Der Begriff „Schamane“ stammt ursprünglich aus Sibirien und bezeichnet heute verschiedenste heilerische, rituelle oder religiöse Spezialisten, die als eine Art Vermittler zur Geisterwelt dienen. Darunter kann je nach Ethnie zum Beispiel ein Medizinmann verstanden werden oder ein Geisterbeschwörer. Je nach Kultur ist dieser Begriff ganz unterschiedlich definiert; daher umfasst der Schamanismus als Sammelbegriff viele verschiedene Arten schamanischer Praktiken wie zum Beispiel die Krafttierreise.
Inhaltsverzeichnis
„Schamane ist man durch die schamanische Betätigung, die man für sich und für andere ausführt. Ihre Erfahrungen sind echt und im Wesentlichen austauschbar zwischen allen schamanistischen Kulturen. Die schamanische Methode ist die gleiche: der menschliche Geist, Herz und Körper sind gleich; nur die Kulturen sind verschieden.“ Michael Harner
Schamane bezeichnet bei den Tungusten Frauen und Männer, die sich gezielt in veränderte Bewusstseinszustände begeben. Schamanismus umfasst Praktiken, Initiationsriten, Visionen, Seelenreisen und kontrollierte Trance. Schamanen werden in ihrer Gemeinschaft als „Medizinmänner“ angesehen, die in ekstatischen Reisen Kontakt mit geistigen Welten finden oder Geister in ihr „Ich“ integrieren. Sie sind Ärzte, Mystiker, Dichter, Naturforscher, Sozialarbeiter und Psychotherapeuten noch undifferenziert in einer Person – außerdem eine frühe Form des Philosophen, indem sie Erkenntnisse in einen Zusammenhang stellen.
Schamanismus entstand aus der rituellen Praxis der Jäger- und Sammler und ist somit die vermutlich älteste kulturelle Technik spiritueller Erfahrungen ebenso wie der Heilkunde. Schamanen gelten als die, die die Zeichen der Natur deuten, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit vermitteln. Krankheiten wie ausbleibende Beute haben in diesen Kulturen, die sich ebenso als Teil der Natur sehen wie die Natur als beseelt, ihren Ursprung im Verstoß gegen Regeln der (Natur-)Geister. Der Schamane schafft den Ausgleich zu diesen Geistern und stellt so die Harmonie wieder her.
Schamanen als Heiler und geistige Führer
Schamanen, der Überbegriff für Medizinmänner, Heiler, weise Alte und geistige Führer, schaffen Wissen über die „andere Welt“ und bringen dieses Wissen in die „diesseitige Welt“ ein.
Die christliche Bekehrung – auch mit Feuer und Schwert – und diejenige europäische „Wissenschaft“, die sich aus diesem Denken entwickelte, verachtet bis in die heutige Zeit Schamanismus als „Aberglauben von Primitiven“.
Diese Lehrer waren und sind jedoch die Psychotherapeuten ihrer Gesellschaften; im Kern schamanische Techniken finden Anwendung in Trauma-Aufarbeitungen, der Gestalttherapie, dem, was in der Psychologie Visualisierung heißt und finden sich in Volkshochschulkursen zu kreativem Schreiben, kreativem Malen, psychoaktivem Rollenspiel ebenso wie Traumanalyse. Brainstorming, also das direkte Wirken-Lassen von psychischen Bildern, Ideen und Gedanken, gehört zum Personalmanagement in jeder Firma, die innovativ sein will; es handelt sich um eine schamanische Praxis.
Platon und Herodot suchten Mysterientempel auf, schamanische Topoi finden sich beim germanischen Odin ebenso wie in Homers Odyssee. Die Elemente der schamanischen Reise sind erkennbar in der Archetypenlehre von C.G. Jung, und auch „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche lässt sich als Rückkehr des Philosophen zu seinen schamanischen Ursprüngen erklären.
Die schamanische Reise
Der Schamane lernt von Geistern, in Trance zu fallen, er fliegt mit Tiergeistern in andere Sphären, vom Himmel bis in die Unterwelt; dort magert er ab bis auf die Knochen, stirbt, wird wieder zusammengefügt und tritt in seine irdische Gemeinschaft ein – neu geboren und mit der Kraft, Krankheiten zu heilen wie Geister zu bekämpfen. Außerdem geht er auf die Jagd, hilft im Lager und organisiert den Haushalt. Die Geisterwelten sieht er nicht als von der Alltagswelt getrennt an, sondern als das Wesen hinter den Dingen. Deshalb gibt es im Schamanismus kein abstraktes Jenseits, das vom Diesseits fundamental getrennt wäre.
Reise in die Untwerwelt
Die Reise in die Unterwelt beginnt an einem realen oder imaginierten Eingang: Der „Reisende“ konzentriert sich auf ein Mauseloch, einen Bergstollen, einen hohlen Baum, eine Quelle, eine Höhle oder einen Teich. Die Reise in die obere Welt startet in einer Baumkrone, auf einem Berggipfel oder im Rauch, der aus einem Feuer zieht.
