„Wenn ich mit Gott spreche, heißt das Gebet. Wenn Gott mit mir spricht, heißt das Psychose! – Warum?” (Eckart von Hirschhausen)
Als Wahn bezeichnen wir, wenn Menschen die Wirklichkeit pathologisch verzerren. Die Betroffenen halten fanatisch an Überzeugungen fest, die sich einwandfrei widerlegen lassen – auch entgegen ihren eigenen Lebenserfahrungen und ihrer eigenen Logik. Religiöser Wahn liegt vor, wenn die Betroffenen diese systematisch falschen Imaginationen als Einfluss übernatürlicher Kräfte ansehen.
Inhaltsverzeichnis
Was ist Wahn?
Eine allgemein gültige Definition von Wahn gibt es bis heute nicht. Typische Merkmale, die als Symptome wahnhafter Vorstellungen gelten, sind erstens eine außerordentliche subjektive Überzeugung, dass belegbar falsche Vorstellungen zutreffen, die zweitens weder durch Erfahrung noch durch zwingende Schlüsse revidiert werden und drittens, dass der Inhalt unmöglich ist.
Gesunder Wahnsinn
Wahnideen sind kein losgelöstes Phänomen von „Wahnsinnigen“, sondern auch psychisch gesunde Menschen sind davon immer wieder von neuem betroffen. Typischerweise sind das Ideen von Menschen, die im Alltag ansonsten gut zurechtkommen, aber zum Beispiel glauben, geheime Mächte hätten es auf sie abgesehen.
Wahnfähigkeit ist zutiefst menschlich. Menschen ordnen sich ihre Umwelt in Konstruktionen des Bewusstseins, die diese aus einer Fülle von unbewussten Wahrnehmungen zusammen basteln. Wir schaffen uns also, weil wir Menschen sind, immer eine fiktive Welt, die niemals eine „objektive Wirklichkeit“ zeigt.
Wie bei anderen psychischen Störungen gilt dies in der modernen Psychologie erst dann als pathologisch, wenn die Betroffenen darunter leiden, weil die Wahnvorstellungen ihre Lebensführung einschränken. Eine wahnhafte Störung zeichnet aus, dass ein Einzelwahn oder verschiedene aufeinander bezogene Wahnvorstellungen über lange Zeit anhalten. Die Inhalte können dabei sehr unterschiedlich sein.
Religiöse Wahnstörungen
Hier haben die Wahnideen religiöse Inhalte. Die Betroffenen glauben oft, auserwählt zu sein und beziehungsweise oder von übernatürlichen Kräften einen Heilauftrag zu bekommen. Oder aber sie glauben, von dämonischen Mächten verfolgt zu werden. Dann ist es oft schwierig, Religionswahn von paranoider Schizophrenie abzugrenzen. Ein Drittel aller Menschen mit extremen Psychosen (nichts anderes ist Schizophrenie) entwickeln religiöse Fantasien. Religionswahn fließt über in andere Wahngruppen wie Größenwahn.
Ein Wahnkriterium ist die objektive Unmöglichkeit des Inhalts, verbunden damit, dass er nicht belegbar ist beziehungsweise sich leicht widerlegen lässt. Beides sind aber auch Kennzeichen für Religionen. Die Psychiatrie redet deshalb nur dann von einer religiösen Wahnstörung, wenn die Inhalte erstens außerhalb des kulturimmanenten Erfahrungshorizonts liegen und zweitens nicht in einer größeren Gruppe akzeptiert sind.
Mit anderen Worten: In einer Gesellschaft, in der der Glaube an Hexerei etabliert ist wie in Papua-Neuguinea, können wir jemand, der glaubt, dass ein Zauberer ihm magisch Schaden zufügt, nicht als wahnhaft bezeichnen. Es handelt sich vielmehr um eine kulturimmanente Erklärung. Der Inhalt der Vorstellung ist zwar – von außen betrachtet – unmöglich, innerhalb der Kultur gilt er aber als logisch.
Wahn und Glaube
Religiosität und mit ihr verbundener Wahn lässt sich auch durch die Unkorrigierbarkeit der Wahnideen unterscheiden, dabei sind die Übergänge indessen schwer zu bestimmen. Religiöse Dogmen vertreten Gläubige mit der gleichen Inbrunst wie Wahnhafte ihre Fantasien, und in beiden Fällen sind die Überzeugungen mit Alltagserfahrung und Wissenschaft nicht vereinbar. Egal, ob es sich um Mohammed handelt, der mit einem geflügelten Pferd in den Himmel reitet, um die unbefleckte Empfängnis Marias oder um Jenseitsreisen.
