Hochsensible reagieren stärker auf Reize als „Normale“, nehmen sie intensiver wahr und brauchen deshalb mehr Zeit, sie zu verarbeiten. Hochsensibilität, auch Hochsensitivität genannt, hat eine neuronale Basis. Die Nervenzentren, die Erregungen mindern, sind weniger stark ausgebildet als bei „Robusteren“, und die Großhirnrinde wird stark erregt. Der Thalamus erkennt mehr Reize als bedeutend und schickt sie an das Bewusstsein. Dafür sprechen auch ein erhöhter Cortisolspiegel bei Hochsensiblen, und eine hohe Empfindlichkeit gegenüber Koffein, Hunger und Durst.
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„Wir werden als Joker im Pokerspiel des Lebens geboren. Aber wenn wir heranwachsen, werden wir zu Herz und Karo, Kreuz und Pik. Das heißt nicht, dass der Joker ganz verschwindet.“ (Jostein Gaarder)
Das Gehirn nimmt zwar nicht mehr Informationen auf als bei „Normalen“, filtert aber weniger aus diesen Eindrücken heraus. Der Hochsensible wird also von Reizen überschwemmt.
Hochsensibilität ist vermutlich auch bei anderen Säugetieren verbreitet, und zwar nicht als seelische Störung, sondern als besondere Fähigkeit, die das Überleben der Population sichert: Hochsensible Tiere sind nämlich risikoscheuer und weichen so vor unbekannten Gefahren zurück.
Sensitive nehmen Stimmungen anderer Menschen intensiver wahr, sie analysieren gründlich und haben einen ausgeprägten Sinn für Details einer Situation.
Eigenschaften bei Hochsensibilität
Betroffene nehmen Reize nicht nur tiefer, sondern auch intensiver wahr und speichern sie in dieser Bandbreite ab.
Während andere zum Beispiel nur erinnern, dass die Frau am Nachbartisch eine Zigarette rauchte, prägt sich der Betroffene die schlanken Finger und den zinnoberroten Nagellack ein, erinnert, dass sie die John Player Special nur bis zu zwei Dritteln aufrauchte, bevor sie sie ausdrückte und sich danach sofort eine neue anzündete, schließt daraus, dass sie nervös ist, denkt, dass sie vielleicht im Cafe auf ihren Partner wartet, mit dem sie ein Krisengespräch führen möchte, der aber nicht kommt und jetzt nicht weiß, ob sie ihn anrufen soll oder nicht.
Sie reagieren nicht nur überempfindlich in dem Sinne, dass er sehr stark auf Reize reagiert, er nimmt die Umwelt auch erhöht wahr.
Betroffene sind oft äußerst fantasievolle Menschen, und ihre Fantasie besteht aus vielen Schichten, in denen sich psychische Eindrücke, äußere Realitäten, Analyse und Reflexion mit unbewussten Inhalten vernetzen.
In ihnen jagen sich also nicht unbewusste Inhalte gegenseitig wie zum Beispiel bei Manikern, sondern Betroffene differenzieren insbesondere soziale Beziehungen sehr fein.
Sie begeistern sich leicht für Neues, und haben vielseitige Interessen, die sie meist schwer unter einen Hut bekommen.
Das Langzeitgedächtnis ist weit entwickelt, allerdings vergessen sie im Kurzzeitgedächtnis manches Alltägliche, weil sie auch für andere unwichtiges abspeichern. Das ausgeprägte Langzeitgedächtnis resultiert daraus, dass ihre verstärkte Wahrnehmung für Details diese detaillierten Informationen im Unbewussten speichert, wo sie abrufbar sind.
Sie erkennen die Gefühle, die Verfassung und die Motive anderer Menschen leicht und in Einzelheiten; anderen kommt es oft so vor, als blicke der Hochsensible „hinter die Kulissen“. Bisweilen ist diese ausgeprägte Empathie anderen Menschen unheimlich. Sie haben das Gefühl, dass der Hochsensible sie „besser kennt als sie sich selbst“.
Betroffenen ist dabei oft nicht bewusst, dass andere Menschen diese Wahrnehmung nicht haben, und sie werden deshalb leicht ausgenutzt. Manche Hochsensible nehmen die Rolle des Seelentrösters ein: Ihre guten und weniger Bekannten suchen sie auf, um ihre Probleme abzuladen.
Das bringt Betroffene in Gefahr, denn er nimmt zwar genau wahr, was den anderen bedrückt, hat aber auch eine „dünne Haut“, kann sich also kaum abgrenzen und speichert die Probleme anderer Menschen in sich ab.