In schamanischen Kulturen glauben auch die übrigen Menschen an die Geisterwelten und sehen Träume als Kontakt mit Geistern an. Der Schamane jedoch sucht diese Zustände gezielt auf und ordnet die Erfahrungen der Anderen ein. Dazu helfen ihm Verbündete wie Krafttiere oder Hilfsgeister, die er in der verborgenen Wirklichkeit findet.
Schamanen bekommen im „schamanischen Bewusstsein“ Hinweise, wie sie Kranke heilen, verschwundene Gegenstände finden oder Nahrungsressourcen entdecken können. Sie verständigen sich mit den Geistern der Verstorbenen ebenso wie mit den Geistern der Tiere. Mit denen handeln sie aus, welche Tiere sie jagen dürfen, und was die Geister als Gegenleistung erwarten.
Ein Schamane versetzt sich also mit Hilfe von Trommeln, Tanz, halluzinogenen Substanzen, Konzentration, Entzug von äußeren Reizen, körperlichen Qualen oder Fasten in einen Zustand, der klarer ist als ein Schlaftraum. Dieser Zustand kann übrigens auch spontan einsetzen, zum Beispiel, wenn uns bei einer Pause während einer Bergwanderung kurz die Augen zufallen, bei langen Autofahrten oder auf Konzerten.
Eine Reise in die „Unterwelt“ beginnt also damit, sich einen Eingang in das „Unten“ zu suchen, ein Loch im Boden, eine Spalte im Berg oder einen Riss im Gestein. Der Schamane konzentriert sich darauf, in diese Öffnung hineinzugehen. Wenn dieses geistige Hineingehen funktioniert, sieht er etwas wie einen Tunnel, um in eine Art Höhle zu gelangen. In dieser befindet sich eine unterirdische Landschaft, belebt von fremdartigen Tieren und Pflanzen, seltsamen Gebäuden – eine Welt, die zwar begreifbar, aber dennoch ganz anders ist als die „mittlere Welt“, die Alltagswelt.
Was in der Alltagswelt widersinnig erscheint, ist in der unteren Welt normal: Zum Beispiel können Tiere reden, sonst kleine Pflanzen und Pilze sind größer als ein Mensch. Tiere verwandeln sich in andere Tiere, Menschen in Tiere und Pflanzen. Märchenhafte Umsetzungen dieser Reise in die untere Welt sind Aladins Wunderlampe, in der Aladin Schätze im Inneren eines Berges findet, und Alice im Wunderland, wo die schlafende Alice durch einen Kaninchenbau in die Traumwelt reist.
Ein sprechendes weißes Kaninchen führt Alice in das Wunderland. In schamanischen Kulturen reist das „Andere Ich“ in Tiergestalt oder mit Hilfsgeistern als Begleiter. Im Regenwald Südamerikas, wo die Menschen keine Kaninchen kennen, wäre es vielleicht ein Aguti, ein dem Meerschweinchen verwandtes Nagetier. Alice fällt während eines Picknicks in einen Traum und die Welt verändert sich – einem griechischen Ziegenhirten der Antike wären in einem solchen „Halbschlaf“ vermutlich Satyre begegnet, Wesen halb Mensch, halb Ziegenbock.
Das Träumen, die Traumzeit, steht bei den Aborigines Australiens am Beginn der Welt. Der Schöpfer modellierte aus der Urmaterie die festen Formen von Himmel, Erde und Meer, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Schöpfergötter und Ahnen wachen über die jetzige Welt. Die schamanische Reise geht den Weg zwischen diesen Welten, der Welt der Menschen und der Welt der Geister in einer kontrollierten Ekstase.
Schamanen kommunizieren in ihrer Vorstellung mit den Geistern und brauchen deren Beistand. Nicht nur der Ort, sondern auch die Zeit öffnet ihnen den Weg. Ihre Rituale finden deshalb oft nachts statt, in der Dunkelheit, wenn die Geister auf die Welt kommen. Mitternacht, die Geisterstunde, Walpurgis, die Nacht, wenn der Frühling den Winter ablöst, die Winter- und Sommersonnenwende sind solche Schwellenzeiten, die den Geistern den Weg in die Welt der Menschen ermöglichen.
Reise in die Oberwelt
Wie der Rauch aus dem Loch in der Decke zieht, steigt die Seele des Schamanen durch dieses Rauchloch in die obere Welt. In den schamanischen Zustand, die Ekstase, muss er geraten, um seine leibliche Existenz transzendieren zu können. Der wichtigste Weg in diesen Zustand sind nicht halluzinogene Substanzen. Fliegenpilz, die Liane Ayahuasca, der Peyotl-Kaktus mit dem Alkaloid Mescalin, Stechapfel, Tabakrauch, Wacholder, Salbei, Rosmarin oder Rauschbeere gelten zwar als Lehrerpflanzen und als Wohnort von Geistern. Sie haben aber nicht die Bedeutung im schamanischen Ritual, die Hippies oder Goa-Techno-Jünger vermuten. Etliche Schamanen lehnen diese Mittel bewusst ab und geraten in ihren Zustand allein durch Konzentration.
