Magisches Denken bezeichnet erstens eine Geisteshaltung, in der Gegenständen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, die (wissenschaftlich betrachtet), nicht existiert. Solche Imaginationen konstruieren Ursachen und Wirkungen zwischen Dingen und Geschehnissen, die es objektiv nicht gibt. Zweitens ist damit eine Phase in der Kindheit zwischen 2 und 5 Jahren gemeint, in der Kinder Beziehungen jeglicher Art zwischen Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen für möglich halten und nicht zwischen innerer Erfahrung und Außenwelt trennen.
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Dieses Denken zeigt sich in der ersten Variante sowohl im Westen im Glauben an Übernatürliches, Astrologie, Wünschelrutengängern, Esoterik oder Kaffeesatzlesen, bei traditionellen Kulturen hingegen als Ganzheitlichkeit, die alle Wesen, Dinge und Phänomene magisch miteinander verwoben sieht, und diese Verbindung aus Fragmenten der sinnlichen Wahrnehmung und der historischen Erfahrung zu einem System bastelt.
Spätestens seit dem Werk des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss gilt dieses „wilde Denken“ in der Ethnologie nicht mehr als pathologisch, sondern als sinnvolle Struktur, um menschliche Gesellschaften zu organisieren. Das „wilde Denken“ geht dabei über in die Philosophie, den Mythos und die „große Erzählung“, die Menschen brauchten, um das Chaos der Erfahrung mit der Umwelt als Kultur zu handhaben.
Denken in Zusammenhängen, das aus subjektiven Wahrnehmungen auf kausale Beziehungen der Außenwelt schließt, gehört zum System des „schnellen Denkens“ in Assoziationen und ist für alle Menschen normal, um den Alltag zu bewältigen: Wenn unser neuer Chef mit Vornamen Christian heißt, und wir mit einem Christian schlechte Erfahrungen machten, spielt das in unsere Wahrnehmung hinein, obwohl kein objektiver Zusammenhang besteht.
Das assoziative Denken geht auf die evolutionäre Anpassung zurück und damit auf Verhaltensmuster, die vor dem langsamen Denken lagen, das abstrahiert.
Psychisch Kranke und traditionelle Kulturen
Dieses Denken gilt dann als pathologisch, wenn Menschen zwischen ihren subjektiven Empfindungen und der Außenwelt nicht mehr unterscheiden können. Wir bezeichnen diesen Zusammenbruch zwischen innerem Erleben und äußerer Erfahrung als Psychose. Traumatisierte, Bipolare, Borderline-Patienten und an Schizophrenie Erkrankte gehören zu den seelisch Gestörten, bei denen sich die Trennung zwischen subjektiver Wahrnehmung und äußerer Realität auflöst.
Psychisch Kranke und seelisch gesunde „Naturvölker“ sind nur dann ein Gegensatz, wenn wir psychische Störungen als etwas Abnormes vom „heilen Gehirn“ ausgrenzen. So funktioniert das Gehirn aber nicht: Die Konstruktionen von Wirklichkeit psychisch gestörter Menschen sind vielmehr der Versuch des Organismus, zu funktionieren – zum Beispiel füllen Korsakow-Patienten, die an Gedächtnisschwund leiden, weil der Alkohol Teile des Gehirns zerstört hat, die fehlenden Erinnerungen durch Fantasie-Konstruktionen. Das Gehirn erträgt Leere nicht.
Magisches Denken bei Kindern
Kinder leben circa von zweiten bis zum fünften Lebensjahr in der magischen Phase. In dieser Zeit sind Riesen, Hexen oder der Weihnachtsmann für sie so real wie Autos oder Menschen.
Die Kinder erkennen reale Dinge bereits und können sie benennen; sie wissen, was ein Haus ist, ein Hund oder ein Schrank. Allerdings ist alles, was sich das Kind vorstellt, genau so real, und es entwickelt Erklärungen für Geschehnisse der Umwelt: So kommt es zum Beispiel zu dem Schluss, dass es regnet, weil im Himmel ein Mann mit einer Gießkanne sitzt.