Zugleich sind sie durch die Stimmungen anderer Menschen leicht beeinflussbar und können oft nicht trennen, ob ein Gefühl von ihnen oder ihrem Gegenüber kommt.
Angehörige verstehen oft nicht, warum ihr Kind, dem es morgens noch gut ging, abends tieftraurig in seinem Zimmer hockt, nachdem es einen Freund besuchte, dessen Onkel gestorben ist.
Manche erleben sogar Filme oder Romane, als seien sie selbst dabei. Bei jedem psychischen Problem, von dem sie hören, erkennen sie sich selbst und verstehen oft nicht, dass das nur insofern an ihrem Selbst liegt, dass sie sich einfühlen können.
Dazu kommt bei Betroffenen eine intensive Intuition. Wie wir heute wissen, ist das schnelle, das intuitive Denken ein eigenständiges System, das mit dem langsamen, intellektuellem Denken allerdings korrespondiert.
„Kopfmenschen“ stört an Hochsensiblen meist, dass diese Entscheidungen „aus dem Bauch“ treffen, und Sensitive geraten in Bedrängnis, wenn sie scheinbar unlogische Handlungen erklären müssen.
Begabte Hochsensible werden oft Künstler, also Menschen, die aufs Bild oder Papier bringen, was sich in einer Gesellschaft anbahnt, aber noch im Unbewussten wächst, und sie erleben Kunst wie Musik intensiv.
Erlebnisse wirken in ihnen stärker nach als bei anderen. An eine Reise erinnern sie sich zum Beispiel oft noch Jahre später, und Momente wie der erste Kuss bleiben in ihrer Erinnerung, als wären sie erst vor wenigen Minuten geschehen.
Sensitive denken in großen Zusammenhängen. Viele beschäftigen sich deswegen mit Politik oder Spiritualität. Sie haben eine soziale Ader, suchen nach Harmonie und erfüllen Aufgaben gewissenhaft bis hin zum Perfektionismus.
Hochsensibilität ist keine psychische Störung, sondern Hochsensitive sind komplexe Persönlichkeiten, die vor allem ihre Gefühle sehr genau kennen, also einen intensiven Draht zu sich selbst haben.
Manche psychische Störungen weisen jedoch erstens Ähnlichkeit auf und können zweitens bei Hochsensiblen entstehen, deren besondere Persönlichkeit tief verletzt wurde. Das gilt zum Beispiel für das Borderlinesyndrom, aber auch für verschiedene Psychosen.
Die Schwächen der Sensitivität
Betroffene verarbeiten Reize intensiv und wirken deshalb auf andere meist introvertiert, bisweilen sogar arrogant. Das liegt daran, dass ihr Unbewusstes stark arbeitet, meist, ohne dass die Sensiblen andere ihre inneren Geschichten mitteilen.
Sie haben zudem eine so reiche Innenwelt, dass sie sich ausgezeichnet darin bewegen können, und das über Stunden. Außenstehende interpretieren das häufig falsch, nämlich als Kontaktscheu, Schüchternheit oder soziale Hemmung.
Hochsensitive reagieren überdurchschnittlich auf Medikamente, Drogen, Alkohol und Koffein. Suchtmittel wirken bei ihnen erstens stark, zweitens haben sie Probleme, Grenzen einzuhalten. Ihre sowieso schon überreiche Fantasie schäumt über unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol, wobei Außenstehende keine Zusammenhänge in dem finden, was der Betroffene mitteilen will.
Ihre Empathie ist so groß, dass sie unreflektiert von sich auf andere schließen und sich damit in schwierige Situationen bringen. Zum Beispiel könnte ein Hochsensibler begeistert einen Fantasyroman schreiben, einen Verleger kennen lernen und davon ausgehen, dass der von der Story ebenso begeistert ist, während es dem Gegenüber darum geht, welche Chancen ein Buch auf dem Markt hat. Der Hochsensible steigert sich in die Arbeit und landet auf Glatteis.
Sie sind zudem schnell überfordert durch innere wie äußere Anforderungen und lassen sich von ästhetischen Reizen leicht ablenken. Ihre starke Erregung durch äußere Reize empfinden sie selbst oft als unangenehm, sei es, dass sie einen Raum nicht betreten können, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch liegt, sei es, dass sie erschöpft sind, wenn sie auf dem Arbeitsweg durch die Innenstadt gehen und die Stimmungen der Menschenmassen wahrnehmen.
