„Erinnerungen sind Daten gestützte Erfindungen.“ Hirnforscher Wolf Singer.
Unser Gehirn besteht aus Nervennetzen. Elektrische Reize stimulieren Nervenzellen, und die senden chemische Botschaften weiter. Je „ausgetretener“ diese „Pfade“ sind, desto sicherer stellt das Gehirn eine Verbindung her. Die Erfahrungen unseres Lebens lagern passiv im Speicher, bis unser Gehirn sie abruft. Erinnern aktiviert viele Nervenzellen gemeinsam; erinnern wir uns an einen Urlaub in unserer Kindheit, entsteht ein Muster im Gehirn. Die Telefonnummer eines alten Freundes, die Straße, in der wir aufwuchsen, ein Vorname, ein Foto – sie alle setzen Muster von Nervenzellen in Aktion. In einer Prüfung reicht dazu ein Stichwort.
Inhaltsverzeichnis
Definition
Wenn wir in einer fremden Kultur sind, suchen wir (unbewusst) nach Reizen, um solche Muster auf Tour zu bringen. Wer in eine neue Stadt zieht, glaubt in den ersten Monaten immer wieder, bekannte Menschen zu treffen: Blicke, Frisuren, Kleidung, all das setzt die Nerven in Gang. Wir brauchen diese Assoziationen, um uns in der Welt zu orientieren. Erinnerung selektiert also immer und grenzt zugleich aus.
Objektiv ist sie nie. Erinnert uns ein Mensch an jemand, mit dem wir schlechte Erfahrungen machten, weil er Stefan Schmidt heißt, hat der eine mit dem anderen in der äußeren Wirklichkeit nichts zu tun. Die Ureinwohner Amerikas heißen heute Indianer, weil Kolumbus glaubte, in Indien gelandet zu sein; die neue Welt erinnerte ihn an das, was er in Büchern über Indien gelesen hatte.
Vielerlei Erinnerung
Wir unterscheiden zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis liegt im Stirn- und Scheitellappen. Die dort gespeicherten Informationen verschwinden nach kurzer Zeit, wir vergessen sie, weil sie nicht mehr wichtig sind, und wir „Speicherplatz“ für neues brauchen. Einige der Informationen wandern ins Langzeitgedächtnis , das nicht beschränkt ist. Erinnerung ist das Werk beider Gedächtnisse.
Für das Langzeitgedächtnis arbeiten Schläfenlappen, limbisches System und Hippocampus zusammen. Im Langzeitgedächtnis rufen wir unseren Lebenslauf ab und wissen, wie wir die Steuererklärung ausfüllen.
Gedächtnis ist nicht gleich Gedächtnis. Wir haben ein Gedächtnis unserer Lebensgeschichte. Dort speichern wir Orte und Zeiten, die wir mit eigenen Erfahrungen verbinden. Dann gibt es das Faktengedächtnis. Hier speichern wir akademisches Wissen, das mit unserer Lebenserfahrung nichts zu tun haben muss. Drittens speichern wir Bewegungsabläufe: Fahrrad fahren, schwimmen oder einen Computer anstellen. Das vierte Gedächtnis bezeichnet man als „Priming“ – die improvisierte Erinnerung des Unbewussten. Ein neuer Reiz ähnelt lediglich einem uns bekannten.
„Priming“ ermöglicht uns, Unbekanntes einzuordnen und in neuen Situationen zu handeln. „Priming“ führt indessen schnell dazu, die Umwelt falsch einzuschätzen: Ein weißer Knollenblätterpilz erinnert an einen Champignon, ist jedoch giftig. Diese unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses sind derweil nicht strikt getrennt: Schwimmen, Rad fahren oder Texte formulieren werden erst dann unbewusst abrufbar, wenn wir sie trainieren.
Unsere Gefühle sind Motoren: Wir haben Angst vor einer Prüfung und erinnern uns an eine Matheklausur, die daneben ging; wir genießen eine warme Sommernacht und denken an eine lang zurück liegende Reise in die Karibik; im Cafe trifft uns ein strenger Blick unserer Tischnachbarin und erinnert uns daran, wie unsere Mutter schimpfte, weil wir als Teenager betrunken nach Hause kamen.
Vergesslichkeit
Alle Menschen sind vergesslich – bis zu einem gewissen Grad. Wir gehen in den Supermarkt, um Kaffee zu kaufen und kommen mit zwei Einkaufstüten zurück; den Kaffee aber haben wir vergessen. Vergessen ist, bis zu einem gewissen Grad, nicht krank, sondern sogar notwendig, und wenn wir uns erinnern, vergessen wir etwas anderes.
