Hochbegabte polarisieren – sie haben einerseits das Image von soziophoben „Fachidioten“, anderen gelten sie als Genies, die von den stupiden Zeitgenossen nicht erkannt werden. Hochbegabung ist keine psychische Störung, doch hochbegabte Schüler werden dann bekannt, wenn sie therapeutische Betreuung brauchen, während sozial integrierte Hochbegabte kaum auffallen.
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Ebenso wird aber nicht aus jedem Hochbegabten ein Nobelpreisträger, wenn „das Umfeld“ stimmt. Hochbegabung bedeutet nämlich oft Nischenbegabung, und auch viele Hochbegabte, die ihre Fähigkeiten entfalten, tun dies eher als Redakteure von Computermagazinen oder als Architekten für ein städtisches U-Bahn-System als im wissenschaftlichen Olymp.
„Hochbegabt ist, wer sich schnell Wissen über Sachverhalte und Problemlösungsstrategien aneignen kann, dieses Wissen in unterschiedlichen Situationen für unterschiedliche Problemlösungen effektiv nutzt, rasch aus seinen dabei gemachten Erfahrungen lernt und erkennt, auf welche neuen Situationen bzw. Probleme er seine gewonnenen Erkenntnisse übertragen kann und welche nicht.“ Detlev Rost
Jeder 50. in Deutschland ist hochbegabt. Hochbegabung bezeichnet intellektuelle Fähigkeiten eines Menschen, die über den Durchschnitt heraus ragen, verbunden mit einer großen Lernfähigkeit, einer schnellen Auffassungsgabe und besonderen Gedächtnisleistungen. Geistig sind hochbegabte Kinder ihren Altersgenossen um Jahre voraus.
Diese Gabe kann jedoch, wenn sie nicht erkannt und gefördert wird, zum Fluch werden und solche Kinder werden manchmal sogar verhaltensauffällig, verweigern sich in der Schule und später im Beruf. Sie brauchen deshalb gezielte Unterstützung.
Wie verhalten sich hochbegabte Kinder?
Hochbegabte Kinder haben früh ein außerordentliches Detailwissen in bestimmten Bereichen, das so genannte Nischenwissen; sie verfügen über einen umfangreichen Wortschatz, der für ihr Alter ungewöhnlich ist, können sich flüssig ausdrücken, Fakten schnell merken und das Verhältnis von Ursache und Wirkung eines Phänomens erkennen.
Solche Kinder verstehen, welche Prinzipien einer Aufgabe zugrunde liegen und können deshalb leicht verallgemeinern. Sie beobachten scharf, lesen viel von sich aus und beschäftigen sich mit Themen, die über ihr Alter deutlich hinausgehen.
Sie gehen in diesen Themen völlig auf und möchten Aufgaben komplett lösen. Deshalb langweilen sie sich bei einfachen Übungen, sind selbstkritisch und streben nach Perfektion. Darum sind sie mit ihren eigenen Ergebnissen meist unzufrieden, setzen sich selbst Leistungsziele, stellen sich selbst Herausforderungen und meistern diese.
Hochbegabte Kinder vertiefen sich früh in Erwachsenenthemen: Ethik, Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften oder Politik.
Deshalb suchen sie sich Gleichgesinnte häufig unter Älteren, nehmen nicht einfach alles hin, was Autoritäten sagen, sondern überprüfen es kritisch; sie verhalten sich ausgesprochen individualistisch und wollen in Situationen bestimmen.
Das Potenzial zu herausragenden Leistungen bedeutet längst nicht, dass Hochbegabte dieses auch zeigen. Im Gegenteil: Wenn Hochbegabte in einem Umfeld aufwachsen und zur Schule gehen, das ihre Fähigkeit weder erkennt noch würdigt, gelten sie leicht als Sonderlinge und zeigen sogar renitentes Verhalten.
Einige Hochbegabte landen auf der Haupt- oder sogar auf der Sonderschule; ihre Zeugnisse sind miserabel, weil die Schule sie unterfordert, und sie deshalb nicht mitarbeiten; Lehrer stehen mit ihnen auf Kriegsfuß, weil Hochbegabte sie spüren lassen, dass sie von ihrem Fach keine Ahnung haben, sich sogar über die Lehrer lustig machen oder das klassische Verhalten von Schulverweigern zeigen: Sie zeichnen im Unterricht, sie schwänzen die Stunden, sie machen die Hausaufgaben nicht oder geben auf Nachfragen spöttische Antworten.
Wenn die Zensuren des Hochbegabten deshalb nach unten gehen, beginnt der Teufelskreis. Bleiben Hochbegabte sitzen oder kommen in eine niedere Schulstufe, werde die bereits Unterforderten noch mehr unterfordert und antworten, indem sie sich total verweigern.
Der Hunger nach Wissen
Hochbegabte nehmen mit 10 Jahren an Schachturnieren teil, stellen zu jeder Uhrzeit Fragen, lesen mit vier Jahren, dividieren mit fünf Jahren – und tun dies alles von sich aus. Eltern wird von Außenstehenden oft vorgeworfen, dem Kind „die Kindheit zu nehmen“, es zum lernen zu zwingen, einen Leistungsdruck aufzubauen, der dem Alter nicht angemessen ist, oder das Kind in die Elite pressen zu wollen. Wenn das Kind aber nach Wissen verlangt, ist es die Aufgabe der Eltern, ihm dieses zukommen zu lassen.