Das Hauptproblem ist jedoch, dass ihre spezielle Wahrnehmung mit dem Lebensstil der „Normalen“ kollidiert. Sie denken tiefer und fühlen intensiver, sie leiden unter den glatten Fassaden der Warenwelt, sie suchen nach dem, was „hinter der Fassade“ ist und sind schockiert, wenn sich dort nichts befindet.
Wenn Sensitive sich nicht als Hochsensible erkennen, sondern als „Träumer“ bereits in ihrer Kindheit vereinsamten und in einem, in ihren Augen, oberflächlich kalten Beruf landeten, äußert sich ihre besondere Veranlagung in Verhalten, das sie selbst und andere negativ wahrnehmen.
Sie zeigen eine geringe Frustrationstoleranz, werden aggressiv, weil die Reize sie überfordern, suchen „den Fehler bei sich“, gelten als „Prinzessin auf der Erbse“ oder „Sensibelchen“.
Wenn sie die unterschwelligen Konflikte zwischen Mitarbeitern spüren, gelten sie als „jemand, der überall seine Nase hinein steckt“.
Betroffene sind gut beraten, sich das Potenzial seiner Schwächen zu betrachten, denn meist handelt es sich um Eigenschaften, die nur in einem schädlichen Umfeld negativ wirken.
Er gilt als „überempfindlich“? Ist das nicht ebenso ein Kennzeichen seiner Feinfühligkeit? Er reagiert zu emotional? Also eine Umschreibung seiner Intuition? Er will immer alles erklären? Also denkt er in Zusammenhängen? Er ist ein Quertreiber? Also jemand, der kreative Lösungen findet?
Die Reizüberflutung führt zu den Erkrankungen, die mit Stress in Verbindung stehen: Depressionen, Konzentrationsschwäche, Muskelverspannungen und Bluthochdruck, Schlafstörungen und innere Unruhe.
Langsamkeit?
Hochsensible schlafen tatsächlich viel und entwickeln sich „langsam“. Obwohl sie jedoch als Kinder langsamer lernen, weil sie viel mehr Reizen widerstehen müssen, entfalten sie, bei einem geeigneten Umfeld, als Erwachsene ungeahnte Fähigkeiten.
Sie können sehr schnell Wissen abrufen, und sie bleiben geistig wach bis ins Alter. Während sie äußerlich bisweilen träge wirken, ist ihr Innenleben äußerst rege und ordnet ständig neue Eindrücke in bestehende Muster ein.
Geistig sind Sensitive also alles andere als langsam, sondern entwickeln sich ständig weiter.
Harmonie
Sie halten sich oft für konfliktscheu und gelten bei „Normalen“ als Feiglinge. Das stimmt nicht, aber wenn ihnen Wut entgegen schlägt, müssen sie diesen Reiz erst verarbeiten und können deshalb schlecht unmittelbar reagieren.
Sie arbeiten einen Konflikt in allen Details durch, ordnen ihn in die Muster der Beziehungen ein, sehen auch ihren eigenen Anteil, den Hintergrund des Aggressors und die vielschichtigen Ebenen.
Hochsensible, die ihr Potenzial positiv nutzen, wachsen an Konflikten, integrieren sie und verstehen ihr Gegenüber.
In der direkten Konfrontation ziehen sie dabei meist „den Kürzeren“. Auf lange Sicht sind sie aber diejenigen, die von dem Konflikt profitieren, weil sie ihn reflektieren.
Hochsensible Kinder
Betroffene Kinder stoßen oft auf Unverständnis bei den Eltern, im Kindergarten und der Schule. Unaufgeklärte Eltern halten das Kind für „schwierig“, weil es sich bei „allem anstellt“, was bei anderen Kindern funktioniert.
Als Kleinkind schreit es im Kinderwagen auf dem Schützenfest, weil die Menschenmassen es mit Reizen überfluten. Im Kindergarten versteckt es sich und weint, wenn es morgens aus dem Haus muss.
Wird es zu einem Geburtstag eingeladen, ruft die Mutter des Geburtstagskindes an, weil der Sprössling nach Hause will.
Wenn das Kind sich an Kindergarten und Schule gewöhnt hat, braucht es trotzdem Zeit, die Eindrücke dort zu verarbeiten. Zuhause angekommen zieht es sich zurück oder reagiert aggressiv, will seine Ruhe haben.
Ratlose Eltern hegen manchmal einen falschen Verdacht. Das Verhalten des Kindes deuten sie als Asperger, Autismus oder ADHS. Umso schlimmer, wenn der Hochsensible sich unverstanden fühlt und sich in seine überreiche Fantasiewelt zurück zieht, denn dann wirkt er noch mehr wie ein Autist, der ein abstraktes Verhältnis zu sozialen Beziehungen hat.