Geschichten der Erwachsenen werden für die Kinder Realität. Wenn Onkel Bernd erzählt, dass eine grüne Spinne wie eine grüne Tomate noch nicht reif ist, dann stimmt das. Metaphern werden unmittelbare Wirklichkeit. „Hier liegt der Hund begraben“, oder „Im Himmel ist Jahrmarkt“ stellen sich Kleinkinder genau so vor, wie die Worte es sagen. In diesem Alter bringt es nichts, dem Kind logisch zu erklären, warum bestimmte Dinge nicht möglich sind.
Nicht nur schöne Vorstellungen werden Wirklichkeit, noch gravierender sind die magischen Ängste. Unter dem Bett lauert ein Monster, oder im Schrank versteckt sich ein Räuber. Dazu gesellt sich der „unsichtbare Freund“, der dem Kind in solchen, mit Angst besetzten, Situationen zur Seite steht.
Diese Ängste und Angstbewältigungen sollten Eltern unbedingt ernst nehmen. Den Kindern zu erörtern, dass diese Vorstellungen irrational sind, verstehen die Kleinen erstens nicht und ist streng genommen auch falsch. Es handelt sich nämlich nicht um Irrationalität im Sinne von Spinnnerei, sondern um ein evolutionär entstandenes Verhalten – und dieses Verhalten ist sinnvoll.
Eine Hyäne in der dunklen Ecke (unter dem Bett) oder ein Leopard auf der Lauer (im Schrank), ein feindlicher Mensch, der wehrlose Kinder entführt (Räuber) waren für die frühen Menschen ganz reale Bedrohungen, und Kinder, deren genetische Anlage solche Bedrohungen nicht erkannt hätte, wären nicht alt geworden.
Wenn das Kind also Essen für den unsichtbaren Freund vor die Tür stellt, mit seinem Teddybären redet oder die Eltern in der Kommode gucken müssen, ob sich dort ein Troll versteckt, besteht kein Grund zur Besorgnis. Manche Eltern befürchten, dass ihr Kind eine psychische Störung entwickelt. Diese Furcht ist meist unbegründet.
Nicht die Fantasien sind nämlich ein Grund, sich Sorgen zu machen, sondern das Ausmaß der Angst. Traut sich das Kind nicht mehr in den Kindergarten? Sind die bösen Geister immer und überall? Fehlt ihnen ein positiver Gegenspieler?
In der Regel besteht auch kein Problem darin, dass Kind in seinen Fantasien zu unterstützen, egal, wie grandios diese sind. Schüler diskutieren von selbst mit sechs oder sieben Jahren, ob es den Weihnachtsmann gibt; von ganz allein verschieben sich also die allumfassenden Fantasien durch realistische Erklärungen. Zum Beispiel entwickeln Kinder, die mit sechs noch an den Weihnachtsmann glauben, Theorien, wie der Weihnachtsmann es schafft, alle Kinder zu beglücken; die Geschenke sind nicht einfach da, sondern Elfen stellen sie in einer riesigen Fabrik her, etc.
Die Fantasie von Kindern ist ein großer Reichtum, und manche erfolgreichen Fantasy-Schriftsteller bekamen wesentliche Impulse, indem sie ihre Plots zusammen mit Kindern entwickelten. Eltern sind gut beraten, das Kind dabei zu begleiten, auch wenn sie sich schlecht vorstellen können, dass sich im Vogelhäuschen kleine Männchen mit Flügeln tummeln.
Sie sollten die Ängste des Kindes immer ernst nehmen. Das Kind akzeptiert nicht, dass es den Räuber im Schrank nicht gibt. Diese Assoziationen sind vielmehr ein biologisch sinnvoller Appell an die Eltern, für Sicherheit zu sorgen. Statt also zu erklären, dass die Monster Fantasien sind, gucken umsichtige Eltern in den Schrank und zeigen, dass das Monster nicht da ist.