Die Entwicklung von Hochbegabten
Hochbegabte überspringen oft Entwicklungsphasen, sie sprechen zum Beispiel früh, ohne Babysprache zu verwenden, und benutzen ganze Sätze. Sie fragen nach der Bedeutung von Wörtern und spielen mit Begriffen.
Bereits als Kinder forschen sie in ihren Themen immer weiter. Dabei konzentrieren sie sich auf ihre geistigen Interessen und vernachlässigen die Handarbeit – solche Hochbegabte erscheinen als handwerklich ungeschickt.
Sie leben ihre speziellen Interessen intensiv aus, sei es, dass sie historische Schlachten im Detail nachspielen, sei es, dass sie die Fachliteratur zur Automobilgeschichte studieren, während ihre Schulkameraden Autoquartett spielen.
Dabei springen sie in ihren Themen – wenn eines abgehakt ist, suchen sie das nächste und gehen es mit dem gleichen Feuereifer an, verknüpfen es mit anderen Wissensgebieten und kommen dabei zu übergreifenden Fragen wie Ergebnissen.
Wenn ihr Milieu sie dabei nicht intensiv fördert, ist die Gefahr groß, als Erwachsene zwar mehr über diese Themen zu wissen, als die meisten Studierenden des Fachgebietes, es inzwischen aber als banal zu empfinden und nicht weiter zu verfolgen.
Hochbegabte nehmen Details genau wahr, sortieren diese und legen eigene Systeme dafür an; sie können Mengen und Größen gut einschätzen und interessieren sich früh für Buchstaben.
Hochbegabte Kinder konzentrieren sich zwar massiv, wenn sie intellektuell herausgefordert sind, lassen aber Routineaufgaben schleifen und bemühen sich kaum, etwas zu lernen, was ihnen nicht gefällt. Zum Beispiel wiederholen sie ungern Vokabeln oder lernen Musiknoten.
Probleme in frühen Jahren
Hochbegabte verhalten sich sehr früh autonom, sie sind selten gruppenkonform, möchten aber meist Mitglied einer Gruppe sein. Ihre geistige Energie schießt über, ihr Wissen ist ihrem Alter voraus – und Lehrer wie Erzieher interpretieren das oft falsch.
Zum Beispiel kritisierte ein Lehrer den Vater eines Hochbegabten beim Elternsprechtag, nachdem der Hochbegabte den Lehrer zu Fakten der Römischen Geschichte korrigierte, er dürfte dem Kind nicht soviel Wissen einpauken. Der Vater sagt: „Das macht der von allein.“
Hochbegabten Kindern fällt es schwer, Autoritäten zu akzeptieren. Sie sehen die Schwachstellen im Wissen des Lehrers und kritisieren diese. Viele Lehrer können damit nicht umgehen und halten dieses Verhalten für frech. Zum Beispiel schickte eine Lehrerin einen hochbegabten Erstklässler vor die Tür, und dort sollte er aufschreiben, warum er diese Strafe erhielt. Er schrieb, aus seiner Sicht zu Recht: „Weil du blöd bist.“
Erstens haben viele Lehrer Probleme damit, wenn Grundschüler Aufforderungen nicht unreflektiert folgen, zweitens entwickeln manche Hochbegabte als Kinder Arroganz: Sie arbeiten selbstständig und Anweisungen stören sie, auf Lehrer wirkt das schnell respektlos. Diese Kinder machen „was sie wollen“, sie langweilen sich im Unterricht, sind deswegen unruhig und können Symptome entwickeln, die an ADHS erinnern.
Allerdings sind hyperaktive Kinder nicht notwendig hochbegabt, und dies sollte ein Fachmann klären. Der Hochbegabte erfährt sein Anderssein, und in der Folge entwickelt er sich zum Störenfried, er zeigt psychosomatische Störungen, und er ist aggressiv gegen sich selbst.
Hochbegabte zeigen häufig auch Kennzeichen von Hochsensibilität: Sie werden dann von fremden akustischen Reizen überflutet. Wenn sie selbst laut Musik hören oder lautstark diskutieren, stört sie das nicht, aber die Geräusche ihrer Klassenkameraden nerven sie.
Intellekt versus Sozialisation?
Meike kommt aus einer Akademikerfamilie, beide Eltern arbeiten an der Universität, ihr Vater ist Physikprofessor. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern beim Abitur die Beste des Jahrgangs, nur in einem Fach hatte sie 14, ansonsten überall 15 Punkte. Sie studierte Physik und außerdem gymnasiales Lehramt Mathematik und beendete beide Studien ebenfalls mit Bestnote, und in Physik absolvierte sie ihren Doktor – ebenfalls mit summa cum laude.
Doch das Refendariat an der Schule brach sie ab, und an der Universität konnte sie sich ebenfalls nicht verwurzeln. Sie rutschte in eine Lebenskrise, lernte einen Partner kennen, der mitten in seiner Doktorarbeit steckte und sagte ihm, dass sie bewundere, dass er das tue, was ihm am Herzen liege; sie hätte hingegen immer nur funktioniert.