Der zum Klischee geronnene zerstreute Professor zum Beispiel hat so viele Nervenbahnen seines Wissensgedächtnisses aktiviert, dass er darüber den Alltag vergisst. Wir vergessen auch, weil neue Reize unsere Nerven aktivieren wie beim Beispiel des Supermarktes: Zu Hause, wenn wir müde sind, denken wir nur an den Kaffee; im Geschäft erwarten uns hundert andere Produkte, die wir ebenfalls mit positiven Assoziationen verbinden.
Verschlampen, verbummeln oder verschlafen sind „Tricks“ unseres Gehirns, um unangenehme Situationen zu vermeiden. Die Telefonrechnung bleibt im passiven Teil des Gedächtnisses abgespeichert, wir verdrängen ebenso bewusst wie unbewusst.
Gedächtnislücken sind auch eine Reaktion auf zu viele Reize: Das neue Smartphone einrichten, zwanzig Emails beantworten, und uns zugleich multimedial mit Bildern überfluten, führt dazu, dass wir unsere Tagesstruktur vergessen. Resümee zu ziehen, was uns wirklich wichtig ist, und die Reize zu kontrollieren, hilft – zum Beispiel, indem wir zwei Tage in der Woche das Internet nicht anschalten.
„Schusseligkeit“ kennt also jeder, und sie hängt davon ab, was unser Gehirn als wichtig abspeichert. Gerade alte Menschen sind nicht unbedingt krank, weil sie Dinge des Alltags vergessen. Die „trainierten“ Bahnen ihres Gehirns entsprechen oft nicht mehr ihrer Umwelt, und sie müssen ihr improvisiertes Gedächtnis häufiger einsetzen als die Jungen, die in einer veränderten Gesellschaft aufwuchsen.
Eine Studie an der Universität Berkeley ergab, warum alte Menschen generell öfter unter Gedächtnislücken leiden als junge. Ihr Gehirn blendet unwichtige Informationen nicht aus. Die Forscher stellten jeweils einer Gruppe von 60 bis 77jährigen und 19-30 jährigen die Aufgabe, sich aus einer Serie von vier Bildern entweder zwei Gesichter oder zwei Landschaften zu merken. Ein Kernspintomograf zeigte, wie die Gehirne arbeiteten.
Die Jungen verminderten ihre Gehirnaktivität, die Gesichter speichert, wenn sie sich auf Landschaften konzentrierten – und umgekehrt. Zehn der sechzehn „alten Gehirne“ arbeiteten zu beiden Themen. Je mehr die Gehirne der Alten auf die unwichtigen Reize reagierten, umso weniger erinnerten sich die Probanden. Warum sechs der Senioren sich allerdings konzentrieren konnten, belegte das Experiment nicht.
Gedächtnisverlust nimmt unterschiedliche Formen an. Bei der retrograden Amnesie vergisst der Betroffene die Zeit vor einem bestimmten Ereignis, zum Beispiel vor einem Hausbrand. Bei der anterograden Amnesie vergisst er hingegen neue Erlebnisse; bei der kongraden Amnesie verliert er das Gedächtnis an ein bestimmtes Geschehnis. Oft ist hier ein Trauma die Ursache – das Gehirn verdrängt das Geschehnis. Beim amnestischen Syndrom funktioniert zwar das Alltags- nicht jedoch das Langzeitgedächtnis.
Die Amnesie
Amnesie bedeutet Gedächtnisverlust. Erinnerungen sind nicht mehr zugänglich, allerdings bleiben die Teile des Gehirns, die Handlungsabläufe speichern, in der Regel unberührt. Warmwasser anzustellen, funktioniert, doch das eigene Leben zu erinnern, fällt schwer.
Die vorwärts wirkende Amnesie tritt häufig auf. Der Geschädigte kommt zwar im Hier und Jetzt klar, kann aber neue Informationen nicht abspeichern und gespeicherte Informationen nicht abrufen. Die rückwirkende Amnesie führt dazu, dass der Betroffene sich nicht mehr daran erinnert, was vor seinem Hirnschaden passierte. Die Erinnerung kommt zwar bisweilen wieder, sie bleibt aber lückenhaft.
