischen Medizin zusammen in drei Funktionssystemen: Das sind das Nerven-Sinnes-System, das Rhythmische System und das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System.
Im Nerven-Sinnes-System spielen sich abbauende und verhärtende Prozesse ab. Zusätzlich ist dieses System dem Denken zugeordnet. Dem Rhythmischen System hingegen ist das Fühlen zugeordnet, vertreten durch Atmung und Herz.
Das Fühlen ist der ausgleichende Vermittler zwischen dem Nerven-Sinnes-System und dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System.
Das Dritte Funktionssystem ist das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, das dem Wollen zugeordnet ist. Dies hat ab- und aufbauende Funktionen, sorgt für Wachstum und Vitalität.
Anthroposophische Arzneimittel
Für die Gabe anthroposophischer Arzneimittel gilt der Grundsatz: so wenig wie möglich und nur so lange wie nötig. Individuell nach Krankheitszustand und Mensch wird das anthroposophische Arzneimittel gewählt, auch unterstützend zur konventionellen Medizin.
Eine ausführliche Anamnese durch den behandelnden Arzt sowie behandelnden Heilpraktiker oder die behandelnde Ärztin sowie behandelnde Heilpraktikerin ist für die Wahl des richtigen Heilmittels unumgänglich, damit der Mensch auf dem Weg zurück in sein ureigenes Gleichgewicht unterstützt wird. Hierbei kann es sich um ein Einzelmittel oder auch um ein Komplexmittel (besteht aus mehreren Einzelmitteln) handeln.
Bei der Anamnese ist auch wichtig zu ergründen, ob die Beschwerden in erster Linie organischer Ursache sind oder ob die Psyche mitbeteiligt oder sogar der alleinige Auslöser ist. So kann zum Beispiel bei drei verschiedenen Erkrankungen, wie Nasennebenhöhlenentzündung, Ekzemen oder chronischer Bronchitis dasselbe Mittel zum Einsatz kommen, da sich hier die Krankheiten in ihren charakteristischen Merkmalen ähneln.
Die Anthroposophischen Arzneimittel enthalten Ausgangsstoffe aus dem pflanzlichen (zum Beispiel Arnika), tierischen (zum Beispiel Bienengift), mineralischen (zum Beispiel Quarz) und metallischen Bereich (zum Beispiel Gold).
Die Mittel enthalten potenzierte (nach bestimmten Vorgaben und Techniken verdünnte) Anteile wie in der Homöopathie, aber auch konzentrierte pflanzliche Substanzen. Eine Besonderheit stellen Tinkturen aus Pflanzen dar, die mit Metallsalzen gedüngt wurden.
Herstellungsverfahren
Um anthroposophische Heilmittel herzustellen, existieren verschiedene Verfahren. Dazu gehören Lösen und Kristallisieren, was zum Beispiel bei salzartigen Mineralien angewandt wird. Weiterhin werden das Extrahieren von Pflanzenextrakten und das flüssige Potenzieren genutzt, bei dem im Verhältnis 1:10 wiederholt verdünnt und verschüttelt wird und mit dem fertigen Extrakt Streukügelchen (Globuli) getränkt werden. Eine weitere Variante ist das feste Potenzieren, bei dem die Ausgangsstoffe nicht flüssig, sondern fest sind (Mineralien).
Frische oder getrocknete zerkleinerte Substanzen pflanzlichen oder tierischen Ursprungs werden dem sogenannten Mazerieren unterzogen. Weitere Verfahren sind Fermentieren, Überbrühen, Auskochen, Destillieren, Schmelzen, Verdampfen, Rösten, Verkohlen und Veraschen.
Auf diese Weise können die unterschiedlichsten Substanzen aufgeschlossen und daraus Arzneimittel hergestellt werden. Diese sind zur äußerlichen oder innerlichen Einnahme oder für die Injektion bestimmt, je nachdem, welche Therapie verordnet wird.
Zusammensetzung
Viele der anthroposophischen Arzneimittel bestehen nicht nur aus einer Substanz, sondern aus mehreren Einzelsubstanzen. Diese Zusammensetzung wird als Komposition bezeichnet. Dies bedeutet, dass nicht einfach nur Mittel miteinander gemischt werden, sondern wie in einem Orchester das Zusammenwirken der einzelnen Beteiligten eine große Rolle spielt. Ein komponiertes Heilmittel besteht aus mindestens zwei Substanzen, potenziert oder aber auch in Form einer pflanzlichen Urtinktur oder Tinktur.
Heileurythmie
Die Heileurythmie ist eine Bewegungstherapie. Sie soll alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit erfassen und unterscheidet sich dadurch von Bewegungsformen, die nur auf bestimmte körperliche Störungen bezogen sind, wie zum Beispiel die Krankengymnastik. In der Eurythmie werden die Rhythmen und Laute der Sprache – Vokale und Konsonanten – in entsprechenden Bewegungen, Lautformen und Rhythmen dargestellt.
In der Heileurythmie steht die Wechselwirkung, die durch das Ausführen bestimmter Bewegungen in Bezug auf erkrankte Bereiche des Organismus erzielt werden kann, im Mittelpunkt. Damit soll die geistig-seelische Individualität des Patienten oder der Patientin auf bestimmte Lebensprozesse gelenkt werden und in ihrer leibgebundenen Tätigkeit angeregt, modifiziert und reguliert werden.
Weitere Therapieformen
Zu den physikalischen Maßnahmen gehören Wickel und Auflagen, rhythmische Massagen und Einreibungen sowie Öldispersionsbäder. Weitere Therapieformen sind plastisches Gestalten, therapeutisches Malen, Musik- und Gesangstherapie und die Sprachgestaltung.
Zusammenfassung
Die Anthroposophische Medizin möchte nicht die Schulmedizin ersetzen, sondern diese mit den eigenen Mitteln und Verfahren ergänzen und erweitern. Der Mensch wird bei dieser Therapierichtung stets als Ganzes, als Individuum gesehen.
Wichtig sind nicht nur die Beschwerden, sondern deren Auftreten, die Körperhaltung, seelische Verfassung, Empfindungen und das soziale Umfeld des erkrankten Menschen. Der Mensch wird in seiner Individualität erfasst und bekommt die dafür geeigneten Arzneimittel und Therapien, um Körper, Geist und Seele wieder in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. (sm, sw, kh)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Bierbach, Elvira (Hrsg.): Naturheilpraxis heute. Lehrbuch und Atlas. Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, München, 4. Auflage, 2009.
- Baars, E. et al.: The Contribution of Anthroposophic Medicine to Self-Management: An Exploration of Concepts, Evidence, and Patient Perspectives; in: Complementary Medicine Research, Vol. 24, Seite 225-231, 2017, Karger
- Hamre, Harald Johan et al.: Overview of the Publications From the Anthroposophic Medicine Outcomes Study (AMOS): A Whole System Evaluation Study; in: Global advances in health and medicine, Vol. 3, Issue 1, Seite 54-70, 2014, SAGE
- Soldner, Georg, Stellmann, Dr. H. Michael: Individuelle Pädiatrie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart, 2. Auflage, 2002
Wichtiger Hinweis:
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