Einmal waren die beiden in einem Wildpark, und ein Pfleger berichtete von einem „Omega-Wolf“, den die anderen Wölfe weg gebissen hätten. Meike weinte und sagte: „Ich war immer ein Omega-Wolf.“
Was war geschehen? Meike war immer brav gewesen. Sie kannte die Mechanismen des Lehrbetriebs aus ihrem Elternhaus und hatte früh gelernt, zu lernen. Ihre Eltern förderten sie nicht nur intellektuell, sondern erwarteten von ihr, dass sie ihr Potenzial ausschöpfte.
Doch von ihren Mitschülern fühlte sich Meike schon früh ausgeschlossen. Die konnten oft nicht folgen, wenn sie physikalische Probleme löste oder ihre Gedanken über Philosophie und Religion von sich gab. In ihrer Teenagerzeit kümmerte sie sich um ihren kleinen Bruder, machte mit ihm Hausaufgaben, las ihm Kinderbücher vor und wäre insofern als Lehrerin vorbereitet gewesen.
Ihre intellektuelle und schulische Entwicklung gingen indessen einher mit einem Defizit an sozialem Lernen, genauer gesagt damit, sich sozial durchzusetzen.
Hochbegabte, die ihren Mitschülern geistig voraus sind, ziehen schnell Neid auf sich. Wenn sie die sozialen Spielregeln beherrschen, können sie ihre Fähigkeiten jedoch in den peer groups sinnvoll nutzen, zum Beispiel, indem sie „geistige Anführer“ werden.
Hochbegabte können sich die interessanten Spiele ausdenken und den Anderen Geschichten erzählen; Hochbegabte haben den intellektuellen „Biss“, Lehrer zum Wohl der Mitschüler zu kritisieren, wenn diese sie ungerecht behandeln.
Meike aber litt unter ihrer Andersartigkeit. Zum einen versuchte sie, sich an ihre Mitschüler anzupassen, ohne deren Interessen wirklich zu teilen – und dafür haben Kinder ein feines Gespür. Zum anderen suchte sie Schutz bei den Lehrern, mit denen sie sich „auf einer Wellenlänge“ unterhalten konnte, und Schüler, die sich mit den Lehrkräften besser verstehen als mit der Klasse, gelten leicht als Streber.
Meike wurde früh gemobbt und litt darunter im Sinne eines Traumas. Als sie praktisch in den Lehramtsberuf einstieg, konnte sie die Konflikte, mit denen Pädagogen konfrontiert sind, nicht bewältigen.
Wenn „Rüpel“ sie provozierten, löste das die alte Erfahrung der Hilflosigkeit aus, sie verlor die Kontrolle, bekam Angstzustände und verlor die Kontrolle über ihre Gefühle: Für die „Rüpel“ war sie ein ebenso perfektes Opfer wie zuvor für boshafte Mitschüler. Eine Kollegin sagte Meike: „Du brauchst eine Therapie,“ und die Kollegin hatte Recht.
Eine Uni-Karriere als Physikerin misslang ebenfalls. Die Uni jenseits des Doktors ist ein Haifischbecken, und Meike hielt der mörderischen Konkurrenz nicht stand. Ihre Rivalen warteten nur auf ihre Gefühlsausbrüche, um sie für nicht tragbar zu erklären.
Meike ist heute Mitte 40; sie arbeitet als Nachhilfelehrerin, liest Kindern vor und lebt vom Geld, das ihre Eltern zurück gelegt haben. Außenstehende sagen, sie verhalte sich „wie ein Kind“, wenn es darum geht, Konflikte auszutragen.
Meikes Werdegang zeigt deutlich, dass Hochbegabte nicht nur intellektuell, sondern auch sozial gefördert werden müssen. Ihr „Nischenwissen“ kann, aber muss nicht, zu Defiziten in der sozialen Entwicklung führen.
Hochbegabung fördern oder blockieren?
Hochbegabte stehen keinesfalls automatisch auf der Sonnenseite des Lebens. Im Gegenteil ist das Umfeld entscheidend, ob ein Hochbegabter sein Potenzial verwirklichen kann oder nicht, denn ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln sich im Wechselspiel zwischen Erbgut und Sozialisation. Schon im Kindergarten, schärfer in der Schule und am schlimmsten bisweilen in der Universität, liegen Hochbegabten eine Menge Steine im Weg.
Für das Kind sind Familie, peer group und Schule die wesentlichen Eckpfeiler der Entwicklung. Hochbegabung ist keine Störung, aber solche Kinder müssen gezielt gefördert werden. Eltern, Lehrer und Mitschüler, Arbeitgeber und Professoren erliegen oft dem Trugschluss, dass jemand, dem „alles zufällt“ keine Förderung braucht.
Für die Hochbegabten kann eine solche Fehleinschätzung fatal wirken: Im Ernstfall isolieren sie sich und werden zum Sozialphobiker; sie verweigern sich, Leistungen zu bringen, haben Angst vor der Schule, ihren Klassenkameraden und ihren Lehrern; sie entwickeln psychosomatische Beschwerden.
Selbstbewusstere Hochbegabte gelten dann als Querulanten und sabotieren Lehrer, wie der Zehntklässler, der Adornos „Dialektik der Aufklärung“ rauf und runter las und seinen konservativen Geschichtslehrer mit „Heil Hitler“ begrüßte.