Die schlimmste der Amnesien ist die globale. Der Patient verliert erstens sein Langzeitgedächtnis, selbst Erinnerungen aus seiner Kindheit sind ihm nicht mehr zugänglich; zweitens nimmt er keine neuen Informationen auf. Unversehrt bleiben lediglich die abgespeicherten Prozesse: Der so Beeinträchtigte könnte zwar einen Nagel in die Wand schlagen, um ein Bild von seinen Eltern aufzuhängen, wüsste aber nicht, dass es seine Eltern sind. Eine solche globale Amnesie ist weder heilbar noch rückgängig zu machen.
Eine globale Amnesie kann auch vorüber gehen. Wir sprechen dann von einer transienten globalen Amnesie oder episodischer Amnesie. Sie setzt meist plötzlich ein und dauert nur wenige Stunden. In dieser Zeit fehlen dem Betroffenen die alten Gedächtnisinhalte wie bei der retrograden Amnesie. Neue Informationen vergisst er außerdem – in maximal drei Minuten. Dabei kann er erlernte Fertigkeiten weiter ausführen. Solche vorüber gehenden Amnesien treten nach einer akuten Belastung auf – sei es körperlich oder emotional. Streit mit dem Partner oder der Tod eines vertrauten Menschen lösen diesen Gedächtnisverlust ebenso aus wie ein Sprung ins eiskalte Wasser oder sexuelle Ekstase. 85 % der Betroffenen sind über 60 Jahre.
Eine vorübergehende globale Amnesie lässt sich daran erkennen, dass der Betroffene immer wieder die gleichen Fragen stellt, dabei aber „er selbst“ bleibt. Wenn sich hingegen seine Persönlichkeit verändert, er schläfrig oder hyperaktiv erscheint, spricht das gegen diese Form von Gedächtnisverlust. War der Betroffene zuvor traumatisiert, leidet er an klinischer Depression oder Epilepsie oder missbraucht er Drogen, dann ist eine vorüber gehende Amnesie ebenfalls unwahrscheinlich. Ursache ist ein Blutstau im Gehirn, der Schläfenlappen bekommt nicht genug Sauerstoff und kann nicht arbeiten; ist dieser Blutstau gelöst, funktioniert das Gehirn wieder normal. Die vorüber gehende Amnesie ist relativ „harmlos“. Die Erinnerung kehrt nämlich von selbst wieder, und es gibt auch keine Langzeitschäden.
Die kongrade Amnesie löscht nur die Erinnerung an das auslösende Ereignis. Der Betroffene greift problemlos auf sein Langzeitgedächtnis zurück und nimmt neue Informationen auf.
Die psychogene Amnesie reagiert auf ein Trauma oder nicht notwendig traumatische, aber negative Situationen und Erfahrungen. Diese werden verdrängt.
Ursachen für Amnesien sind unter anderem Gehirnerschütterungen, epileptische Anfälle, Meningitis, Schlaganfälle, Migräne, Vergiftungen, psychische Belastungen, Psychopharmaka, Alkohol und Vergiftungen.
Eine Amnesie kennt indessen jeder. Kein Mensch erinnert sich an seine früheste Kindheit bis zum Alter von circa 2-3 Jahren. Dies liegt vermutlich daran, dass wir uns in dieser Zeit noch nicht als Individuum erkennen. Unser Gehirn, unsere Fähigkeit zu sprechen und sinnvolle Assoziationen zu bilden, formt sich in dieser Zeit erst, und wahrscheinlich hat das Gehirn beim Kleinkind die Strukturen noch nicht gebildet, um Informationen zu vernetzen.
Das Korsakow-Syndrom
Alkohol verursacht eine spezielle Amnesie. Die ist nach dem russischen Neurologen Sergej Korsakow (1854-1900) benannt: Das Korsakow-Syndrom. Korsakow veröffentlichte eine Studie zu einem „polyneurotischem amnestischen Syndrom“, nachdem er 18 Alkoholiker untersucht hatte.
Die Kranken verlieren vor allem ihr Kurzzeitgedächtnis, alte Erinnerungen fehlen auch, aber nicht in gleichem Ausmaß; sie können sich Informationen oft nicht einmal für Minuten merken. Typisch für Korsakow ist das „Lücken füllen“: Sie ersetzen die Löcher im Kurzzeitgedächtnis durch alte Erinnerungen und sind sich dessen nicht bewusst. Zum Beispiel knüpfen sie in Gesprächen an längst vergangene Diskussionen an, die mit dem Thema nichts zu tun haben; sie stellen Menschen zur Rede wegen Jahre zurück liegenden Konflikten, die sie in der Gegenwart erleben; dies geht einher mit einer psychischen Regression: Sie wählen zum Beispiel einen „Heimweg“, der sie zu einer Wohnung führt, aus der sie vor langer Zeit auszogen.