Die Reise in die Geisterwelt ist der Kern der Erkenntnissuche, in der der Schamane seine Rolle als geistiger Führer und gesellschaftlicher Gestalter einnimmt. Er begibt sich dazu in einen veränderten Bewusstseinszustand und taucht in eine vorgestellte Welt ein. Die Veränderung der Wahrnehmung belegte der russische Ethnologe Vladimir Bogoraz in seiner Studie über die Tschuktschen: „Die Illusion war derart stark, dass ich unwillkürlich in die Luft griff, um die sprechende Person zu greifen. Die Töne beginnen irgendwo weit in der Höhe, sie nähern sich allmählich, dringen durch die Wände wie ein Sturm, versinken in der Erde, in deren Tiefen sie verstummen. Es ertönen die verschiedensten Stimmen, Tier- und Vogelstimmen, Fliegengesumm.“
Das magische Theater des Schamanen ist keine Täuschung. Scharlatane gibt es; dem Publikum sind die Tricks aber bewusst. Sinnestäuschungen durch optische Illusionen, Schall und Rauch im Wortsinne dienen dazu, den Zugang in die andere Welt zu demonstrieren, wie Fotos eine Reise dokumentieren, ohne selbst diese Reise zu sein.
Die Effekte sind kalkuliert, um das Vertrauen der Teilnehmer zu stärken. Die Trommeln schlagen schneller und härter, wenn der Schamane seine „Flügel“ bewegt, um in die Geisterwelt zu fliegen. Sein Tanz wird wilder und geht in einen Wirbel über. Dann bricht der Schamane zusammen, stiert in die Luft, scheint zu schlafen oder scheint „neben sich“ zu stehen. Er summt in einem gleichförmigen Singsang oder fällt in Bewusstlosigkeit.
In diesen Zuständen, so glauben er und das Publikum, befindet sich sein anderes Ego in der Geisterwelt. Im Maskentänzer zeigt sich der Ahne, der Stein verwandelt sich in einen Geist. Die Tänzer der Hopis wissen, dass ihre Kajina-Kostüme nicht die Geister sind; aber die Geister kommen durch ihre Darstellung in die Welt. Der Tanz der Berggeister der White-Mountain-Apache ruft die Berggeister.
Die Ritualtechniken können auch Schlafträume umfassen, hin zu einer aktiven Arbeit an den Symbolen, die in diesem Traum auftreten. Die meisten animistischen Kulturen interpretieren die Bilderwelten als Auftreten von Geistern, die genauso real sind wie lebende Menschen oder Tiere. Die Elemente der schamanischen Reise, der Eingang durch einen Tunnel in eine andere Welt scheinen der menschlichen Psyche zu entsprechen. Dafür spricht erstens, dass Kulturen, die über zehntausende von Jahren keinen Kontakt hatten, die gleichen Techniken entwickelten, und zweitens, dass schamanische Bilder in der Kunst von psychisch Kranken wie Schizophrenen und Manikern auftreten.
Das Schamanentum stellt sich zwei Wirklichkeiten vor, wobei Gesellschaften wie die Jivaros am Amazonas der verborgenen größere Bedeutung zumessen. Im Unterschied zum Nachttraum erinnert sich der Schamane jedoch vollständig an seine Erfahrung, wenn er in den Alltag zurückkehrt. Es handelt sich also nicht um Halluzinationen, sondern um ein mentales Erlebnis, das sich dem Schamanen verkörperlicht. Im Unterschied zum Schlaftraum nimmt er aber seine Umwelt genau wahr. Das Trommeln als zentrales Element ruft Veränderungen im zentralen Nervensystem hervor. Ein Frequenzbereich von vier bis sieben Hertz pro Sekunde gilt als besonders geeignet für die leichten Trancezustände, die diese Erfahrungen ermöglichen.
Den Schamanen als jemand zu betrachten, der sich in einem Dämmerzustand befindet und Wirklichkeit von Fantasie nicht unterscheiden kann, ist die Fehlinterpretation einer modernen europäischen Arroganz. Genauso ließen sich zum Beispiel Edgar Allan Poes Geschichten als kranke Fantasien eines Drogensüchtigen auslegen – und exakt das taten seine Feinde auch.
Ein Schamane ist eben nicht jemand, der hilflos seinen „inneren Dämonen“ ausgesetzt ist, sondern gerade derjenige in seiner Kultur, der mit diesen „Fantasien“ umzugehen weiß, sie einordnet und sinnvolle Erkenntnisse aus scheinbar sinnlosen Bilderwelten gewinnt. Geschehnisse, die durch Raum und Zeit getrennt sind, passieren gleichzeitig. Die Welt ist im Wortsinne ver-rückt. In der Traumwirklichkeit findet der Schamane sein Krafttier, seinen Schutzgeist, der die Quintessenz der Eigenschaften einer bestimmten Tierart darstellt. Hat er dies gefunden, reist er in dessen Begleitung durch die unsichtbare Welt – oft reist seine Seele selbst in Gestalt eines Tieres.