Angepasste Hochbegabte hingegen verkümmern bei einem hemmenden Umfeld geistig. Sie folgen den Anforderungen der Lehrer mehr schlecht als recht und verstecken ihr Potenzial. Sie haben durchschnittliche Zensuren, und ihre Begabung wird weder erkannt noch gefördert.
Paradoxerweise entwickeln Hochbegabte jetzt Lernschwierigkeiten. Sie lernen im gleichen Tempo wie die anderen Kinder, was für sie zu langsam ist, zu leicht und zu wenig. Deswegen sind sie unmotiviert und haben keine Lust, in die Schule zu gehen. Solche angepassten Hochbegabten sind oft körperlich, aber nicht geistig anwesend: Sie malen, blicken aus dem Fenster, und zählen die Minuten bis zur Pause. Sie erfahren nicht die Grenzen der eigenen Möglichkeiten, wodurch sie sich selbst über- wie unterschätzen; sie haben kaum Konkurrenz; sie lernen nicht, mit Frustrationen und Fehlern umzugehen und daraus Schlüsse zu ziehen; sie wissen nicht, welche Erfolge sie haben könnten, wenn sie sich anstrengen. Sie entwickeln keine Lerntechniken.
Sie sind nicht gefordert, sie bekommen keine Information darüber, wie sie ihre Fähigkeiten einbringen könnten, der Kontakt mit Gleichaltrigen wird schwierig. Im schlimmen Fall resignieren die Hochbegabten und glauben, ihr Potenzial niemals umsetzen zu können. Darauf folgen Depressionen.
Begabungsförderung
Hochbegabte sind Individuen, viele verfügen über Nischenwissen, bringen aber in anderen Bereichen keine Höchstleistungen; manche sind sozial vollständig integriert, andere ecken überall an und entwickeln Symptome, die an das Borderline-Syndrom oder sogar an Formen von Autismus erinnern.
Förderung betrifft hier immer das Individuum. Hochbegabte haben besondere Bedürfnisse, sich zu entwickeln, und je früher sie diese Bedürfnisse erfüllen können, umso besser.
In der Schule gibt es viele Möglichkeiten, sie zu unterstützen: Eine davon ist das Überspringen von Klassenstufen, weil der Hochbegabte dem Lehrstoff weit voraus ist. Eine andere Möglichkeit sind zusätzliche Lernangebote. Wenn der Schulstoff den Hochbegabten nicht reicht, können sie sich in zusätzlichen Arbeitskreisen einbringen, mit Lehrern an Projekten arbeiten und spezielle Kurse besuchen. Dort können sie sich mit „ihren Themen“ beschäftigen, ohne dass dies die Mitschüler über – und sie unterfordert.
Allerdings müssen solche Maßnahmen sorgfältig abgewogen werden. Eine Klassenstufe zu überspringen zum Beispiel greift in die Entwicklungszeit des Kindes ein. Ist der Hochbegabte auch emotional reif genug, mit Älteren zusammen in einer Klasse zu sitzen? Ist er gut in seiner jetzigen Klasse integriert? Geht es ihm besser, wenn er eine Klasse überspringt?
Für sozial integrierte Hochbegabte ist es meist besser, wenn sie ihre Themen vertiefen können, ohne die Klasse zu wechseln. Hochbegabte lernen gerne und beschäftigen sich deshalb mit „Schulstoff“ auch in ihrer Freizeit. Dazu lernen sie aber nicht mehr „gleiche Aufgaben“ wie in der Nachhilfe, sondern sie wollen ihre Themen erweitern, neue Methoden entwickeln und über den Stoff mitbestimmen.
Allerdings akzeptieren viele Hochbegabte keine zusätzlichen Angebote innerhalb der Schule, sondern bilden sich außerschulisch weiter. Ein solches Verhalten ist für Hochbegabte sogar typisch.
Lehrkräfte, die mit Hochbegabten arbeiten, sind hier gefordert, indem sie die Möglichkeit geben, diese außerschulischen Erfahrungen in den Unterricht einfließen zu lassen. Ein Klassiker ist der Hochbegabte, der im Englischunterricht Däumchen dreht, während er für Literaturmagazine Faulkner, Melville oder Cormack McCarthy rezensiert. Lehrer können ihn dazu inspirieren, seine Arbeit in Form von Referaten im Unterricht vorzutragen.
Nachmittags-, Wochenend- oder Ferienkurse nehmen Hochbegabte gerne in Anspruch. Dadurch sind sie ausgelastet und verweigern sich weniger dem Unterricht. Zudem arbeiten die Teilnehmer hier in kleinen Gruppen, so dass die Leiter besser auf jeden Einzelnen eingehen können. Außerdem hassen viele Hochbegabte Lehrpläne, und die außerschulischen Kurse brechen das Lernen nach Vorschrift auf.
Solche Kurse stärken zudem die sozialen Fähigkeiten der Hochbegabten. Sie können Freundschaften „auf gleicher Augenhöhe“ schließen und entwickeln so Teamfähigkeit, ohne in die Rolle des „Professors“ oder unbezahlten Nachhilfelehrers zu rutschen.