Der unbedingte Glaube an Übernatürliches und Wahn stimmen auch darin überein, dass beide wissenschaftlich valide Erklärungen für ihre Imaginationen ablehnen: Die Neurobiologie kann noch so genau erklären, welche biochemischen Prozesse bei einer vermeintlichen Jenseitserfahrung ablaufen, und es kann längst belegt sein, dass es sich bei den „blutigen Tränen“ einer Heiligenfigur um oxidiertes Eisen handelt – der Gläubige wird trotzdem vom übernatürlichen Charakter überzeugt sein.
Wunsch und Wirklichkeit
Für eine psychiatrische Diagnose ist hier wiederum die Einschränkung des Betroffenen in seinem persönlichen Leben entscheidend. Ein Mormone, ein christlicher Orthodoxer oder ein gläubiger Hindu werden mit ihren Vorstellungen in ihrem beruflichen und privaten Leben gewöhnlich klarkommen. Pathologisch wird es, wenn die Betroffenen sich völlig auf die Wahninhalte fixieren, jede Reflexion auf alternative Erklärungen ablehnen und ihre Wahnideen als Monolog in Dauerschleifen wiederholen: Sie führen also keinen Dialog, und wenn ihnen jemand zuhört, spulen sie nur das ab, was sie sich selbst auch permanent erzählen.
Typisch tritt Wahnreligiosität in Lebenskrisen auf. Wie alle psychischen Störungen hat er also durchaus Sinn. Er gedeiht im Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Wunsch. Der Wahnhafte filtert jetzt die Wirklichkeit durch seine eigenen Imaginationen. Dahinter steckt oft Hilflosigkeit, die Wirklichkeit ist für sie nicht zu ertragen. Hier überschneiden sich Wahnkranke mit psychisch gesünderen Menschen, deren Gehirn ebenfalls diesen Trick anwendet: Nach einer Trennung, beim Tod unseres Partners und auch bei lebensgefährlichen Verletzungen durchlaufen wir regelmäßig zuerst die Phase der Leugnung. Das Gehirn lässt es noch nicht in das Bewusstsein dringen, dass der Verstorbene weg ist.
Gerade hier zeigt sich der Unterschied zwischen einem temporären Ausblenden der Wirklichkeit und einer Wahnkrankheit. Eine religiöse Wahnstörung könnte sich zum Beispiel aufbauen, wenn die Betroffenen nicht herauskommen aus der ersten Phase der Trauer, der Leugnung – wie eine Mutter, die fanatisch darauf fixiert ist, dass ihr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenes Kind als Engel auf Erden weiterlebt.
Religiös unterfütterte Wahnerkrankte scheitern also daran, Krisen zu bewältigen. Die Erkrankten stemmen sich zuerst mit ihren Einbildungen gegen die Wirklichkeit, im zweiten Schritt rücken sie diese Einbildungen aber nicht wieder zurecht, sondern steigern sich immer weiter in sie hinein, und zwar umso stärker, je mehr ihre Vorstellungen der erfahrbaren Realität entgegenstehen. Die Wahnhaften werden immer egozentrischer: Wer ihre falschen Vorstellungen geraderückt, hat in ihren Augen keine Ahnung. Sie gleichen dem Witz vom Mann, der im Radio hört: „Auf der Autobahn kommt ihnen ein Geisterfahrer entgegen“ und sagt: „Einer? Tausende!“
Der Motor für die Wahnvorstellung besteht darin, die ungeliebte Wirklichkeit durch eigene Fantasien zu verdrängen. Ist dieses Muster aber erst einmal fixiert, zementiert der Wahngestörte seine verfehlten Inhalte umso mehr. So wehrt er es ab, sich einzugestehen, dass er sich irrt.
Gewinn und Verlust
Am Anfang steht die vermeintliche Gewissheit. Der Wahn schafft eine falsche Sicherheit. An die Stelle der Erkenntnis, etwas nicht zu wissen, tritt die Illusion, es zu wissen. Religiöse Wahnideen gehen hier einher mit Verschwörungswahn und überlappen sich mit Paranoia – denn niemand ist so überzeugt, die Wirklichkeit zu kennen, wie ein Paranoider. Wahnhafte Illusion verführt, wenn sie sich mit Übernatürlichem verknüpft. Die Religion liefert jetzt „Erklärungen“ für die irren Inhalte und verschafft diesen eine zusätzliche „Größe“.