Eine erfolgreiche schamanische Reise endet damit, dass der Reisende in die Normalwelt, in seinen Körper, zurückkehrt. Dort ordnet er seine Erlebnisse ein und zieht Schlüsse für Lebensfragen daraus, die er sich zuvor gestellt hatte. Das Erwachen aus dem Schlaf oder das Abklingen eines Drogenrausches, der Kater nach einer durchzechten Nacht ist vergleichbar. Die schamanische Reise ist aber eine bewusste und kontrollierte Ekstase, die das Chaos, den Rausch, gestaltet.
Alice im Wunderland und die Reise des Schamanen
„Ich habe keine Lust Verrückte zu besuchen”, wandte Alice ein.
„Oh, das lässt sich nicht vermeiden!”
Die Katze grinste.
„Hierzulande ist jeder verrückt. Ich bin verrückt. Auch du bist verrückt.”
„Woher weißt du, dass ich verrückt bin?”
„Sonst wärst du nicht hier”, antwortete die Katze.
Alice im Wunderland erschien im Original 1865, im viktorianischen England. Der Autor, Lewis Carroll, war im bürgerlichen Leben Mathematiker. Die Reise eines kleinen Mädchens in eine fantastische Welt ist bis heute ein ganz großer Kinderbuchklassiker, ausgiebig von Literaturwissenschaftlern untersucht und sogar Namensgeber für ein psychisches Phänomen, das „Alice im Wunderland-Syndrom“. Dies bezeichnet eine Wahrnehmungsverschiebung, in der die Betroffenen die Größe von Gegenständen, Menschen und Tieren verzerrt wahrnehmen.
Die Hippies der 1970er Jahre sahen in der Geschichte von Alice die Beschreibung eines Drogentrips – Alice nimmt Flüssigkeiten und Kekse zu sich, während sie sich im Wunderland aufhält. Und halluzinogene Pilze, Haschkekse oder Tränke mit Mescalin-Extrakten sind als Zaubermittel im wahrsten Sinne bekannt, auch als Vorbilder für viele Märchen.
Zum Beispiel könnte sich im Rumpelstilzchen, dem kleinen Männchen, das blitzartig erscheint und wieder verschwindet, der Fliegenpilz verbergen und der Flashback des „Trips“. Trip bedeutet Reise, und dass es sich beim LSD-Trip nicht um eine Reise von Hannover nach Berlin handelt, dürfte auch den Hippies klar gewesen sein, zumindest, solange sie nicht auf einem solchen Trip hängengeblieben waren. Märchen dienen dazu, in bildlicher Form Einsichten zu vermitteln und sind damit dem Mythos vergleichbar, der Dichtung, der Sage.
Das Mädchen Alice sieht während eines Picknicks ein weißes Kaninchen, das mit einer Uhr zu seinem Bau läuft. Alice folgt dem Kaninchen und kommt in einen schier endlosen Tunnel, in dem sie nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Schließlich kommt sie am Ende dieses Tunnels in eine Welt, die so ganz anders ist als die Alltagswelt: Ein Hase fragt Alice, ob es das Gleiche ist, wenn man sagt: „ich sehe alles, was ich esse“ und „ich esse alles, was ich sehe“, die Grinsekatze besteht nur noch aus ihrem Grinsen. Mini-Tiere bewegen sich in einem Meer, das aus Alice‘ Tränen besteht, ein Baby verwandelt sich in ein Schwein. Sie nimmt an einem Croquet-Spiel teil und an einer widersinnigen Tee-Gesellschaft. Die Teilnehmer des Croquet-Spiels sind Spielkarten, die „Menschen“ werden. In diesem Land ist eben jeder verrückt, wie die Katze sagt – ver-rückt von der Alltagswirklichkeit ließe sich hinzufügen.
Ist Alice allerdings verrückt im Sinne von irrsinnig, ist sie ein bedauernswertes Mädchen, das sich in Wahnvorstellungen verstrickt? Das Gegenteil ist der Fall: Alice begegnet den Widersinnigkeiten des Wunderlandes unvoreingenommen und findet einen Weg, sich in der dortigen Unlogik zurechtzufinden. Das kann sie aber nur, weil sie nicht von Anfang an sagt „das gibt es gar nicht“, sondern weil sie sich auf das Wunderland einlässt, einlässt auf eine Welt, die nicht aus den Gesetzen der Folgerichtigkeit besteht. Deshalb kann sie in dieser Welt reisen und aus ihr zurückkehren. Sie kehrt ja zurück: Alice landet nicht in der Psychiatrie oder springt während eines psychotischen Schubs aus dem Fenster, sondern erwacht unter einem Baum, dort, wo ihre Reise mit dem Picknick ihrer Schwester begonnen hatte.