Hochbegabte im Kindergarten
Viele Hochbegabte bekommen soziale Probleme im Alltag, weil sie sich bereits im Kindergarten als anders erfahren. Gerade kleine Kinder leiden unter sozialer Isolation, und im Kindergarten kann das dazu führen, dass Hochbegabte entweder ihren Intellekt verleugnen oder, umgekehrt, andere Kinder mit ihrer Arroganz brüskieren.
Doch es gibt viele Möglichkeiten, Hochbegabte bereits vor der Schule zu fördern. Sie können spielerisch an Fremdsprachen herangeführt werden, Sachbücher lesen, basteln, anspruchsvolle Spiele durchdenken, etc..
Das Elternhaus
Die beste Möglichkeit, hochbegabte Kinder zu fördern, haben die Eltern: Sie können darauf achten, den Kindern das Vertrauen zu geben, ihre Andersartigkeit weder als „Auserwähltsein“ noch als Behinderung zu begreifen.
Wenn die Eltern selbst intellektuelle Interessen haben, umso besser. Wenn nicht, können sie ihren Kindern zuhören oder Fachleute um Rat fragen. Auch wenn der Vater lieber Sportschau guckt, kann er mit seinem Kind Museen, Zoologische Gärten, Messen und Ausstellungen besuchen.
Ein Ausweis der Stadtbücherei ist für Hochbegabte ein Geschenk; wenn Hochbegabte Zugang zum Internet haben, suchen sie sich ihre Seiten von selbst. Dokumentationen im Fernsehen und Wissensmagazine sind Nahrung für Kinder, die ihren Hunger nach Wissen nicht befriedigen können.
Wichtig ist, den Kindern zuzuhören, auch wenn es die nicht-hochbegabten Eltern nervt. Hochbegabte sprudeln über vor Energie, und zuhause sind die Eltern das einzige Publikum, das ihren Ausführungen über die Unterschiede des Jagdverhaltens von Habicht und Turmfalke lauschen kann.
Die Eltern sollten spätestens aufmerksam werden, wenn das Kind nicht in die Schule will, ständig Bauch- oder Kopfschmerzen hat, seine Hausaufgaben nicht machen will, sich ständig ablenken lässt und einfache Aufgaben nicht bewältigt, scheinbar ohne Grund in Wut ausbricht oder unter Ängsten leidet. Das sind sichere Anzeichen dafür, dass das Kind emotional überfordert ist und manchmal ein Zeichen für Hochbegabung.
Leider missdeuten viele Eltern, die nicht hochbegabt sind, diese Symptome. Sie halten das Kind für faul oder, schlimmer noch, für dumm, weil es ja scheinbar „zu blöd“ ist, simple Tätigkeiten zu erledigen. Bei Hochbegabten führt diese Missdeutung dazu, dass sie sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurückziehen, immer „dümmer“ wirken und dies, im schlimmsten Fall, sogar selbst über sich denken.
Hochbegabung bei Erwachsenen
Ein Vermeidungsverhalten muss nicht Hochbedeutung bedeuten, kann es aber, und sollte deshalb als Indiz wahrgenommen werden. Lässt sich jemand immer Ausreden einfallen, wenn er auf Parties eingeladen wird, beteiligt er sich nicht am „sozialen Leben“ vor Ort, meidet er Schützenvereine, Feuerwehr oder den Dorfchor. Steht er gelangweilt in der Ecke, wenn die anderen Jungs Fußball spielen? Quittiert er die Ausführungen anderer über „Gott und die Welt“ mit arroganten Bemerkungen, schlägt er gut gemeinte Angebote von Kollegen aus, beim Betriebsausflug „die Sau rauszulassen“? Gilt er als „Eigenbrödler“, als „Streber“, oder ist er bei seinen Altersgenossen unbeliebt?
Wer sich so verhält, muss nicht hochbegabt sein. Denkt er aber vielleicht schneller als seine Kollegen. Wird er ungeduldig, weil er in Gedanken schon zehn Schritte weiter ist? Wirkt er „wie auf Kokain“? Bewegt er sich ständig in „anderen Sphären“? Dann liegt die Vermutung nahe, einen Hochbegabten vor sich zu haben.
Entscheidend ist, wie der Hochbegabte sich in die Gruppe integriert hat, wie er sich gegenüber seinen Kollegen verhält und sie sich ihm gegenüber. Geht er mit seiner Lösung zum Chef, während die anderen noch über eine Lösung grübeln? Dann gilt er schnell als „Schleimer“. Sind die anderen ihm zu langsam und er ist genervt, wenn er ihnen zum hundertsten Mal die Lösung erklärt, wirkt er arrogant – und das häufig zu Recht. Schnell eskaliert jetzt ein Konflikt: Die Kollegen verschwören sich gegen den „Streber“, einer gibt den Anstoß, und die Gruppe grenzt den Hochbegabten aus.
Der sieht jetzt noch weniger die Notwendigkeit, sich mitzuteilen, sucht seine Lösungen allein und gibt sie an den Chef weiter. Jetzt startet das Mobbing, der „Ankläger“ sieht sich nicht nur im Recht – indem er den Hochbegabten zum sozialen Outcast erklärt, sticht er zugleich einen Konkurrenten aus, dem er nicht gewachsen wäre.