Diese Alkoholkranken füllen Gedächtnislücken auch mit reinen Fantasien. Zum Beispiel werfen sie Anderen etwas vor, was diese nie gesagt haben, sind aber fest davon überzeugt, dass ihr Gegenüber lügt, wenn er das bestreitet. Gedächtnisschwund und Alkoholpsychose lassen sich in solchen Fällen nur schwer trennen. Oder sie unterstellen Anderen, was nur in ihrem eigenen Kopf vor sich geht.
Kosakow-Patienten verlieren das Bewusstsein für Raum und Zeit; sie finden sich selbst in ihrer Wohnung nicht mehr zurecht. Sie ermüden außerdem schnell und schwanken zwischen Euphorie und Hoffnungslosigkeit.
Das zentrale Nervensystem ist durch den Alkohol geschädigt, und auch die peripheren Nerven leiden. Was Korsakow Polyneuropathie nannte, bezeichnet vielfältige Störungen: Die Patienten haben Probleme, ihre Bewegungen zu koordinieren. Sie stolpern, setzen sich neben den Stuhl, oder die Kaffeetasse fällt ihnen aus der Hand. Auch das autonome Nervensystem ist angegriffen: Die Betroffenen frieren schnell, ihre Haut wird blass, ihre Augen sind glasig.
Ursache dieses Gedächtnisschwundes ist ein Mangel an Vitamin B 1. Korsakow untersuchte Alkoholiker, und die sind für einen solchen Mangel prädestiniert, das sie Kalorien vor allem als Alkohol zu sich nehmen. Das limbische System nimmt Schaden – vor allem der Hippocampus. Das Zuführen von Vitamin B 1 hilft zwar, im fortgeschrittenen Zustand ist Korsakow jedoch nicht heilbar.
Demenz
Demenz bezeichnet verschiedene Erkrankungen, die das Denkvermögen einschränken. Demente können neue Erfahrungen kaum verarbeiten. Sie können sich schlecht orientieren, haben Probleme zu lesen, zu sprechen und zu rechnen.
Eine Million Menschen leiden an Alzheimer, der häufigsten Demenz. Bei Alzheimer sterben Gehirnzellen ab, verursacht durch Eiweiße innerhalb und außerhalb der Nervenzellen. Im fortgeschrittenen Stadium wissen die Kranken nicht mehr, wie sie heißen, erkennen ihre Verwandten nicht und wissen nicht, wo sie sind. Schlaganfälle stören die Durchblutung im Gehirn, es folgt eine vaskuläre Demenz. Das Gedächtnis bleibt zwar länger erhalten als bei Alzheimer, doch verschwindet schließlich ebenfalls.
Die Lewy-Körperchen-Demenz heißt nach Körperchen in Hirnstamm und Großhirnrinde. Sind diese angegriffen, verlieren die Betroffenen ebenfalls das Gedächtnis; zugleich verhalten sie sich wie in einer Psychose, entwickeln also Wahnideen und verlieren das Bewusstsein über Raum und Zeit.
Die Pick-Krankheit zerstört die Stirn- und Schläfenlappen. Die Patienten können sich zwar erinnern, verlieren aber die Fähigkeit zum abstrakten Denken. Die Creutzfeldt-Jacob Krankheit zerstört das Gehirngewebe durch giftige Eiweiße. Die Kranken verlieren das Gedächtnis, können sich nicht konzentrieren und nehmen ihre Umwelt kaum wahr.
Psychische Probleme führen ebenfalls zu Gedächtnisverlust, Depressionen ebenso wie Angststörungen. Depressive sind nicht nur unfähig, den Alltag zu meistern, sie vergessen zugleich abgespeicherte Prozesse; sie vergessen, sich zu duschen, die Miete zu überweisen oder einzukaufen. Bei Angstgestörten verdrängt die Angst die Erinnerungs-Muster an positive Reize oder überlagert sie: Ein Smartphone erinnert an eine „Vergiftung mit Feinstaub“, und ein Mann mit dunklem Bart an einen Al Quaida Terroristen. Hier hilft nur eine langfristige Psychotherapie.
Alkohol- und Heroinmissbrauch, Krebstherapien, Beruhigungsmittel, negativer Stress, unzureichender Schlaf, und ein Mangel an Flüssigkeit fördern ebenso das Vergessen.