Die eigene Kultur und die Urmuster
In der verrückten Welt des Wunderlandes begegnen Alice diverse Figuren, die das viktorianische England widerspiegeln und zugleich Urmuster darstellen: Die bösartige Königin, die jedem den Kopf abschlagen will, also Gewalt einsetzt, gegen das, was sie nicht versteht, ist eine Variation der bösen Hexe, die sich in unzähligen Märchen findet und letztlich durch List und Tücke besiegt wird. Das Urmuster dieser bösen Hexe, wie zum Beispiel der russischen Baba Yaga, sind die alles gebärenden und alles verschlingenden Lebens- und Todesgöttinnen der alten Kulturen wie die indische Kali. Die Grinsekatze hat ihr Vorbild im Trickster, dem Scharlatan der Mythologie. Das Croquet-Spiel und die Tee-Gesellschaft spiegeln die englische Kultur, in der Carroll lebte.
Das alles gilt auch für Schamanen. Ihre Begegnungen in der geistigen Welt, die für sie wie für jeden ernstzunehmenden Therapeuten, Künstler, Schriftsteller oder Geisteswissenschaftler, viel mehr ist als „nur“ Fantasie, sind kulturspezifische Varianten archetypischer Bilderwelten. Diese Urmuster sind dabei aber nur das Koordinatensystem subjektiver Erfahrungen, einer Story, die jedes Mal und bei jedem Menschen anders ist.
Innere und äußere Wirklichkeit
Eine schamanische Reise ist eine von der eigenen Person her urteilende Auseinandersetzung mit der nichtmenschlichen Umwelt, die derjenige, der sie macht, anderen nur erzählen kann, weil er, wie in jedem Traum, der einzige ist, der sie in dieser Form erlebt. Zugleich gibt es übergreifende Deutungsmuster. Der Ort, an dem Alice die Reise beginnt, ist eben die nichtmenschliche Umwelt – sie befindet sich in der Natur, das Medium ist ein Kaninchen, ein Lebewesen, das aber kein Mensch ist.
Eine schamanische Reise bedeutet, Lebensfragen bildhaft und körperhaft wirkend zu durchleben und sinnvolle Antworten auf diese Fragen zu finden. Dabei verbinden sich Erfahrungen in der Alltagswelt mit den inneren Bildern, die in jedem Menschen ein Eigenleben führen. Diese Traumbilder „nur als Träume“ anzusehen, versperrt den Weg zu entscheidenden Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis, sogar zu deren stammesgeschichtlicher Wurzel: Auch Tiere träumen, und heute geht die Biologie davon aus, dass Träume Überlebenstechniken trainieren; die Katze jagt im Schlaf, der Hund rennt.
Die innere Welt, die Welt der Träume, des Unbewussten, eben das Wunderland, verschmilzt Raum und Zeit, oben und unten, Logik und Unlogik – zugleich vermittelt sie dem einzelnen Menschen Orientierung in seinem Leben und auch in der materiellen Welt. Es hilft einem Kind, das von Monstern träumt, nicht, zu sagen, diese Monster gibt es nicht, wenn es diese Monster jede Nacht für dieses Kind sehr wohl gibt, und es Angst davor hat. Sicherheit wird dieses Kind aber gewinnen, wenn es lernt, mit den Monstern umzugehen und die Angst vor ihnen verliert. Die Monster verweisen auf den Kern seiner Angst. Sie sind Sinnbilder für einen geistigen Sachverhalt.
Normalität und Verrücktheit
Das Aufeinandertreffen von Geschehnissen in der Außenwelt und den subjektiven Bedürfnissen eines Menschen ohne Folgerichtigkeit, nennt C.G. Jung Synchronizität. Und die Erfahrung in der Welt, in der Kultur, der Gesellschaft, auch in der Natur, ist zum allergrößten Teil von uns als Individuen nicht kontrollierbar und erscheint allzu oft widersinnig oder absurd. Diese Logik des Widersinns zeigt uns Carroll mit viel Witz und fast philosophischer Ironie: Wer im Land der Verrückten ist, ist selbst verrückt. Das ist eben logisch. Verrückt zu sein, bedeutet, von der Norm zu verrücken. Die Norm ist aber keine absolute Wahrheit, sondern die als verbindlich geltende Regel. Wo Verrücktsein die Regel ist, ist diese Regel eben normal.
Carrolls Lebzeit fällt in die Frühphase der Psychiatrie. In die damaligen „Irrenhäuser“ kamen all diejenigen, die den Normen des viktorianischen Englands nicht entsprachen. Diese Normen allerdings erscheinen heutigen aufgeklärten Menschen als absurd, insbesondere im Bereich der Sexualität und bestimmten starren Ritualen wie zum Beispiel der Tee-Gesellschaft. Wer heute mit gestärktem Hemd und Zylinder bei Eltern einer Zwanzigjährigen klopfen und sie gnädigst bitten würde, ob er mit ihrer Tocher ausgehen dürfe, gälte wohl als etwas verrückt. Die allgemeinen Regeln sind heute andere, und wo alle verrückt sind, ist das Verrücktsein Regel.
Der Schamane Lewis Carroll?