Doch Hochbegabte scheitern nicht nur daran, dass sie komplexe Aufgaben schneller lösen, sondern auch daran, dass sie banale Aufgaben nicht erkennen. Zum Beispiel haben sie die Lösung längst im Kopf gehabt und sind viel weiter, während der Chef erwartet, genau diese einfache Aufgabe zu lösen. Der Grundstein für ein solches Verhalten wird oft in der Schule gelegt: Hochbegabte sind unterfordert und lernen zugleich die „banalen“ Techniken des Arbeitsalltags nicht.
Vielleicht können sie manchmal sogar die nächsten Schritte überspringen, um zu einer Lösung zu kommen. Nur steht dies erstens konträr zur Teamarbeit, und zweitens erleiden sie mit diesen schnellen Lösungen auf Dauer Schiffbruch, gerade in bürokratischen Systemen: Auch Hochbegabte müssen Baugenehmigungen beantragen, die Steuererklärung ausfüllen, oder die formalen Kriterien für eine Doktorarbeit erfüllen, selbst wenn sie in Gedanken schon viel weiter sind.
Beispiele sind Geisteswissenschaftler, die die neuesten Erkenntnisse über Kafkas Frauenbild im Licht seiner psychosomatischen Krankheiten liefern, aber nicht wissen, wie sie ein Laptop an den Beamer anschließen. Haben sie zugleich soziale Ausgrenzung erfahren und verinnerlicht, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können, ist das Scheitern Programm.
Manche Hochbegabte gelten als „Partymuffel“. Smalltalk ist ihnen fremd, sie gehen ungern auf Parties, und stehen in der Ecke, wenn die anderen sich über die neuesten Fußballergebnisse unterhalten. Bei ihrem eigenen Geburtstag halten sie dann, zur Überraschung der Gäste, in der Küche einen Vortrag über Hegel.
Oder Hochbegabte versuchen, den Kontakt aufzubauen. Da sie Smalltalk aber nicht nur verabscheuen, sondern auch nicht beherrschen, greift sie zum Beispiel in das Fachsimpeln über das letzte Spiel des lokalen Fußballvereins ein, indem sie die neueste soziologische Forschung zur Massendynamik am Beispiel der Fankultur erörtern.
Zum Running Gag unter seinen Kommilitonen wurde ein lediger Hochbegabter auf Suche nach einer Partnerin, der den von ihm Begehrten auf Uniparties stundenlange Vorträge über die Fehler des hermeneutischen Denkens hielt und sich jedes Mal wunderte, warum diese nach seinem Monolog wortlos verschwanden, statt mit zu ihm nach Hause zu kommen.
Solche Menschen gelten meist als sozial inkompetent, und oft sind sie das auch. Bei Hochbegabten liegt eine solche „soziale Inkompetenz“ an ihrer graduell anderen Wahrnehmung des Themas. Bereits sich auf eine „banale“ Kommunikation einzulassen, bedeutet für sie eine Übersetzungsleistung. Die normal Begabten verstehen nicht, dass es für Hochbegabte Arbeit bedeutet, ihre Gedanken in klar verständlichen Worten zu vermitteln.
Betroffene geraten in einen Teufelskreis, wenn sie dieses Verhalten kultivieren. Nicht wenige Hochbegabte baden sich im Status des verkannten Genies, das aufgrund seiner Genialität sozial isoliert ist. Das hat zwar einen wahren Kern, ist aber keine Gabe, sondern zeigt das Lernfeld auf. In der sozialen Kommunikation sind diese Hochbegabten nämlich gerade nicht hochbegabt, sondern haben Defizite, an denen sich arbeiten lässt.
Anders sieht es bei Erwachsenen aus, die niemals erkannten, dass sie hochbegabt sind. Zeigt ihnen ein Test ihre Hochbegabung, dann glauben sie oft nicht an dessen Aussagekraft. Solche Hochbegabte zweifeln ständig an sich selbst. Diese Menschen glauben eher, dass sie sich nicht vermitteln können, wenn Kollegen sie ausgrenzen, als dass sie eine besondere Gabe haben. Ihre vertieften Interessen erscheinen ihnen im Lauf der Zeit als „Spleen“.
Ihre Gabe, Situationen zu erfassen, führt dann dazu, dass sie sich den möglichen Verlauf eines Gespräches vor Augen führen, um potenzielle Konflikte zu entschärfen. Das ist für die Anderen zwar bequem, verschleudert aber das Potenzial des Betroffenen.
Viel zu oft haben sie erfahren, mit ihrem Wissen anzuecken: Das gilt für Studierende, die ihrem Professor fachlich weit überlegen sind und deswegen von dem Minderbegabten in höherer Position weg gemobbt werden ebenso wie für kaufmännische Angestellte, die dem Chef einen alternativen Vorschlag machen und deswegen auf der Karriereleiter abrutschen.
Auch hier setzt leicht ein Teufelskreis ein: Die Hochbegabten realisieren aufgrund ihrer eigenen Wahrnehmung nicht, dass der Graduierte tatsächlich keine Ahnung hat. Es liegt außerhalb ihres Horizontes, dass ein intellektuell so eingeschränkter Mensch auf einer Professur sitzt. Je mehr der Professor sie mit faulen Tricks wie dem Suchen nach Fehlern in Fußnoten versucht, weg zu beißen, umso mehr knien sich die Hochbegabten in die Materie – je besser sie werden, umso mehr tritt der Professor nach. Denn die Hochbegabten sägen, ohne es zu wollen, an dem Stuhl dessen, der dort nicht hin gehört.