Die Eltern können auch mit dem Kind zusammen Lösungen finden, die die Angst bewältigen: „Ich passe auf, ob ein Monster kommt,“ oder „wir lassen deine Tür offen, und wenn ein Monster da ist, kommst du zu uns“. Gut ist, wenn die Eltern dem Kind von Situationen erzählen, in denen sie selbst Angst hatten, und was sie dann taten.
Zwei Denksysteme
Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann untersuchte in einer langjährigen Studie zwei Denksysteme des Menschen. Demnach verfügen wir über ein langsames und ein schnelles Denken – ein intuitives und ein rationales.
Das intuitive Denken ist ,Kahnemann zufolge, für unsere Entscheidungen im Alltag weit mächtiger als das rationale. Unser Denken könnten wir nur sehr begrenzt kontrollieren.
Kognitive Verzerrungen, bedingt durch Gefühl und Intuitionen, drängen die Rationalität meistens zurück – auch bei Menschen, die das Gegenteil von sich annehmen wie zum Beispiel Naturwissenschaftlern. So kauften Manager Aktien bei Ford „weil die wissen, wie man ein Auto baut“.
Kahnemann schreibt: „Wir sind oft selbst dann von ihrer Richtigkeit (Intuitiven Überzeugungen und Präferenzen) überzeugt, wenn wir irren, und ein objektiver Beobachter erkennt unsere Fehler mit höherer Wahrscheinlichkeit als wir selbst.“
Laut Kahnemann arbeitet das unbewusste System automatisch, es stützt sich auf abgespeicherte Erfahrung und entwickelt daraus zusammen hängende Geschichten. Die Ergebnisse aus diesen „Schnellschlüssen“ empfängt das Bewusstsein und damit das rationale Denken, mit dem wir prüfen, ordnen und analysieren.
Das abstrakte Denken, das die komplexen Berechnungen und die Hypothesen erstellt, die wir für richtig oder falsch anerkennen, dauert nicht nur lange – es verbraucht auch Ressourcen. Es strengt den Organismus zu sehr an, um ständig in Gebrauch zu sein.
Im Alltag denken und handeln wir deshalb gewöhnlich mit System 1. Wir ersetzen schwierige Fragen durch Fragen, die uns subjektiv gefallen. Deswegen sind aber viele unserer Entscheidungen falsch, denn unser schnelles Denken sortiert ein, was uns „in den Kram passt“ und nicht, was objektiv richtig ist. Je mehr wir unter Stress stehen, umso mehr wählen wir den schnellen und den einfachen Weg.
Das assoziative Denken kann fatale Folgen haben. So verurteilten Richter in einem Experiment eine Ladendiebin zu einer höheren Strafe, nachdem sie vorher eine höhere Zahl gewürfelt hatten. Mehr noch: Nicht im Experiment, sondern in Wirklichkeit entließen Richter viel mehr Menschen auf Bewährung entlassen, wenn sie den Fall am frühen Morgen oder nach der Mittagspause bearbeiteten. Sie lehnten die meisten Anträge auf Bewährung hingegen ab, wenn sie zuvor mehrere Stunden durchgearbeitet hatten. Es handelt sich, laut Kahnemann, dabei nicht um Schlamperei, sondern um eine normale Reaktion des Organismus. Das langsame Denken kostet mentale Energie, und das Gehirn schaltet irgendwann automatisch auf einen „Low Energy Modus“ herunter. Kahnemann erklärt dieses Phänomen mit mentaler Müdigkeit. Er sagt, dass die Arbeit von Richtern in erster Linie analytisches Denken beansprucht. Dies laugt aber die mentalen Energiereserven aus.