Ab dem 50. Lebensjahr sollten Menschen auf Warnzeichen achten: Finde ich mich in einer vertrauten Umgebung nicht mehr zurecht? Weiß ich am Ende einer Fernsehsendung nicht, was am Anfang geschah? Vergesse ich Dinge, obwohl ich meine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete? Fällt mir der Name meines Nachbarn nicht mehr ein? Dann sollte ich einen Arzt aufsuchen.
Diagnose
Leiden sie daran, dass sie Dinge des Alltags so häufig vergessen, dass dies für sie und andere zum Problem wird, sollten sie zum Arzt gehen. Der fragt, seit wann sie ihre Vergesslichkeit einschränkt, ob sie zunimmt, ob sie sich Dinge nicht mehr merken können, die früher kein Problem darstellten, ob sie vertraute Arbeiten nicht mehr verrichten können. Neuropsychologische Tests helfen, eine Demenz zu erkennen.
Alzheimer lässt sich derweil noch nicht im Labor nachweisen, auch wenn mittlerweile bei einer Liquoruntersuchung bestimmte charakteristische Eiweiße festgestellt werden können, die typisch für Alzheimer sind. Die Untersuchung konzentriert sich daher auf das Verhalten. Patientinnen und Patienten machen zum Beispiel den „Uhrentest“. Sie zeichnen in einem Kreis die Ziffern einer Uhr und zwei Zeiger, die eine Uhrzeit anzeigen. Demente können dies meist nicht mehr.
Eine Computertomographie kann aufzeigen, ob das Gehirn schrumpft. Das ist typisch für eine Demenz. Das EEG zeigt, ob das Gehirn ausreichend mit Blut versorgt wird. Muskel- und Pupillentests belegen, ob das Nervensystem normal arbeitet. Blutbilder zeigen die Folgen von Alkohol- und Drogenmissbrauch. Psychologische Tests sollen Angststörungen und Depressionen aufzeigen.
Die Therapie ist so unterschiedlich wie die Ursache des Gedächtnisverlustes. Ist eine Krankheit die Ursache, dann verschwindet mit ihr meist auch die Vergesslichkeit.
Gedächtnistraining
Alle Formen der Vergesslichkeit lassen sich durch Training zumindest lindern. Dazu gehört als erstes ein gesunder Lebensstil, ausgewogene Ernährung und Bewegung. Sport aktiviert die Nervenzellen, und dabei geht es nicht um Leistung. Bereits beim täglichen Spaziergang eine neue Route zu wählen, bringt passive Erinnerungen in Aktion. Techniken, um sich zu entspannen, wie Yoga fördert das Gedächtnis ebenfalls. Geistig anspruchsvolle Tätigkeiten halten das Gehirn auf Trab: Lesen, diskutieren oder Schach spielen.
Das ist besonders für alte Menschen wichtig. Zwar verringern sich ab dem 50. Lebensjahr die Nervenzellen sowieso, das Kurzzeitgedächtnis bröckelt, und die älteren Herrschaften vergessen Dinge, auf die sich nicht ihre volle Aufmerksamkeit richten; die Vergesslichkeit im Alter ist aber kein Naturgesetz; soziale Umstände fördern den Gedächtnisverlust im Alter. Der Beruf beansprucht das Gehirn nicht mehr, und die Zellen verkümmern. Alter bedeutet für viele soziale Isolation. Die Energie kommt nicht mehr „von allein“ und körperliche Gebrechen verführen dazu, auf dem Sofa zu sitzen. Es ist letztlich egal, ob man philosophische Begriffe lernt, Kreuzworträtsel löst oder das Telefonbuch auswendig lernt – geistige Arbeit trainiert die Merkfähigkeit.
Klinisch Dementen jedoch bringt dieses „Gehirnjogging“ wenig. Denn ihre Merkfähigkeit verfällt nicht wegen mangelndem Training. Sie müssen vielmehr lernen, ihr Langzeitgedächtnis zu trainieren, das ihre Erinnerungen speichert.
Menschen mit Amnesie sollten vertraute Orte aufsuchen, sich mit persönlichen Dingen umgeben und zugleich eine Umwelt suchen, die sie geistig fördert.
Vergesslichkeit liegt oft an den Bedingungen: Wenn uns etwas nicht interessiert, speichert es unser Gehirn nicht; wenn wir überlastet sind, löscht das Gehirn Erinnerungen. Das Internet führt heute zu einer Schwemme von Informationen, die der Organismus nur schwer aufnehmen kann. Statt zu versuchen, mehr und mehr zu speichern, sollten wir uns also zurück lehnen, und ebenso langsam wie ruhig lernen.