Die Uni ist kein Paradies, in dem Hochbegabte sich endlich entfalten können, sondern ein gesellschaftlicher Ort, an dem ebenso alles platt gemacht wird, was über das Mittelmaß hinaus geht wie andernorts. Das unausgesprochene Gesetz zweitklassiger Professoren besteht darin, keine Erstklassigen nach oben kommen zu lassen, und der hochbegabte Student befindet sich gegenüber solchen cleveren Nieten in der gleichen Position wie zuvor gegenüber unterdurchschnittlichen Lehrern, die ihre Scholle verteidigten. Respektierte Studierende sind in dieser Situation Studierende, die weniger wissen als der Professor – und wenn das Wissen des Professors als Klopapier taugt, hat der Hochbegabte schlechte Karten.
Auch Erwachsene mit besserem Charakter haben Angst vor Kritik. Hochbegabte legen es vielleicht gar nicht darauf an, jemand bloßzustellen, wenn sie sagen, was sie wahrnehmen, doch ihre ungewohnten Ideen lösen Stress aus bei denen, die sich dadurch in Frage gestellt sehen – und die Gestressten reagieren mit Ablehnung.
Hochbegabte, die ihre Menschenkenntnis entwickelten, haben als Erwachsene meist gelernt, solche Klippen zu umschiffen. Zum Beispiel mischen sie sich nur ein, wenn sie wissen, dass Andere das honorieren, sei es, indem sie ihnen das Smartphone einrichten oder nur antworten, wenn sie nach ihren Ideen gefragt werden.
Ideal ist, wenn sie sich Berufen widmen, in denen Andere sie ausdrücklich wegen ihrer Begabungen aufsuchen. Die Spannbreite ist groß, denn Hochbegabte arbeiten sich viel schneller in Themen ein als Normalbegabte. Ob als Fotograf, als Webdesigner, als Seminarleiter oder insbesondere in Berufen, in denen Wissen und unkonventionelle Methoden zugleich gefragt sind – wo immer ihr Wissen keinen Anstoß erregt, können sie sich entfalten und dienen zugleich ihrer psychischen Gesundheit.
Zufriedenheit für Hochbegabte steht und fällt damit, ob sie eine Nische finden, in denen sie ihre Möglichkeiten entwickeln können, in denen ihre Höchstleistungen sogar gefordert werden, und in denen Normalbegabte sich nicht neidisch mit ihnen vergleichen müssen.
Wenn hochbegabte Erwachsene eine Therapie aufsuchen, dann tun sie dies selten wegen ihrer Hochbegabung, von der sie meist nichts ahnen. Sie kommen wegen sozialen Problemen, wegen Depressionen, Ängsten und psychosomatischen Erkrankungen.
Therapeuten können eine Hochbegabung an bestimmten Merkmalen erkennen: Hochbegabte denken und sprechen schnell, so dass Andere Probleme haben, zu folgen; sie drücken sich sprachlich außerordentlich gut aus, können vom konkreten abstrahieren und logisch denken, dazu verfügen sie über einen großen Wortschatz und immenses Wissen aus verschiedenen Bereichen.
Sie reflektieren Probleme intensiv und geben sich nicht mit halben Antworten zufrieden, manche können deshalb schwer Entscheidungen treffen, weil sie die unterschiedlichen Aspekte eines Zusammenhang berücksichtigen; sie lieben harte Diskussionen und kritisieren subjektive Einschätzungen – auch ihre eigenen.
Der Therapeut sollte spätestens dann aufhorchen, wenn Betroffene beklagen, wegen ihrer Andersartigkeit ausgeschlossen zu werden; wenn sie über Langeweile bei Routinearbeit erzählen, wenn sie sich selbst über Gebühr kritisieren und sehr hohe Ansprüche an die eigene Leistung stellen.
Vorsicht: Studien ergaben, dass bei therapierten Hochbegabten oft fälschlich eine Borderline-Störung diagnostiziert wurde. Das Gefühl des „Andersseins“ ähnelt sich, auch die Resignation, „nirgendwo hinein zu passen“, und manche Hochbegabte nehmen auch wahr, „neben sich zu stehen“.
Doch Borderline ist die Folge eines Traumas und sagt nichts über eine Hochbegabung aus. Ein relativ zuverlässiges Kennzeichen für Hochbegabte ist umfangreiches und autodidaktisch erarbeitetes Wissen in vielen Bereichen. Borderliner wirken zwar auch auf den ersten Blick so, als ob sie ein solches Wissen hätten, aber sie speichern im Unterschied zu Hochbegabten ab, was sie in ihrer jeweiligen Umwelt „aufschnappen“, und Borderliner entwickeln, im Unterschied zu Hochbegabten kaum einen eigenen Standpunkt.
Hochbegabte zu pathologisieren ist das Schlimmste, was ihnen passieren kann. Sie leiden nicht unter einer psychischen Störung, sondern entwickeln im Ernstfall eine psychische Störung, weil sie eine Gabe nicht umsetzen können. Ein leidender Hochbegabter heilt sich dadurch, dass er ein reales Potenzial in die Welt bringt.