Am schlimmsten ist aber, dass er merkt, wenn seine Besonderheit als pathologisch gilt und gerade dadurch zeigt er ein Verhalten, dass diese „Störung“ vermeintlich bestätigt: Wenn er wegen seiner starken Empathie weint, weil ein Tier gequält wird, gilt er als hysterisch, und so stigmatisiert zu werden, ist für das Kind wiederum eine elementare Beleidigung.
Betroffene Kinder sprühen vor Ideen, und oft entwickeln sie tief gehende Gedanken über Sinn und Unsinn der Welt, die ihrem Alter weit voraus sind. Eltern von Sechsjährigen sehen sich mit Fragen über das Leben nach dem Tod konfrontiert, die viele von ihnen überfordern.
Im ungünstigen Fall nehmen diese Kinder die Rolle von Beratern ein, der sie aber nicht gewachsen sind. Ihre gleichzeitige Fantasie drängt nämlich zur Entfaltung, und sie sollten, bei allen „philosophischen Gedanken“ die Natur kennen lernen, Musik hören, lesen, im Matsch spielen und so ihre Gedanken mit lebendiger Erfahrung anreichern.
Das ist gerade für sie enorm wichtig, weil sie ansonsten frühzeitig den Kontakt zur materiellen Welt verlieren.
Sie sind zwar kontaktfähig, ziehen sich aber, wenn sie ihre Fantasien nicht umsetzen können, in ein Schneckenhaus zurück.
Eltern sorgen sich um ihre Kinder. Wenn sich aber Eltern von Hochsensiblen diese „Sorgen“ machen, und das empathische Kind diese als Ängste wahrnimmt, blockieren sie das Potenzial, ohne es zu wollen.
Gerade für Betroffene sind Sätze wie „ich mache mir Sorgen, was aus dir mal wird, wenn wir nicht mehr sind“ oder „deine Fantasie ist ja gut und schön, aber die Realität sieht anders aus“ wie Schläge ins Gesicht.
Betroffene wollen nämlich alles richtig machen, er träumt von einer gerechten Welt, und zusätzlich zu dem Druck der Eltern empfindet er jetzt die Last, anders sein zu müssen als er ist, um seinem eigenen Ideal und den falschen Vorstellungen gerecht zu werden.
Da es dem sensiblen Kind außerdem schwerfällt, sich selbst von den Projektionen anderer zu trennen, empfindet er sich zunehmend als Ursache der Schwierigkeiten in der Familie. Die Eltern sorgen sich in seiner Wahrnehmung, weil er, so wie er ist, falsch ist.
Der Hochsensible verliert das Selbstvertrauen, das besonders für jemand, der sich als andersartig erfährt, enorm wichtig ist.
Je mehr dieser Druck wächst, um so mehr ist das Nervensystem des Kindes überlastet und umso mehr reagiert das Kind gereizt. Am Ende stehen im schlechtesten Fall psychosomatische Erkrankungen, die das Kind darin bestätigen, dass es krank ist.
Viel mehr als für Normalsensible ist wichtig, dass die Eltern ihnen vermitteln, dass sie wertvoll sind, so wie sie sind und sie nicht zwingen, sich anzupassen, sie nicht mit den „Anderen“ vergleichen, was meist negativ ausfällt und sie nicht überfordern in Aufgaben für die diese Kinder nicht geeignet sind.
Der Hochsensible am Arbeitsplatz
Hochsensible erfassen mit ihren Sinnen komplex und im Detail. Weil ihre eigenen Gedanken, ihre Wahrnehmung für die Gefühle anderer und selbst philosophische Fragen über Sinn und Unsinn bei ihnen intensiv geistig verarbeitet werden, brauchen sie viel Zeit und viel Energie für diese Verarbeitung.
Weniger Sensible meinen deshalb, dass sich der Sensible in „Nebenstraßen“ verirrt, nicht systematisch arbeitet, „zum Punkt kommen soll“ oder „zu langsam“ wäre.
Zwar ist der Hochsensible in Gefahr, dass die Reize überhand nehmen, aber er erkennt auch Zusammenhänge, die den „Normalen“ verborgen bleiben, weil ihr Bewusstsein sie herausfiltert.
Am Arbeitsplatz bedeutet dies, dass schnelle Entscheidungen überfordern, und dass sie sich kaum auf nur eine Aufgabe konzentrieren können. Multitasking hingegen zählt zu ihren Fähigkeiten.