So glaubten zwei Frauen, die beide am Borderline-Syndrom litten und beide schwer traumatisiert waren (durch die Erfahrung sexueller Gewalt in jungem Alter), sie seien in Wirklichkeit Engel, die auf Erden leiden müssten und dieses Leiden sei eine göttliche Prüfung für sie. Wahn und Religion übernehmen zusammen die Aufgabe, für falsche Sicherheit und Erklärung zu sorgen.
Wahnhafte Erklärungen sind besser als gar keine?
Im psychiatrischen Sinn Wahnhafte und „Nicht Gestörte“ liegen in dem Motor des aufbrechenden Wahns ebenso nahe beieinander wie „Gestörte“ und „Gesunde“ sich um Wahn und Religiosität scharen. Unser Gehirn produziert ständig Muster, in denen wir uns in unserer Umwelt bewegen. Ob diese objektiv richtig sind, spielt keine Rolle. Und für Krisen gilt für alle Menschen in der Welt unseres Unbewussten: Eine Erklärung ist besser als keine. Ob diese Erklärung zutrifft, ist unwichtig. Wichtig ist, dass sie uns eine Orientierung bietet, ein Ziel vor Augen führt, uns Gewissheit verschafft und uns damit die Möglichkeit gibt, uns zu entscheiden. Unbewusste Inhalte zu assoziieren, das so genannte schnelle Denken, führt oft sogar zum Ziel. Langsames Denken und kritische Reflexionen kosten mehr Energie und Zeit.
Scheinbare Gewissheit
Feuern sich jetzt Religiosität und Wahnideen gegenseitig an, verirren sich die Erkrankten in einem Labyrinth, aus dem sie auch mit professioneller Hilfe kaum noch herauskommen. Die Betroffenen haben bereits viel Kraft in ihren Irrtum investiert. Je länger sie ihren Wahn pflegen, umso schwieriger wird es einzusehen, dass es sich um einen Irrtum handelt. Stattdessen fixieren sie sich immer stärker auf den Irrtum, ein negativer Kreislauf setzt ein. Die Erkrankten verrennen sich in ihren Wahnideen ja gerade, um vermeintliche Sicherheit zu erlangen. Anfangs ahnen sie zwar oft noch, dass sie sich irren könnten. Diese Ahnung verdrängen sie allerdings dadurch, dass sie umso fanatischer an ihren Irrtum glauben (wollen) und Argumente von außen immer weniger zulassen. Die Gewissheit ist zwar eine scheinbare, doch die Angst, sie zu verlieren, zu groß. Denn die Verunsicherung erscheint umso größer, je größer der Irrtum ist. Irgendwann verfestigen sich die Wahnideen zu einem in sich geschlossenen Wahnbild der Welt.
Religion und Wahn – Eineiige Zwillinge
Jede Idee kann sich zum Wahn entwickeln. Wir alle kennen Menschen, die an Vorstellungen festhalten, obwohl sie mit gegenläufigen Beweisen überschüttet werden (das gilt auch für uns selbst). Studien zeigten zudem, dass Menschen aufnehmen, was in ihr Weltbild passt und ausblenden, was nicht passt. Wir sprechen von fixen Ideen, und diese gehen nahtlos in Wahnideen über.
Während sich aber prinzipiell jede Idee zum Wahn entwickeln kann, kreisen Wahnvorstellungen meist um existentielle Themen wie die Stellung des Menschen in der Welt. Und da Religionen irrationale Erklärungen für genau diese Fragen liefern, sind Religiosität und Wahn eineiige Zwillinge.
Typische Themen für Wahnvorstellungen sind Selbstbestimmung versus Schicksal, Belohnung und Strafe, Bedeutung zu haben oder ein Nichts zu sein, Zugehörigkeit und Ausgrenzung, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, sichtbare und unsichtbare Welt.
Paranoide Wahnwelten
Der paranoide Wahn ist unter allen Wahnsymptomen das häufigste und verschmilzt mit religiösen Fantasien – religiöse Figuren wie Dämonen, Teufel oder Hexen wirken, als seien sie wahnhafter Paranoia entsprungen. Derart Erkrankte glauben, finstere Mächte verfolgten sie. Während die Verfolgungsfantasie in Ängsten wurzelt, verschafft der Wahn scheinbare Gewissheit – die Betroffenen erlangen „Selbstbestimmung“, indem sie die „bösen Kräfte“ durchschauen.