Schlaf ist entscheidend für ein gutes Gedächtnis, denn im Schlaf wandern die Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis. Traumarbeit ermöglicht, das Langzeitgedächtnis zu aktivieren.
Muskeln und Nervenzellen sind verkoppelt. Wenn die Muskeln aktiv sind, stellen sie Botenstoffe her, die die Gehirnzelle unterstützen. Körperliche Arbeit führt dazu, dass der Hippocampus Nervenzellen bildet, die Gedächtnisinhalte speichern. Proteine aus den Muskeln stärken die Nervenzellen. Regelmäßiger Sport vermehrt Neurotransmitter wie Serotonin.
Demenz lässt sich durch Sport zwar nicht heilen, aber vorbeugen. Menschen, die im mittleren Alter Sport treiben, erkranken im Alter seltener an Alzheimer.
Die Psyche und der Gedächtnisverlust
Menschen zwischen 20 und 35 leiden zunehmend unter Gedächtnisverlust. Psychische Probleme sind meist der Auslöser. Permanenter negativer Stress, verbunden mit Existenzangst ist eine Ursache. Betroffen ist vor allem das autobiografische Gedächtnis. Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, explodierender Leistungsdruck auf der Uni und dem Arbeitsmarkt lösen vermutlich diesen Gedächtnisschwund aus. Der psychische Druck belastet die Nerven, und das Gehirn reagiert mit einer Blockade.
Studierende prägten für den Leistungszwang an der Uni den Begriff „Bulemie-Lernen“. Sie stopfen Wissen für die Klausuren in sich hinein, um es „zu erbrechen“. In das Langzeit-Gedächtnis kann das so hinein gepresste „Wissen“ nicht gelangen. Die Betroffenen fühlen sich leer, und können das Auswendig Gelernte nicht im autobiografischen Gedächtnis speichern. Da sie also das Wissen nicht integrieren und sich so von nachhaltigen Lebenserfahrungen immer weiter entfernen, ist ein Gedächtnisverlust die logische Konsequenz. Das „Wissen auf Knopfdruck“ suggeriert ihnen zudem, dass vorherige Einsichten, die das Langzeitgedächtnis speichert, wertlos wären. Die assoziativen Muster, die Orientierung bieten, zersplittern. Am Ende stehen Verzweifelte, die sich nicht mehr auf die im Gehirn gespeicherten Informationen verlassen können.
In dem Bereich, wo Emotion und Kognition zusammen fließen, sitzt die biografische Erinnerung – genau hier liegen auch die meisten Rezeptoren für Stress-Hormone, und beides ist aneinander gekoppelt.
Die verlorenen Erinnerungen lassen sich manchmal durch eine Therapie wieder aktivieren. Das bringt indessen wenig, da die Betroffenen dem gleichen Leistungs-Zwang erneut ausgesetzt sind, wenn die Therapie vorbei ist. Manche Patienten finden sich damit ab und führen ein „neues Leben“ mit verflachter Gefühlswelt.
Trügerische Erinnerung
Das Gedächtnis partiell zu verlieren oder sich falsch zu erinnern, ist nur selten pathologisch – es ist der Normalzustand. Neueste Studien lassen vermuten, dass sich Erinnern ebenso wie Erinnerungen vergessen, ein aktiver Prozess ist: Unser Gehirn organisiert Erinnerungen retrospektiv, um sie unseren Bedürfnissen anzupassen. Literarisch gesagt entwickeln wir die Storyline unseres Lebens und entwerfen die Drehbücher immer wieder neu. Was und wie wir erinnern, verknüpft sich mit unserer Imagination und unseren jeweiligen Gefühlen.
Juristen wissen, dass Zeugenaussagen mit dem Geschehnis oft wenig zu tun haben, ohne dass die Befragten lügen. Versuchspersonen, die sich Ereignisse wie ein Erdbeben vorstellten, glaubten später häufig, sie hätten dies selbst in ihrer Kindheit erlebt. Filmszenen und Erzählungen schleichen sich als vermeintlich eigene Erfahrungen in das Gedächtnis.