Lewis Carroll lässt sich gewissermaßen als Schamane bezeichnen. Er war in der Alltagswirklichkeit Mathematiker, also jemand, der die reale Welt untersucht, die Welt, die außerhalb unseres Bewusstseins und vollkommen unabhängig von unserem Bewusstsein besteht. Alice im Wunderland zeigt hingegen eine Welt, die innerhalb unseres Bewusstseins besteht, beziehungsweise in dem, was die Psychologie als das Unbewusste bezeichnet. Die Geschehnisse in dieser Welt sind verrückt von den Gesetzen der Naturwissenschaft.
Ein Schamane ist gerade kein Irrsinniger, der hilflos den Dämonen seiner Innenwelt ausgeliefert ist, sondern ein Mittler zwischen den verschiedenen Welten. Er weiß genau, dass das Geistkaninchen, das mit ihm in die Unterwelt reist, nicht das Kaninchen ist, das er gerade gejagt hat und zum Abendbrot verspeist. Und genauso würde ein Mathematiker über ein Bild von Dali wenig aussagen, wenn er die Maße der Leinwand berechnet, auf denen dieses gemalt ist. Lewis Carroll schienen diese unterschiedlichen Welten sehr bewusst zu sein.
Plastik-Schamanen
Literarische Fälschungen wie Carlos Castanedas „Die Lehren des Don Juan: Ein Yaqui-Weg des Wissens“ oder Lynn Andrews‘ „Medicine Woman“ stehen seit den 1970er Jahren für eine Welle von „Plastik-Schamanen“, die angeblich indianisches Geheimwissen für eine vom Spätkapitalismus frustrierte Leserschaft kommerzialisieren. Indianer mit Federschmuck, vom Vollmond beschienen und von einem Wolf begleitet, stehen Pate für „geheimes Wissen indianischer Schamanen“, das sich eine New Age Community aneignen möchte. Wirkliche indianische Lehrer wie Vine Deloria griffen diese Scharlatane massiv an – ebenso Aktivisten des American Indian Movement wie Russell Means.
Deloria sagte: „Weiße Menschen in diesem Land sind so entfremdet von ihren eigenen Leben und so hungrig nach einem echten Leben, dass sie nach jedem Strohhalm greifen, um sich selbst zu schützen. Dabei sind sie so geprägt auf den schnellen Kick, dass sie ihre Spiritualität vorverpackt haben wollen, je sensationeller umso besser. Sie zahlen eine Menge Dollar an jeden, der unehrlich genug ist, um ihnen spirituelle Erlösung zu versprechen, nachdem sie das richtige Buch gelesen haben oder in der richtigen Fünfzehn-Minuten-Session saßen.“
Oren Lyons, ein traditioneller Chief der Onondaga, sieht das Problem noch tiefer: „Nicht-Indianer haben sich an diese Lügner so gewöhnt, dass sie ablehnen, wenn ein wirklicher indianischer geistiger Lehrer ihnen nützliche Ratschläge anbietet. Er ist nicht „indianisch“ genug für alle diese nicht-indianischen Experten in indianischer Religion. Das degradiert nicht nur indianische Menschen, sondern entblößt auch die „instant experts“, die denken, sie haben alle Antworten, bevor sie auch nur die Fragen gehört haben.“
Lyons sieht ein massives Problem darin, dass „interkultureller Respekt heute wichtiger ist als je zuvor in der menschlichen Geschichte. Und nichts versperrt Respekt schneller und effektiver als falsche Vorstellungen einer Partei über die andere. Wir haben existentielle Probleme, die das Überleben auf dem Planeten bedrohen. Indianer und Nicht-Indianer müssen diese Probleme gemeinsam angehen, und das bedeutet, wir müssen einen ehrlichen Dialog führen, aber dieser Dialog ist unmöglich, so lange Nicht-Indianer falsche Vorstellungen haben über Dinge, die so fundamental sind wie indianische Spiritualität.“
Janet McCloud, eine Älteste der Tulalip Nation sagte: „Zuerst kamen sie, um unser Land und unser Wasser zu nehmen, dann unseren Fisch und unser Wild. Dann wollten sie unsere Mineralien, und versuchten, unsere Regierungen zu übernehmen, um sie zu bekommen. Jetzt wollen sie auch unsere Religion. Leider gibt es eine Menge skrupellose Idioten, die herumlaufen und sagen, sie sind Medizinmänner. Und sie verkaufen eine Schwitzhütten-Zeremonie für fünfzig Dollar. Es ist nicht nur falsch, sondern obszön. Indianer verkaufen ihre Spiritualität nicht, für keinen Preis. Das ist nur ein weiterer in einer langen Serie von Diebstählen, und, auf eine bestimmte Weise, ist er der schlimmste.“