Religiosität vermengt sich auch mit Größenwahn, besonders als messianische Illusion. Die Erkrankten verschaffen sich einen vermeintlich höheren Eigenwert dadurch, dass sie sich als „Reinkarnation des Heiligen Franziskus“, Propheten oder „Gesandte Gottes“ ansehen. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass viele Gurus, „heilige Männer“ und Religionsgründer unter Wahnvorstellungen litten und leiden, besonders unter Paranoia und Größenwahn, aber auch Berufungs- und Abstammungswahn.
Wann wird religiöser Wahn gefährlich?
Wie alle Wahnformen kann auch religiöse Wahnhaftigkeit flüchtig sein; sei es, dass Menschen nur in einem bestimmten Bereich fixe Ideen haben, sei es, dass sie einen Irrtum einsehen. Entscheidend ist, ob psychische Prozesse die Einsicht zulassen, einen Irrweg gegangen zu sein.
Bei religiösen wie nichtreligiösen Menschen sind sechs Faktoren beteiligt, damit sich eine Wahnvorstellung zu einer langfristigen Störung auswächst. So verbindet sich erstens der Wahn mit einem psychischen Grundkonflikt: Ein Mensch mit einem Minderwertigkeitskomplex kompensiert das durch die wahnhafte Idee, ein unerkannter „Krieger Gottes“ zu sein. Ist das Wahnhafte erst einmal fixiert, schaffen Wahn und Grundkonflikt zusammen eine Mauer, die sich durch eine Psychotherapie kaum durchbrechen lässt.
Zweitens kann ein Wahn fix werden, wenn er sich mit Gedanken verbindet, die Betroffene bereits vorher hatten und so umso logischer erscheint – für die Betroffenen.
Wer sich drittens selbst nicht akzeptiert, ist gerade für religiöse Wahnideen besonders gefährdet.
Viertens konsolidieren sich die wahnsinnigen Vorstellungen, wenn die Betroffenen ein psychologisches Interesse daran haben, also der Wahn zum Beispiel ursprünglich dazu diente, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Fünftens verknüpft sich religiöser Wahn oft mit Problemen der Betroffenen, sich selbst wahrzunehmen, und mit Erfahrungen in sozialen Beziehungen. Hier entwickelt jemand zum Beispiel die Wahnidee, „anders zu sein, weil er einen Auftrag von höheren Mächten hat“, wenn er wegen seinem unzureichenden Sozialverhalten immer wieder auf Abwehr stößt.
Gefährdet sind sechstens Menschen, die ihre Umwelt sowieso egozentrisch wahrnehmen und Geschehnisse auf sich beziehen, die mit ihnen nichts zu tun haben. Dies gleitet im Wahn dann dazu über, sich als „Auserwählter“ zu sehen.
Religiöser Wahn wird für die Patienten (und andere) gefährlich, wenn die Wahnvorstellung mit den Polen des Grundkonflikts verschmilzt. Jetzt bildet sich ein pathologisches Koordinatensystem, in dem die Kranken Ich und Außenwelt, Wirklichkeit und Fantasie nicht mehr unterscheiden.
Woran erkennen Sie religiösen Wahn?
Einen Wahn erkennen Sie daran, dass die Betroffenen Meinungen zur absoluten Wahrheit erklären und jede andere mögliche Sichtweise ablehnen – Wahnhafte schaffen sich also einen hermetisch abgeriegelten Gedankenraum. Frühzeichen sind vorübergehende Halluzinationen, bei dem die Menschen auf dem Weg in den Wahn zum Beispiel glauben, versteckte Botschaften über den nahenden Weltuntergang zu hören.
Stehen Sie zu der erkrankten Person in einer engen Beziehung? Dann werden Sie eine Wesensänderung feststellen: Sie oder er fühlt sich Freunden und Verwandten, die „die Wahrheit nicht verstehen“ nicht mehr zugehörig, leidet darunter und verliert sich in der eigenen Fantasie, in der alles auf sich selbst bezogen wird. Die Erkrankten verstehen sich nicht mehr nur als Zentrum eigenen Erlebens, sondern der Geschehnisse der Welt.
Während diese Menschen sich von ihnen, ob Ehepartner, Freund oder Kollegin, entfremden, empfinden sie eine fiktive Zugehörigkeit zu den imaginierten Mächten, die sie „leiten“ oder sie „verfolgen“. Für Außenstehende sieht das so aus, dass jemand Selbstgespräche führt, „auf der Hut ist“, „unsichtbare“ Gefahren wittert oder plötzlich in Gespräche eingreift, wobei das, was gesagt wird, mit dem Thema nichts zu tun hat – die Betroffenen assoziieren ihre Wahnwelt in Beziehungen hinein. Diese Einschübe in Alltagsgespräche anderer haben mit „Überirdischem“ zu tun.