Laut Kahnemann lässt sich das intuitive Denken nicht abschalten, denn es ist angeboren. Unsere Eindrücke, erworbenen Sympathien und Abneigungen verwechseln wir sehr leicht mit langsam durchdachten Entscheidungen. Dieses langsame System muss aber, laut Kahnemann willentlich eingeschaltet werden, und das ist fast immer unbequem.
Mehr noch: So lange alles gut läuft, nimmt das rationale System die automatischen Intuitionen ungeprüft auf und verwandelt sie in Überzeugungen. „Von selbst“ aktiv wird das rationale System erst bei kognitiver Dissonanz, also bei Geschehnissen, die gegen das verstoßen, was das schnelle System als plausibel einschätzt, zum Beispiel eine sprechende Katze.
Evolution
Psychologen wie Seymour Epstein und Jonathan Evans sehen in den von Kahnemann beschriebenen Denksystemen eine evolutionäre Entwicklung: So sei das intuitive Denken ein altes System der Evolution, wie es auch viele andere Wirbeltiere aufweisen, das analytische System jedoch eine erdgeschichtlich neue Anpassung des Menschen.
Dieses alte Erfahrungssystem lässt sich ohne weiteres mit magischem Denken gleich setzen. Es setzt gleichzeitige Wahrnehmungen in einen Zusammenhang und konstruiert eine Kausalkette zwischen Geschehnis und Erfahrung. Das kann objektiv stimmen, muss es aber nicht.
Das „alte Denken“ stellt also keine Hypothesen auf, die sie prüft und widerlegt, wenn sie falsch sind, sondern sieht Muster in der Umwelt, hinter denen Absichten stecken. So ist für die Ureinwohner in Papua-Neuguinea fast jede Krankheit Folge eines bösen Zaubers. An “Dummheit” kann es nicht liegen. Der Selektionsdruck hinsichtlich Cleverness war bei den Papuas, die ständig mit dem Angriff eines feindlichen Clans rechneten und auf natürliche Gefahren wie Krokodile, umstürzende Bäume oder Parasiten achten mussten, vermutlich größer als in den modernen Gesellschaften.
Was als purer Aberglaube erscheint, ermöglichte uns in der natürlichen Wildnis das Überleben und spiegelt sich in den Angstfantasien von Kindern: Wer in der Savanne Afrikas lange analysiert hätte, ob ein Schatten im Busch von einem Leoparden, dem Einfall des Sonnenlichtes oder einem Stein herrührte, hätten kaum überlebt, wenn es ein Leopard gewesen wäre.
Der Evolutionsbiologe Kevin Foster wies mit einem mathematischen Modell nach, dass dieses intuitive Denken und Handeln in der Evolution einen Vorteil bot, egal, ob der Schluss objektiv falsch war.
Esoterik aus Erschöpfung
Esoterische Lehren sind unter Akademikern weiter verbreitet als bei „weniger Gebildeten“ – ob Wünschelruten, „alternative Welterklärungen“, das unaussprechbare Tao, der Gottkönig Dalai Lama, oder ein Quadrat zwischen den Planeten Pluto und Mars bei der Geburt als Erklärung für Selbstzerstörung.
Ein erfolgreicher Psychiater, der über Jahre hinweg selbst wegen Depressionen auf der Couch lag und schmerzlich in der Praxis feststellte, dass psychische Störungen sich nur sehr bedingt heilen lassen, gibt plötzlich sein Geld für „Seminare“ aus, in denen Gurus erzählen, dass alles, was du dir wünschst, in Erfüllung gehst, wenn du nur daran glaubst. „Erleuchtet“ verspielt der Arzt jetzt seine Reputation, weil er meint, sämtliche Krankheiten mit Klopfen auf Körperstellen beheben zu können.
Die Funktion der beiden Denksysteme lässt ein solches Verhalten logisch erscheinen. Eine analytische Arbeit als Psychiater über viele Jahre hinweg kostet enorm viel mentale Energie und verbraucht Ressourcen. Immer stärker werden jetzt die Vorschläge des angeborenen schnellen Denkens, einen Sinn herzustellen statt die ermüdende Arbeit fortzusetzen, deren Resultate nur wenig Erfolg bringen.