Konformität liegt ihnen nicht, nicht, weil sie „geborene Rebellen“ sind, sondern weil sie in ihrem eigenen Rhythmus und nach ihren eigenen Wahrnehmungen arbeiten, die die „Normalen“ als „anders“ empfinden.
Das heißt nicht, dass sie nicht auf Deadlines hin arbeiten können, sie tun dies sogar gewissenhaft. Aber sie brauchen dazu ihre eigene ruhige Atmosphäre, am besten ein eigenes Büro, in dem sie ihre Gedanken ordnen können.
In intimen Beziehungen wie in ihrem beruflichen Umfeld empfinden die „Normalen“ die intuitiven Schlüsse des Sensitiven auf das Verhalten der anderen oft als überinterpretiert oder umgekehrt geht es ihnen zu nahe.
Ein hohes Einfühlungsvermögen ist nicht immer gewollt, gerade autoritäre Vorgesetzte, die die Maske der Unerschütterlichkeit aufsetzen, fühlen sich von Mitarbeitern ungern „durchleuchtet“, was der Hochsensible tut, ohne es bewusst zu steuern.
Wenn die Kollegen Betroffene aber als „nicht von dieser Welt“ gering schätzen, missachten sie ein Potenzial, das sie selbst nicht haben. Hochsensible verstehen komplexe Konflikte am Arbeitsplatz und finden dazu außergewöhnliche Lösungen, die im Horizont der „Normalen“ nicht auftauchen.
Durch ihr Langzeitgedächtnis sind viele von ihnen „wandelnde Lexika“. Am Arbeitsplatz bedeutet das zum Beispiel, dass sie sich an vergangene Fehler erinnern, die andere vergessen haben und so vor aktuellen Fehlentwicklungen warnen können.
Sie denken in Zusammenhängen, und das prädestiniert für Berufe, in denen ganzheitliche Wahrnehmung und Handeln in chaotischen Situationen notwendig ist. Sie eignen sich als Diplomaten wie als Therapeuten, als Reporter in Krisengebieten wie als Geisteswissenschaftler, aber auch als Supervisor in der Personalabteilung.
Dinge, die andere gar nicht wahrnehmen, stören sie indessen, sei es, dass der Schweißgeruch ihres Schreibtischnachbarn für sie unerträglich ist, sei es, dass die Sekretärin die leere Kaffeetasche vor dem Laptop des Hochsensiblen absetzt.
Zudem haben sie ihre eigene Ordnung, und dieses Bezugssystem ist für andere kaum verständlich. Wenn jemand an ihre Sachen geht, zum Beispiel den Schreibtisch des Hochsensiblen aufräumt, kann das diese Ordnung zerstören.
Der Betroffene braucht Zeit und Energie, um sich zu sammeln und reagiert entsprechend aggressiv. Ordnung heißt dabei mitnichten, dass andere darin eine Ordnung erkennen. Die vielfältigen Interessen und vielschichtigen Gedanken des Sensitiven lassen seinen Arbeitsplatz für Andere oft wie Chaos aussehen.
Für ihn hat es jedoch Sinn, dass zum Beispiel das Foto des Eifelturms genau neben dem Buch über Business-Strategien steht, und die Kaffeetasse mit der Mona Lisa neben dem Kalender mit dem Katzenbild.
Die Gegenstände haben für ihn symbolischen Wert auch insofern, dass sie seine unbewussten Muster aktivieren, die für ihn in viel stärkerem Ausmaß als für die „Normalen“ Basis seiner Arbeit sind.
Sie verarbeiten viel mehr Sinneseindrücke als andere, deshalb brauchen sie manchmal länger, um Situationen auszuwerten, dafür erfolgt dies aber gründlich. Sie leisten also nicht weniger als die „Normalen“, sondern sie leisten anders und oft großes.
Mitarbeiter halten sie oft für weniger leistungsfähig, weil sie sich über „Lappalien“ aufregen. Andere sind dann genervt, weil es dem Hochsensiblen zu heiß oder zu kalt ist, weil sie sich zurück ziehen, bei Diskussionen nicht sofort Stellung einnehmen, es sie stört, wenn der Zuckerstreuer nicht zu finden ist, etc. , sie mehr Pausen brauchen und bei einer Entscheidung „erst einmal darüber schlafen wollen“.
Normalsensible sehen das bisweilen als „Drückebergerei“ an, als „Unentschlossenheit“ oder gar als jemand, der „immer seine Extrawurst“ braucht.
Hochsensitive haben aber einen anderen Arbeitsrhythmus. Sie sind nicht unentschlossen, im Gegenteil brauchen sie den Abstand, weil sie eine schwer durchschaubare Situation in ihrer Komplexität erfassen statt „Hauruck-Lösungen“ anzubieten.