Wahnhaftigkeit erkennen Sie besonders, wenn Sie den Betroffenen helfen wollen. Hat die Person zum Beispiel ihren Haustürschlüssel im Café liegen gelassen und ist überzeugt, mystische Bösewichte hätten ihn gestohlen, ist sie nicht erleichtert, wenn Sie ihr den Schlüssel bringen und ihr zeigen, dass sie sich irrte. Darin unterscheidet sich der Wahn vom bloßen Irrtum. Stellt sich ein schlimmer Verdacht als unbegründet heraus, freuen sich Menschen gewöhnlich, wenn er sich aufklärt. Beim religiösen Wahn ist das ganz anders: Der systematisch Wahnhaftige zeigt ein übermächtiges unbewusstes Interesse daran, sein verzerrtes Koordinatensystem aufrechtzuerhalten. Überdeutlich wird das beim religiösen Berufungswahn: Wer sich als Heiliger, Messias oder Werkzeug Gottes wähnt, der verteidigt dies gegenüber banalen Erklärungen.
Selbst wenn die Person sich von Dämonen verfolgt sieht, bedrückt sie ihr Zustand weniger als die Konfrontation mit der Wirklichkeit. Patienten mit religiösem Wahn wechseln oft zwischen scheinbaren Dialogen (bei denen sie andere als Stichwortgeber für ihr Fantasiesystem nutzen) und Monologen mit demselben Inhalt.
Wahnkulte und Religionen
Die obigen Ausführungen weisen bereits darauf hin: Ob ein Mensch mit den gleichen Symptomen als Wahnsinniger oder Heiliger gilt, hat viel damit zu tun, ob eine Kultur solche Zustände selbst als übernatürliche Eingebungen interpretiert. Viele Kulturschöpfer, Religionsstifter und Propheten zeigten Verhalten, das wir psychologisch als wahnhaft ansehen müssen: Sie hörten Stimmen wie bei einer Psychose, und sie fühlten sich von Wesen verfolgt, die niemand außer ihnen sehen konnte.
Dogmatische Kulte fördern Wahnvorstellungen systematisch. Religiöser Fundamentalismus ist nichts anderes als induzierter Wahn. Wer für unbedingten Glauben das Seelenheil verspricht wie die monotheistischen Religionen, der fordert nichts anderes als eine wahnhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Religiöse Dogmen sind ebenso absolut zu befolgen wie ein individueller Wahn. Solche Dogmen zeichnet aus, dass sie sich erstens nicht belegen lassen, und dass zweitens jeder Zweifel als Häresie gilt. Religiöse Führer nehmen für sich in Anspruch, unfehlbar zu sein – auch das ist ein Kernelement von Wahnsymptomen. Religiöser Fundamentalismus ist ebenso wie individueller Wahn eine pathologische Lösung eines psychischen Konfliktes.
Im therapeutischen Sinn liegt ein religiöser Wahn bei einem Individuum jetzt vor, wenn es glaubt, es selbst habe einen persönlichen Auftrag von einer Gottheit, in das Weltgeschehen einzugreifen. Derweil gehört zum Selbstverständnis von Offenbarungsreligionen, dass bestimmte Menschen genau diese Aufträge hatten und haben, ob Jesus, Paulus oder Mohammed.
Religiöse Manie, dämonische Depression
(Religiöse) Wahnsymptome sind meist keine eigene Erkrankung, sondern ein Symptom von psychischen Störungen wie Bipolarität (bipolare Störung), Borderline, Depression oder schweren Psychosen. Zum Beispiel kann ein Mensch, der unter einer ernsten Depression leidet, einen Versündigungswahn entwickeln und glauben, er müsse bereits auf Erden die Hölle durchleben, weil er seine Sünden nie wieder begleichen könne.
Oder aber ein Bipolarer läuft in einer manischen Phase durch die Stadt, glaubt, er sei der Heilige Franziskus und müsse die Welt heilen. Oder eine an Schizophrenie (einer extremen Psychose) Erkrankte sieht sich von Schwarzmagiern, Vampiren und bösen Priestern umzingelt. Oder ein Mensch mit einer allgemeinen Angststörung fürchtet sich vor Dämonen, die in U-Bahn Schächten lauern. Oder eine Frau, die am Borderline-Syndrom erkrankt ist, meint, ihre Zustände, in denen sie dissoziiert, also keine Kontrolle über ihre Handlungen hat und sich danach nicht daran erinnern kann, seien Reisen in die Welt des Jenseits.