Mythos und Mode
In den USA und Deutschland steigt die Zeit vermeintlich Hochbegabter seit Jahren drastisch an. Es ist zwar richtig, dass viele Hochbegabte unerkannt bleiben, immer mehr Eltern ziehen daraus jedoch den falschen Schluss, dass ihre Kinder verkannte Genies seien.
Der Hochbegabtentest ist eindeutig. Wer einen IQ über 130 zeigt, gilt als hochbegabt. Dazu kommen andere Tests, die auf die Gabe zur Auffassung zielen, auf die gesteigerte Wahrnehmung, die Fähigkeit zur Reflexion, die Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen, neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Nur jeder Dritte der „Kandidaten“ besteht diesen Test, und viel zu viele der ehrgeizigen Eltern ziehen danach mit ihrem Kind zum Schulpsychologen, damit der „beweist, dass ihr Kind doch hochbegabt ist.“
Die „Förderung“ solcher angeblich Hochbegabter überschreitet bisweilen die Grenze zum Missbrauch. Ein Nachhilfelehrer berichtet zum Beispiel: „Ich fragte die Mutter am Telefon, warum ihre 14jährige Tochter nicht mir selbst über ihre schlechten Noten in Mathe berichtet. Sie sagte, ich müsse mir vor Ort ein Bild machen. Ich traf ein Mädchen, das mit angezogenen Knien auf dem Bett saß und in die Gegend stierte. Die Mutter erläuterte mir dann, Sofia hätte in Mathe immer eine Eins gehabt. Im letzten Halbjahr hätte sie nur noch eine Zwei gehabt und jetzt stünde sie zwischen zwei und drei. Auch in anderen Fächern würde sich ihr Notendurchschnitt derart verschlechtern. Ich sah ein terrorisiertes Kind, das den überzogenen Ansprüchen einer Mutter gerecht werden sollte, aber keinerlei Probleme hatte und sagte der Mutter: Ich helfe Schülern, die in der Klasse nicht mitkommen, deren Versetzung gefährdet ist, und die nicht wissen, wie sie lernen sollen. Ihre Tochter ist eine gute Schülerin, und ich hoffe, dass sie ohne Angst zur Schule geht.“
Das Mädchen war, wie viele Andere, die unter den Projektionen ihrer Eltern leiden, nicht hochbegabt, sondern sollte mit Zwang Bestnoten erreichen.
Es stimmt zwar, dass Lehrer Hochbegabte oft nicht erkennen, viele Eltern drehen diese Tatsache aber um: Hat das Kind schlechte Zeugnisse oder stört im Unterricht, gilt es als hochbegabt. Besonders Eltern, die von Pädagogik keinen Schimmer haben, basteln ihren Kindern mit der vermeintlichen Hochbegabung einen Heiligenschein – sie verhalten sich damit nicht anders als die Väter von Klassenschlägern, die wahlweise den Lehrer oder das Opfer für die Gewalt ihres Sprösslings verantwortlich machen.
Wirklich hochbegabte Kinder, die durch antisoziales Verhalten auffallen, sind indessen rar. Typisch für unterforderte Hochbegabte ist eher, dass sie unter dem Tisch lesen, wenig am Unterricht teilnehmen, Dinge (real) besser wissen als die Lehrer oder auffällige Spezialinteressen haben.
Wenn hochbegabte Kinder im regulären Unterricht stärker gefördert und gefordert würden als dies gegenwärtig der Fall ist, rückte dies auch den Mythos Hochbegabung gerade. Eltern, die sich hochbegabt für ihr Kind auf die Fahnen schreiben wollen, sehen nämlich schnell alt aus, wenn ihr „Statussymbol“ sich mit wirklich Hochbegabten austauscht.
Zudem gilt es, reale Hochbegabte von der neoliberalen Verwertung „exzellenten Humankapitals“ zu befreien; Hochbegabtenförderung ist keine Hühnerzucht, um Konzernen goldene Eier ins Nest zu legen, sondern eine Hilfe für Menschen mit besonderen Fähigkeiten, um ihre Gabe in Freiheit zu entfalten. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Helga Simchen: Kinder und Jugendliche mit Hochbegabung: Erkennen, stärken, fördern - damit Begabung zum Erfolg führt, Kohlhammer Verlag, 2005
- Andrea Brackmann: Jenseits der Norm - Hochbegabt und hoch sensibel?, Klett Cotta Verlag, 2005
- Albert Ziegler: Hochbegabung, UTB GmbH, 2008
- Aiga Stapf: Hochbegabte Kinder: Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung, C.H.Beck, 2003
- Gail A. Alvares et al.: "The misnomer of 'high functioning autism': Intelligence is an imprecise predictor of functional abilities at diagnosis", in: Autism, 2019, Sage Journals
- Sabine Rohrmann; Tim Rohrmann: Hochbegabte Kinder und Jugendliche Diagnostik – Förderung – Beratung, Ernst Reinhardt Verlag, 2010
- Manon Garcia: Hochbegabung bei Erwachsenen: Erkennen, akzeptieren, ausleben, Books on Demand, 2016
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.