Sie nehmen nicht nur ihren eigenen Standpunkt wahr, sondern auch die Standpunkte der anderen und denken diese als vernetztes System.
Leider wachsen viele sensible Menschen damit auf, dass sie „anders sind“ und verinnerlichen, dass sie „immer alles falsch“ machen. Das stimmt aber nicht, sie brauchen ganz im Gegenteil ihr eigenes Management.
Betroffene, die für ihre Eigenartigkeit stigmatisiert wurden, treiben sich bisweilen in einen selbstzerstörerischen Kampf hinein. Sie sehen es als Schwäche an, gestresst zu sein und versuchen, sich abzuhärten, um „wie die anderen zu sein“. Sie kopieren das Verhalten der „Normalsensiblen“, um normal zu werden und werden immer unzufriedener, weil sie bei diesem Wettlauf nicht mithalten.
Zugleich ignorieren sie ihre Fähigkeiten, und das wiederum öffnet die Tür zum Missbrauch: Die gleichen Kollegen, die sie als „Prinzessin auf der Erbse“ mobben, klingeln nach Feierabend, um Ratschläge für ihre Eheprobleme zu bekommen, die sie dem Hochbegabten selbstredend nicht als Arbeit honorieren.
Der gleiche Vorgesetzte, der zuvor schimpfte „sie liefern immer zu spät“, ruft spätabends an, ob der Hochsensible nicht „mal kurz“ den Personalplan für den nächsten Monat überarbeiten könnte.
Heute gelten Betroffene indessen nicht mehr generell als „nutzlose Träumer“. Auch im Management kursieren heute Zauberworte wie „social skills“ oder „emotionale Intelligenz“. Ganzheitlich orientierte Führungskompetenz gilt zunehmend als Perspektive gegenüber dem neoliberalen Hauen und Stechen gefühlskalter Egozentriker.
Hochsensible sind in Großunternehmen also nicht mehr notwendig Mobbingopfer, oder unter Dauerstress leidende Unverstandene, die in die Normen von Schule und Beruf nicht hinein passen.
Ungewöhnliche Ideen, um Probleme zu lösen, über den Tellerrand hinaus zu blicken, vernetzte Wahrnehmung und hohe soziale Kompetenz gelten inzwischen als Schlüsselqualifikationen und beschreiben zugleich Hochsensibilität.
Betroffene erfassen zwischenmenschliche Prozesse besser als ihre Kollegen und sorgen sich zudem um ein harmonisches Betriebsklima. Das macht sie zwar nicht beliebt bei Mitarbeitern, die genau das, was der Sensitive erkennt, geheim halten wollen, von verdeckten Absprachen bis hin zu Betrug, doch für Unternehmen, die ein Miteinander schätzen und für Gerechtigkeit im Betrieb sind die Betroffenen unverzichtbar.
Die Nischen der Sensiblen
Betroffene, die versuchen, sich anzupassen, scheitern meist. Die wenigsten von ihnen enden zwar im sozialen Nichts, doch sie leiden an Stress, weil ihre soziale Kompetenz „for free“ in Anspruch genommen wird, während sie zugleich ein Verhalten ertragen müssen, das sie als Grobheit empfinden.
Menschen, die ihre Begabung erkannt haben, widersetzen sich jedoch diesem Weg der Anpassung, die einen früh, die anderen später. Am leichtesten fällt dies, wenn ihr engstes Umfeld sie dabei unterstützt.
Oft steht aber die verletzende Erfahrung der Andersartigkeit am Anfang. Erste Versuche, sich anzupassen, scheitern, und erst langsam begreift der Hochsensible seine Andersartigkeit als Stärke.
Da es kein Berufsprofil für sie gibt, müssen sie für den eigenen Weg meist durch Dornen gehen, bis sie Gleichgesinnte finden und Nischen, die für sie nicht nur geeignet sind, sondern die die „Normalen“ nicht besetzen können.
Zum Beispiel lesen „Normale“ auch gerne Psychothriller, die Zurückgezogenheit, die intensive Wahrnehmung der menschlichen Psyche, die akribische Recherche ohne den Gehaltscheck am Monatsende und die Fähigkeit, menschliche Beziehungen in ihren Netzen „von außen“ zu verstehen und zugleich in fiktive Geschichten zu übertragen, haben diese „Normalsensiblen“ aber nicht.
Manche konzentrieren ihre tief gehende Wahrnehmung und ihr abgespeichertes Wissen in intellektuelle Arbeit und nicht auf ihr emotionales Befinden. Gegenüber „Normalsensiblen“ entwickeln sie eine große Leidenschaft für ihre Arbeit, mit der sie ihren Fokus über Jahre verfolgen.