Mc Cloud fährt fort: „Diese Leute kommen in die Reservate und treffen bisweilen einen spirituellen Lehrer, der so freundlich ist, mit ihnen zu reden, zu freundlich für sie. Nach fünfzehn Minuten mit diesem Lehrer laufen sie Amok und nennen sich „certified medicine people“ oder behaupten gar, spirituelle Vertreter von indianischen Menschen zu sein. (…) Es gibt sogar Indianer, die das tun, wie Sun Bear oder Wallace Black Elk, die sogar ihre eigene Mutter verkaufen würden, wenn sie damit Geld machen könnten. Was sie verkaufen, ist nicht ihrs, was sie verkaufen könnten, und sie wissen es. Sie sind Diebe und Ausverkäufer, und sie wissen das auch. Deshalb sieht man sie auch nicht mehr zwischen indianischen Menschen. Wenn wir unsere traditionellen Treffen abhalten, sieht man nie die Sun Bears und diese Sorte Aufschneider.“
Matthew King, ein spiritueller Lehrer der Lakota sagte: „Jeder Teil unserer Religion hat ihre Macht und ihren Sinn. Jede Kultur hat ihre eigenen Wege. Du kannst diese Wege nicht zusammen mischen, weil diese Wege jeweils ausbalanciert sind. Die Balance zu zerstören, ist respektlos und sehr gefährlich. Deshalb ist es verboten.“
Er fährt fort: „Diese Dinge müssen gelernt werden, und das Lernen ist sehr schwierig. Deshalb gibt es nur sehr wenige wirkliche „Medizinmänner“ zwischen uns; nur einige wenige sind ausgewählt. Für jemanden, der nicht gelernt hat, wie unsere Balance ausgerichtet ist, ist es sehr, sehr gefährlich, sich als Medizinmann zu versuchen.“
Die Northern Cheyenne Nation gab 1980 einen Leitfaden heraus, um Scharlatane zu erkennen:
1) Welche indigene Nation repräsentiert diese Person?
2) Zu welchem Clan und welcher Gesellschaft gehört sie?
3) Wer lehrte sie?
4) Was ist ihre Heimadresse?
Neoschamanismus
Schamanische Techniken zu adaptieren, ist jedoch nicht notwendig kultureller Diebstahl oder Scharlatanerie. Der amerikanische Anthropologe Michael Harner lernte bei Indianern Nord-und Südamerikas schamanische Praktiken, erkannte ähnliche Techniken und Ergebnisse bei anderen Kulturen und entwickelte den Kern-Schamanismus, der nicht behauptet, „indianische Weisheiten“ zu vermitteln, sondern Methoden anwendet, die von Kultur und Religion unabhängig wirken: Trommeln, um in den Zustand der Trance zu gelangen, Einführung in die untere Welt, Reise in die obere Welt oder Krafttiersuche. Die an Harner orientierte Foundation for Shamanic Studies ist das wichtigste Zentrum des Neoschamanismus.
Das postmoderne Lebensgefühl kombiniert und setzt neu zusammen; deshalb passt es gut zu den hybriden Geistern und vielfältigen Erfahrungen des Schamanentums. Beiden ist Dogma und Doktrin notwendig fremd, und jeder Schamane bereist seinen eigenen Kosmos.
Während die frühen Ethnologen die schamanische Trance als Geisteskrankheit abwerteten, verfallen westliche Esoteriker in das Gegenteil: Sie lehnen wissenschaftliche Erklärungen ab und sehen die sinnlichen als übernatürliche Erfahrungen an. Damit ignorieren sie, dass Schamanen in schamanischen Kulturen auf ein empirisches Wissen über Heilpflanzen zurückgreifen, das über Jahrhunderte überliefert wurde, und auch in der „geistigen Welt“ systematisch „wissenschaftlich“ vorgehen. Zudem sind sie auch die „Schulmediziner“ ihrer Gesellschaften: Sie schienen Knochenbrüche, verbinden Wunden und nehmen chirugische Eingriffe vor.
Schamanische Erfahrungen lassen sich sehr gut wissenschaftlich erklären und medizinisch anwenden. Die schamanischen Reisen sind klar strukturiert; es handelt sich um symbolische Darstellungen, die in der jeweiligen Gesellschaft verstanden werden. Der Körper bildet Endorphine, die Euphorie, Amnesie und veränderte Bewusstseinszustände auslösen. Durch Tänze, Fasten und körperliche Belastungen, die Schamanen durchführen, werden diese Endorphine ausgeschüttet.
Schamanische Heilungen lassen sich wissenschaftlich als Inspirationen zur Selbstheilung erklären. Gedanken beeinflussen den Körper, und der Patient heilt sich dadurch, dass er seine Gedanken verändert, indem er zum Beispiel glaubt, dass ein schädlicher Geist aus seinem Körper verschwindet. Lévi-Strauss sah die Heilung hingegen auf der symbolischen Ebene: Der Schamane stellt dem Patienten demnach eine neue Sprache zur Verfügung; damit versteht der Betroffene die Ursachen der Krankheit, kann sie ausdrücken und umwandeln. Ein Schamane verhielte sich in diesem Sinne nicht anders als ein Psychotherapeut – insbesondere in der Gesprächstherapie.