Das schnelle Denken verspricht jetzt scheinbare Lösungen, viel Erfolg mit wenig Aufwand, wenn der Betroffene nur vom langsamen Denken Abschied nimmt. Die Verlockung intuitiver Schnellschüsse sind für geistige Arbeiter, Ärzte, Psychiater und Wissenschaftler folglich sogar größer als für Menschen, die intellektuell weniger anspruchsvollen Tätigkeiten nachgehen.
Magisches Denken versus Psychische Störungen
Gefährlich wird es, wenn Heilpraktiker, Ärzte und Therapeuten, die dem schnellen Denken vertrauen, an Menschen mit psychischen Störungen geraten, zu deren Symptomen magische Konstruktionen gehören, und für die diese Assoziationen keine Lebenshilfe darstellen, sondern Leid verursachen. Kriminell wird es sogar, wenn Therapeuten bei den Betroffenen unnötige Ängste auslösen.
Zwangshandlungen zeigen ein magisches Muster: Handlungen ohne objektiven Sinn führen die Betroffenen nach striktem Ritual wiederholt aus. Unbewusst versuchen sie damit, Fantasien, Impulse oder Handlungen ungeschehen zu machen, die für sie mit Schuld besetzt sind.
Einfach gesagt: Wer sich ständig die Hände wäscht und unter einer autoritären Erziehung litt, wäscht sich damit rein von der Angst, für „Sünden“ bestraft zu werden.
Wer Zwangsstörungen behandelt, sollte zuerst Gedanken und Realität der Patienten trennen. Zwangsgestörte reagieren meist erleichtert, wenn sie begreifen, dass ihr Denken allein keine Folgen hat.
Für verschiedene Formen der Schizophrenie ist magisches Denken typisch. Die Betroffenen glauben, Gedanken würden ihnen von fremden Mächten eingeflüstert oder weggenommen. Diese Gedanken können sich in der schizophrenen Wahrnehmung ausdehnen, andere Menschen infizieren oder nach außen dringen, ohne dass die Betroffenen sie kontrollieren könnten.
Schizophrene entwickeln dabei ganze Wahnsysteme, in denen Hexen, Schwarzmagier oder böse Geister sie beeinflussen und verfolgen. Das Wirken dieser Geister erklärt den Schizophrenen dann ihre eigenen absonderlichen Handlungen: Neu konstruierte Worte, Verstummen, trockenes Auswürgen oder Erstarren.
Was sagt die Ethnologie?
Das magische Denken unterscheidet sich vom wissenschaftlichen Denken der Moderne darin, dass es die Welt durch ein allumfassendes Wirken von Geistern, Göttern und Dämonen erklärt.
Claude Lévi-Strauss sah aber im wesentlichen Punkt das gleiche Prinzip: Wissenschaft und traditionelle Systeme versuchen demnach die Welt nach einem universellen Verfahren zu ordnen.
So bildeten auch im „wilden Denken“ Gegensätze das Muster von Kategorien: Viel-wenig, Tier-Mensch, böser Geist- guter Geist. Die archaischen Weltbilder ließen sich ohne weiteres in jede moderne Sprache übersetzen.
Die Begriffe seien zwar unterschiedlich, doch die Struktur sei die gleiche. Gerade in der Computertechnik zeige sich heute die strukturale Logik der traditionellen Kulturen.
Der Unterschied liege hingegen darin, dass das wissenschaftliche Denken auf Empirie beruhe und vom Einzelnen auf das Ganze schließe. Das magische Denken hingegen habe keine direkte Beziehung zur Praxis, es suche nicht nach Beweisen, sondern baue eine Harmonie des Kosmos auf.