Viele sind künstlerisch begabt, und die Kreativität ermöglicht ihnen, ihr Leiden an den Zwängen der Gesellschaft in eine Form zu bringen. Hochsensible Maler und Schriftsteller sagen häufig, dass sie malen oder schreiben müssen, um nicht wahnsinnig zu werden. Auch sie sind überreizt, aber sie setzen diese Flut in Kunstwerken um.
Viele arbeiten auch in sozialen Berufen. Zum einen verfüge sie über die Empathie und die emotionale Intelligenz, ohne die es nicht möglich ist, ein guter Therapeut, Betreuer oder Heilpädagoge zu werden, zum anderen verfehlen einige ihr wahres Potenzial, weil sie ein Helfersyndrom entwickeln.
Sie haben so verinnerlicht, dass ihre für sie selbst verständliche Empathie ebenso gern gesehen wie kostenlos in Anspruch genommen wird, dass sie unbewusst Zuwendung suchen, indem sie anderen helfen.
Betroffene brauchen ein berufliches Umfeld, das es ihnen ermöglicht, konzentriert an einer Sache zu bleiben. Sie benötigen kalkulierbare Abläufe, ausreichende Ruhepausen und Balance zwischen den Lebensbereichen.
Vor allem aber brauchen sie eine sinnvolle Arbeit, denn das Gefühl, wichtiges zu tun ist ihnen wichtiger als ein dickes Gehalt. Sie müssen ihren Werten treu bleiben können, sie wollen Eigenverantwortung übernehmen und die Initiative ergreifen.
Sie brauchen eine Stelle, in der Entfaltung wichtiger ist als Machtpositionen, deshalb sind sie als Freiberufler und Fachkräfte gut geeignet, weniger als Führungskraft.
Sensitive blühen auf in einem Arbeitsumfeld, das durch Kooperation, Fairness und Koexistenz gekennzeichnet ist, Konkurrenz und Wettbewerb schadet hingegen ihrer Leistung.
Sie sind gut als Berater geeignet, nicht aber als aggressive Verkäufer für Dinge, die für sie selbst keinen Wert haben. In Unternehmen heißt das, sie sind gut darin, bestehende Kunden intensiv zu betreuen.
Ihre Sorgfalt entwickelt sich schnell zum Perfektionismus, dann muss der Hochsensible lernen, loszulassen.
Ihr ganzheitliches Denken kann ausufern und sie verzetteln sich. Die Lernerfahrung lautet hier, sich einen festen Rahmen zu geben.
Die Intuition ermöglicht ihnen Situationen schnell zu erfassen, der Hochsensible sollte aber seine Intuition durch seinen Verstand reflektieren.
Die Kreativität ermöglicht es, scheinbar zusammenhangloses miteinander zu verknüpfen, Wissen mit Bildern und Geschichten zu vermitteln, dabei muss der Hochsensible aber Gestaltung, Zeit und Vorgaben in Einklang bringen.
Soziale Arbeit im Tierschutz, bei Hilfsorganisatioen oder mit Kindern entspricht ihrer Empathie, aber Hochsensible überfordern sich hier schnell, weil sie sich nicht genug abgrenzen.
Planung, Koordination und Beratung liegt ihnen, ob als Lebensberater, in der Erwachsenenbildung oder je nachdem, wo sie ihr Spezialwissen sammeln.
Als Lehrer sind sie zwar gut geeignet mit Wissen, Enthusiasmus, Kreativität und dem Blick fürs Ganze, zugleich stressen sie aber große Klassen, Probleme mit Schülern wie Eltern, und die Lehrpläne.
Ihr Zugang zum Unbewussten macht sie wie geschaffen für Berufe wie Arzt, Psychologe, Gestalttherapeut oder Logopäde.
Die spezifische Begabung vorausgesetzt, eignen sich Hochsensible hervorragend als Profiler bei der Kriminalpolizei. Welches Tatmuster ein Verbrechen zeigt, was in dem Täter vorgeht, wie sein Umfeld aussehen könnte, wie seine Motive, eine solche Analyse entspricht der Fähigkeit, sich in andere Menschen hinein zu versetzen.
Der Blick für das Detail und ein gleichzeitig ruhiger Arbeitsplatz prädestiniert einen Hochbegabten bei vorhandenem Interesse auch dazu, als Restaurator in einem Kunstmuseum zu arbeiten, als Archäologe bei Ausgrabungen oder als Archivar.