Unser Gedächtnis gleicht weniger einer Dokumentation, sondern viel mehr der Erzählstruktur eines Romans. Personen, Orte und Ereignisse streicht das Gehirn, wenn sie nicht in den Plot passen; Nebenfiguren rücken in den Vordergrund, wenn die Story es erfordert; Geschehnisse schreibt das Gedächtnis so um, dass sie die Storyline abrunden. Die Erinnerung rekonstruiert ausgewählte Informationen und setzt sie in Aktion.
Diese Informationen müssen nicht eigene Erlebnisse sein; wir können uns Geschehnisse so plastisch vorstellen, als hätten wir sie selbst erlebt. Esoteriker „erwecken“ zum Beispiel die „Erinnerung an vergangene Leben“. „Rein zufällig“ finden sich „neue Hexen“ dann im Körper einer Frau wieder, die als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, spüren die Hitze, riechen den Rauch. Sich an eigene Erfahrungen zu erinnern und sich in etwas nicht Erlebtes hinein zu fühlen, geht ineinander über.
Unsere Gefühle basteln aus Informationen die Stimmung: Ein Depressiver erinnert sich an düstere Erlebnisse, Wohlbefinden rückt die Vergangenheit in ein warmes Licht. Menschen in psychischen Krisen hilft es, wenn sie sich an Momente erinnern, in denen sie glücklich waren. Erstens, weil sie dadurch erkennen, dass ihr Leiden nicht immer währt, zweitens aber, weil das Gehirn so positive Assoziationen sammelt, die die Stimmung im Hier und Jetzt verbessern.
Um Erinnerungen mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, ist ein Tagebuch sinnvoll. Es verrät uns im Rückblick, wie unser Zustand in der jeweiligen Lebensphase real war. Wer zum Beispiel mit 30 in einer Lebenskrise steckt und sich selbst damit quält, welche Chancen er mit 25 gehabt hätte und nicht nutzte, erkennt bisweilen bei einem Blick in sein Tagebuch, dass er in dieser Zeit gar nicht in der Lage war, sein Potenzial umzusetzen.
Wenn wir mit Menschen sprechen, die ebenfalls bei einem Ereignis dabei waren, ändert dies unsere Erinnerung daran. Wir erfinden sogar falsche Erinnerungen, sei es, um Unzulänglichkeiten auszufüllen, oder weil andere sie uns einreden.
Dies geht besonders einfach, wenn die Fiktion einen Anker in der Wirklichkeit hat. Wenn uns Jugendfreunde eine Geschichte vom gemeinsamen Äpfel stehlen erzählen, es die Obstbäume beim Nachbarn wirklich gab, und wir dort auch zusammen auf Tour waren, speichern wir den fiktiven Streich trotz anfänglicher Zweifel ohne weiteres unter Erlebnissen ab.
Vieles vergessen wir, anderes übertreibt unser Gehirn; die Erinnerung verdreht, verzerrt und vereinfacht. Vor Gericht kann das fatale Folgen haben.
Crime Stories des Gehirns
Menschen stehen vor Gericht für Verbrechen, die sie nicht begangen haben; „Täter“ glauben, Schreckliches getan zu haben, obwohl sie unschuldig sind; Andere berichten von entsetzlichen Erlebnissen, die sie nie hatten. Manchmal handelt es sich um bewusste Lügen; doch oft spielt uns die Erinnerung einen Streich.
Vor einem Pogrom zum Beispiel erinnern sich die Täter an Situationen, in denen ihre späteren Opfer sich „verdächtig“ verhielten. Trieb sich die als Hexen Angeklagte nicht im Stall herum, als die Kühe krank wurden? Hassprediger streuen falsche Informationen, und ihre von Angst getriebenen Anhänger bauen diese in ihre Erinnerungen ein.
Donald Thomson stand wegen Vergewaltigung vor Gericht. Die Klägerin beschrieb einen Täter, der ihm glich. Der Angeklagte hatte jedoch ein wasserdichtes Alibi: Er redete zur Tatzeit in einer Talkshow im Fernsehen. Das Opfer hatte die Sendung gesehen, unmittelbar danach wurde sie vergewaltigt. Das Gesicht von Thomson hatte ihr Gehirn gespeichert.
Dieses getäuschte Gedächtnis heißt Fehlzuordnung. Die Erinnerung rekonstruiert Details wie ein Gesicht zwar richtig, ordnet diese aber falsch ein. Wir glauben, etwas selbst gesehen zu haben; in Wirklichkeit hörten wir davon oder bekamen die Information aus dem Fernsehen.