Das magische Denken kombiniere dabei die Dinge und Wesen der Umwelt nach assoziativen Mustern, die sich gut denken ließen. Es sei in Naturreligionen keineswegs unsystematisch, sondern klassifiziert – wie zum Beispiel die Taxonomie in der modernen Biologie. Diese Ordnung entstünde aber in immer neuen Kombinationen und gerade nicht als Folge von Abstraktion – vergleichbar vielleicht den Clustern, die Schriftsteller bilden, wenn sie ihre Story entwerfen.
Ein Loch entsteht zum Beispiel in einem Körper, wenn ein Mensch einen Speer hinein wirft. In der Traumzeit der Aborigines hat ein eindrucksvolles Loch in einem Felsen deshalb seinen Ursprung darin, dass dort ein Ahne einen Speer in ein Känguru warf. Oder: Der Adler landet auf der Erde und fliegt in die Luft, also verbindet er Himmel und Erde. Oder: Der Bär hat einen schweren Knochenbau und ist schwer zu verwunden. Also hilft die Medizin des Bärengeistes, Knochenbrüche zu heilen.
Das magische Denken, nicht nur bei Naturreligionen, sucht die Ganzheit, das wissenschaftliche Denken die Wahrheit. Die Wissenschaft versucht, ein einzelnes Geschehnis zu erklären, das magische Denken sucht den Platz des Geschehens im ganzheitlichen Zusammenhang. Das magische Denken sieht das unteilbare Ganze als Wirklichkeit, die Wissenschaft die teilbaren Dinge. Das magische Denken sieht eine Wirklichkeit hinter den Dingen, das wissenschaftliche Denken die Wirklichkeit in den Dingen. In der Wissenschaft ist das Universum die Summe aller Dinge – im magischen Denken sind die Dinge Ausdruck des Kosmos.
Das magische Denken vertraut der Überlieferung, den Ahnen, der Tradition. Das wissenschaftliche Denken überprüft Theorien und Traditionen auf ihre Gültigkeit. Das magische Denken sieht alle Erfahrungen als gleichwertig an, das wissenschaftliche Denken analysiert diese Erfahrungen. Das magische Denken konstruiert einen Zusammenhang, der den eigenen Werten entspricht; die Wissenschaft „konstruiert“ nach Experimenten wirkliche Zusammenhänge.
Das „wilde Denken“ ist, laut Levi-Strauss, dem wissenschaftlichen Denken sogar darin überlegen, den Menschen mit seiner Umwelt zu verknüpfen. Es setze kulturelle Beziehungen mit den Tieren, Pflanzen, Planeten, Gewässern und Steinen in Verbindung. Menschen in Kulturen, die dieses „wilde Denken“ praktizierten, wüssten sich als Teil einer kosmischen Ordnung.
Magisches Denken in der Therapie
In der Therapie kann ein solches Denken bisweilen Patienten nutzen, wenn es nämlich in einem Chaos in – und außerhalb seiner Psyche Ordnung schafft. Dabei darf es jedoch nie darum gehen, ihm vorzugaukeln, diese psychosozialen Konstruktionen als äußere Wirklichkeit darzustellen.
Märchen und Mythen bieten sich an, um Menschen mit zersplitterten Erinnerungen, Traumatisierungen und Chaos beim Gestalten des eigenen Lebens eine Erzählstruktur zu schaffen, von der aus sie Vertrauen in sich selbst wieder finden.
Dazu bieten sich therapeutisches Schreiben und therapeutisches Malen an. Die Verbindung zum analytischen Denken stellt der Therapeut her. Er ordnet die Assoziationen gemeinsam mit dem Patienten und erörtert mit ihnen, welche Bedeutung sie haben. Magisches Denken mit professioneller Begleitung kann also Heilungsprozesse fördern. (Dr. Utz Anhalt)
Internet
http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-423.html
Buchtipps:
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken .Aus d. amerik. Engl. v,. Thorsten Schmidt. Verlag: Siedler. ISBN: 9783886808861
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.