Der Blick für das Ganze und zugleich sein Sinn für Ästhetik bieten ihm die Möglichkeit, sich in der Anlage von Gärten zu entfalten, als Landschaftsarchitekt oder als Berater für Wohnungseinrichtungen.
Ihre Kreativität öffnet den Weg in die darstellenden und bildenden Künste. Doch Vorsicht! Betroffene, die in ihren frühen Jahren darunter litten, wegen ihrer Andersartigkeit ausgegrenzt wurden und später ihr Potenzial entdecken, meinen bisweilen vorschnell „große Künstler“ zu sein.
Zu der vorhandenen Wahrnehmung und der Neigung sollte jetzt ein genaues Coaching kommen, wie sich dieses Potenzial umsetzen lässt. Die Gefahr ist groß, dass ein Hochbegabter sich als Maler, Bildhauer oder Schriftsteller verwirklichen will und zugleich die mörderische Konkurrenz auf dem Buchmarkt und der Kunstszene nicht erfasst – das bedeutet fast zwangsläufig Scheitern.
Statt dem „ganz großen Wurf“ könnte er probieren, den Einstieg in seine Interessen zu schaffen, zum Beispiel als Märchenerzähler in Kindergärten, oder er verbindet seine künstlerischen mit seinen sozialen Begabungen und bildet sich als Maltherapeut.
Worauf ist bei einer Hochsensibilität achten?
Hochsensibilität ist keine psychische Störung. Allein diese Erkenntnis hilft den „Andersartigen“, ihr Potenzial zu entdecken.
Zugleich können Hochsensible ihre Eigenschaften aber nur in einem Umfeld entfalten, das ihnen angemessen ist. Da viele von ihnen damit aufwuchsen, endlich „normal“ zu werden und zugleich ein gesteigertes Bedürfnis nach Harmonie haben, pressten sie sich viel zu oft in Beziehungen und Jobs, die ihnen schaden.
Bei einigen führt das zu psychischen Problemen, bei vielen dazu, dass sie zwar funktionieren, aber weit unter ihren Möglichkeiten bleiben wie die Aushilfe in der Behindertenbetreuung, die für ihre Bekannten Tatoo-Motive zeichnet.
Das größte Potenzial besteht in der Spannung zwischen ihrer vertieften Wahrnehmung und den realen Gewaltstrukturen der Gesellschaft. Oft leiden sie darunter sehr, doch gibt ihnen gerade die Einsicht in die Zwänge der Verhältnisse die Perspektive, Freiräume zu erkunden und ein sinnvolles Umfeld zu schaffen.
Jeder ist anders, und doch gibt es einige Gemeinsamkeiten, die ihnen helfen, ihre besonderen Bedürfnisse und Begabungen umzusetzen.
Zuerst einmal gilt es, sich auf die Stärken zu konzentrieren und Wege zu suchen, sie in der Welt umzusetzen statt der Welt zu entfliehen.
Hochsensibilität heißt nicht Hoffnungslosigkeit. Mehr als Normalsensible müssen Hochsensible den eigenen Weg finden, sie experimentieren mehr, können sich dafür aber auch auf Ressourcen in ihrem Unbewussten verlassen, die weniger Sensible nicht haben.
Sie bringen die ungewöhnlichen Lösungen, wenn andere nicht mehr weiterwissen. Sie entwickeln im Verborgenen, während Andere sich im Alltag erschöpfen. Sie können sich genau dann ins Spiel bringen, wenn die Situation vertrackt ist.
Betroffene sind gut beraten, ihren inneren Ressourcen zu vertrauen. Dann können sie Großes leisten. In einer Gesellschaft, die immer komplexer wird, in der Information an die Stelle von harter körperlicher Arbeit tritt, und in der zunehmend Teamworker statt Einzelkämpfer gefragt sind, spielen die Hochsensiblen den Joker – wenn ihnen ihre Begabung bewusst ist. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Jutta Böttcher: Hochsensibilität, fischer & gann Verlag, 1. Auflage, 2018
- Sylvia Harke: Hochsensibel ist mehr als zartbesaitet, vianova Verlag, 2. Auflage, 2016
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): S2-Leitlinie Persönlichkeitsstörungen, Stand: 2009, (Abruf 05.09.2019), dgppn
- Jean Marc Guilé, Laure Boissel, Stéphanie Alaux-Cantin, Sébastien Garny de La Rivière: Borderline personality disorder in adolescents: prevalence, diagnosis, and treatment strategies, Adolesc Health Medicine and Therapeutics 2018, (Abruf 05.09.2019), dovepress
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