Polizisten und Staatsanwälte müssen Zeugen deshalb sorgfältig befragen und jede Suggestion vermeiden. Falsche Erinnerungen entstehen vor allem, wenn jemand unter Stress steht – also zum Beispiel im Verhör. Hormone wie die Glukortilkoide beeinflussen, wie das Gehirn Reize wahrnimmt.
Genau dann, wenn der Angeklagte oder Zeuge sich erinnern soll, formt er die Erinnerung auch neu, und kleinste Manipulationen lenken es in eine andere Richtung. Ob der Polizist einen Zeugen zum Beispiel fragt, wie der Angeklagte das Opfer „ansah“, oder ob er fragt „anstarrte“ kann neutrale Erinnerungen zu Schuldzuweisungen ändern.
Die amerikanische Gerichtsgutachterin Elisabeth Loftus fand in einer empirischen Studie keinen Unterschied zwischen wirklichen und erfundenen Erinnerungen. Die Fantasien waren ebenso detailliert, und genau so von Emotionen getränkt wie die Wirklichkeit. Richtige Erinnerungen sind ebenso aufgebaut wie falsche: Das Gehirn setzt Fragmente zu einem Bild zusammen.
Vorsicht ist geboten, wenn Therapeuten regelrecht nach einer vermeintlich verschwiegenen Erinnerung suchen, den Betroffenen gar unter Druck setzen, und die Erinnerung mehr und mehr an Form gewinnt. Erschreckende Belege dafür geben die Hexenprozesse der frühen Neuzeit, deren Ziel das Geständnis war. Unter der Folter gestanden die Angeklagten Dinge, die sie niemals begangen haben konnten wie den Geschlechtsverkehr mit dem Teufel – und viele der Opfer glaubten selbst, böse Zauber begangen zu haben.
Psychische Störungen wie das Borderline-Syndrom kennzeichnen Pseudo-Erinnerungen, da die Kranken Realität und Fiktion nicht unterscheiden können. Ihre Störung hat ihre Ursache zudem häufig in Gewalterfahrungen, und sie projizieren das traumatische Erlebnis auf Andere. Da die Betroffenen ihren Fiktionen selbst glauben, wirken die Beschuldigungen in ihrer Plastizität ebenfalls glaubhaft.
Déja-vu
Das Déja-vu täuscht die Erinnerung ebenfalls. Reinkarnations-Gläubige sehen in Situationen, die uns vorkommen, als hätten wir sie schon einmal erlebt, Bruchstücke einer Erinnerung an vorherige Leben. Die Neuropsychologie kann Déja-vus bis heute nicht hinreichend erklären.
Möglich ist, dass das Gehirn das Erlebte unmittelbar davor bereits wahrnahm, ohne dass uns dies bewusst ist. Erkenne wir die Situation dann ein zweites Mal bewusst, ist sie bereits als Erinnerung abgespeichert.
Auch Assoziationen können Déja-vus erklären: Ein Kräuterladen in Istanbul weckt Erinnerungen an einen Weihnachtsmarkt unserer Kindheit, ohne dass unser Gehirn zugleich die Bilder liefert. Ohne zuvor am Ort gewesen zu sein, erscheint uns dieser Ort vertraut. Ein Hostel in Tschechien liegt in gleicher Entfernung zu einem Fluss wie unser Elterhaus, und der Weg scheint uns bekannt zu sein.
Erzählungen Anderer lösen ebenfalls das Gefühl aus, schon einmal hier gewesen zu sein. So ging es dem Autor, als er das erste Mal in die Lausitz im Osten Sachsens kam. Die Dörfer, die Menschen, die Natur; alles erschien ihm wie eine Reise in die eigene Vergangenheit. Später erfuhr er, dass seine inzwischen 80jährige Kinderfrau genau dort einen Hof gehabt hatte, bevor sie nach dem zweiten Weltkrieg nach Westdeutschland floh. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, (Abruf 11.09.2019), brain.mpg.de
- Juebin Huang: Amnesien, MSD Manual, (Abruf 11.09.2019), MSD
- Michael C. Levin: Gedächtnisverlust, MSD Manual, (Abruf 11.09.2019), MSD
- Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V.: Korsakow-Syndrom, (Abruf 11.09.2019), deutsche-alzheimer.de
- Bundesministerium für Gesundheit: Online-Ratgeber Demenz, (Abruf 11.09.2019), bundesgesundheitsministerium.de
- D. Sander et al.: S1-Leitlinie Transiente globale Amnesie, 2017, Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, (Abruf 11.09.2019), dgn
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.