Ein schamanischer Patient spricht mittels eines Spezialisten zu den „Geistern“ der Ahnen und Tiere; ein Patient in der Psychoanalyse mittels eines Spezialisten zu nicht anwesenden Personen. Der Unterschied zwischen einem Patienten in der Psychoanalyse, der einen Konflikt mit seinem verstorbenen Vater durcharbeitet, und einem Schamanen, der mit den Geistern der Toten verhandelt, ist lediglich der kulturelle Kontext.
Heutige Traumtherapien arbeiten fast deckungsgleich mit Schamanen. Der Therapeut schließt von Träumen des Patienten auf dessen Probleme: Deutet ein Tier, das im Kopf des Betroffenen lebt, auf einen Gehirntumor? Oder auf ein psychisches Problem, das ihm „Kopfschmerzen“ bereitet? Der Schamane sieht solche Traumbilder zwar als Wirklichkeiten der Geisterwelt, handelt aber ähnlich. Er fragt nämlich nach den Geschehnissen im Alltag, die diese Geister auf den Plan rufen. Mit anderen Begriffen interpretiert auch er die Geister auf einer symbolischen Ebene und übersetzt diese auf die alltägliche Ebene.
Der schamanische Kosmos aus oberer, mittlerer und unterer Welt entspricht zudem ziemlich genau der Freudschen Trennung zwischen Über-Ich, Ich und Es, aber auch den beiden Systemen unseres Gehirns, dem langsamen, deduktiven und dem schnellem, intuitiven Denken. Auf den Feldern des Unbewussten, des Unterbewussten, des Vorbewussten, des Bewussten und des Überbewussten reist der Schamane und weiß dabei, auf welcher Ebene er sich bewegt. Der Schamane setzt dabei Intuition, Imagination und Inspiration als Mittel der Erkenntnis ein.
Vom klassischen Psychoanalytiker unterscheidet ihn, dass er den Patienten nicht von außen betrachtet, sondern in dessen Krankheitsprozess hineingeht, dabei aber die rationale Kontrolle im Rucksack behält. Diese Methoden kennen wir heute aus psychoaktiven Rollenspielen, in denen Patient und Therapeut Imagos inszenieren, die der Patient als positives Bild seiner selbst entwickelt. Der Schamane fungiert also auch als Verhaltenstherapeut. Heutige psychologische Studien sehen die Veränderung der Gefühle des Patienten während einer schamanischen Heilung als entscheidend für den Genesungsprozess.
Das schamanische Weltbild fördert vermutlich dir psychosomatische Heilung von Krankheiten. Während in der modernen Medizin der Patient, ob Maniker, Borderliner oder Schizophrener, als kranke Persönlichkeit gilt, ist im Schamanismus die Krankheit etwas von außen in den Patienten Eingedrungenes. Damit wird der Betroffene integriert, denn nicht er ist krank, sondern etwas Anderes macht ihn krank. Zudem beteiligt sich an schamanischen Heilungen die Gemeinschaft; der Kranke wird nicht ausgegrenzt – das allein setzt vermutlich eine Genesung in Gang.
Der Schamanismus unterscheidet sich von der klassischen Psychoanalyse in einem wesentlichen Punkt: Er trennt den Menschen nicht von der Natur und das Individuum nicht von den Kräften des Universums. Der Mensch ist eine der vielen Formen des Lebens, gemeinsam mit Tieren, Pflanzen, Tiergeistern, Ahnen und den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Mit diesen steht er in lebendiger Wechselwirkung, und Krankheiten zeigen, dass die Harmonie gestört ist.
Ohne jede Mystik weiß auch die moderne Medizin, dass ungesunde Ernährung, bedrückende Arbeitsbedingungen, Sinnlosigkeit im Alltag und fehlender Zugang zur nichtmenschlichen Natur Krankheiten verursachen – ebenso begreift die Psychologie heute innere Bilder, also Einbildung, Eingebung und Empfindung, als Quellen der psychischen Gesundheit.
Ein Schamane ist hochsensibel, aber kein Maniker, ein Grenzgänger, aber kein Borderliner, ein Wanderer zwischen den Welten, aber kein Schizophrener. Er lebt am Rande des Abgrunds und kann gerade deshalb Gefährdete abhalten, hineinzustürzen. Er kennt diese Zustände und kann sie beim Erkrankten geraderücken.
Ein Schamane schafft Wissen über die Geisterwelt. Ersetzen wir Geisterwelten durch Geisteswelten, dann lässt sich der Beruf als Geisteswissenschaftler bezeichnen. Einen Weg zu finden, um sich in den Geistwelten zu Recht zu finden, ist die Aufgabe, die jeder Mensch zu meistern hat. (ua)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Vitebsky, Piers: Schamanismus. Reisen der Seele, Magische Kräfte, Ekstase und Heilung; Taschen, Köln, 2007
- Bulang, Esther: Spiritualität – Schamanismus – Psychotherapie; in: à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung, Vol. 5, Seite 19-22, 2019, ResearchGate
- Singh, Manvir: The cultural evolution of shamanism; in: Behavioral and Brain Sciences, Vol. 41, 2018, Cambridge University Press
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.