Bei Patienten mit diagnostizierter Schizophrenie sind 30 Prozent ihrer Wahnerlebnisse religiösen Inhalts, und damit ist religiöser Wahn eine der häufigsten Wahnvorstellungen.
Wahnwelten und Zwangsgedanken
Religiöse Wahnwelten und zwanghafte Gedanken unterscheidet das Bewusstsein über die Probleme: Menschen, die an Zwangsgedanken leiden, wissen in der Regel, dass ihre Gedanken mit der erfahrbaren Realität im Widerspruch stehen. Ganz anders die Wahnhaften. Ihr Glauben ist unerschütterlich und jedes Geschehnis in der Umwelt filtern sie nur in diesem Muster.
Hirnschäden
Individuellen Wahn religiösen Gehalts aus der Zugehörigkeit zu einer organisierten Religion abzuleiten, reicht nicht aus. Häufig sind nämlich Hirnschäden die Ursache, besonders Alzheimer und Formen der Demenz. Hier handelt es sich nicht um rein psychische Erkrankungen, sondern um hirnorganische Veränderungen.
Diagnose
Wenn Ärzte religiösen Wahn diagnostizieren, trennen sie diesen von religiösem Glauben insofern, als dass die Wahnhaften keine Glaubensbekenntnisse ablegen, sondern unmögliche Wahrnehmungen als absolutes Wissen ansehen. Die Grenze zwischen Gesunden, Frommen und Wahnsinnigen ist zwar fließend, für die therapeutische Praxis entscheidet aber die Möglichkeit der Betroffenen, sich selbst einzuschätzen und zu beurteilen, ob sie eine Behandlung brauchen oder nicht.
die Therapeutin bzw. den Therapeut geht es nicht darum, ob Religion selbst ein „Gotteswahn“ ist, wie der Evolutionsbiologie Richard Dawkins sein Standardwerk nannte. Vielmehr steht hier im Mittelpunkt, ob die Patienten ihre eigene Rolle innerhalb ihres Bezugssystems an eine allgemein erkennbare Wirklichkeit anpassen.
Kurz gesagt: Ein Gläubiger könnte also durchaus an den Kampf zwischen Gott und dem Teufel glauben, wird aber in der Regel nicht vermuten, dass dieser dafür verantwortlich ist, wenn er morgens den Bus zur Arbeit verpasst. Wahnhafte leiden hingegen daran, sich überheblich selbst einzuschätzen und sich nicht einmal in Details von ihren fixen Ideen distanzieren zu können.
Im medizinischen Sinn hat religiöser Wahn nichts mit tiefer Religiosität zu tun (auch Atheisten können solche Wahnsymptome erleiden). Es handelt sich hingegen um die Folge eines krankheitsbedingten Erlebens, unabhängig von kulturellen Einflüssen: Die Zahl der Menschen mit religiösen Wahnvorstellungen innerhalb schwerer Psychosen ist proportional in allen Gesellschaften gleich.
Gefahren
Religiöser Wahn bringt unzählige Probleme mit sich. Offensichtlich ist der Verlust von sozialen Beziehungen: Freunde wenden sich ab, weil sie keine Verbindung zur Wahnwelt der Betroffenen mehr aufbauen können, Chefs halten erkrankte Mitarbeiter nicht mehr für tragbar, in nahezu allen Berufen, in denen die Kranken mit Menschen zu tun haben, können sie in ihrem Wahn nicht mehr arbeiten. Das gilt für eine Erzieherin, die Kindern erzählt, sie sei ein Engel, der die Welt rette, ebenso wie für einen Hausmeister, der glaubt, im Keller des ihm anvertrauten Gebäudes wohne der Teufel, eine Verkäuferin, die Kunden beschuldigt, sie zu verhexen oder eine Sekretärin, die ihrem Vorgesetzten das Büro ausräuchert, um „die Dämonen zu vertreiben“.
Kranke können sich und andere verletzen, sei es, indem sie sich wegen vermeintlicher Sünden peitschen oder sogar glauben, „Gott verlange von ihnen“ sich die Hoden zu zerquetschen.
Die Kranken fixieren sich so auf ihre Wahninhalte, dass sie ihre anderen Lebensbereiche vernachlässigen: Die Wohnung verwahrlost, sie bezahlen die Miete nicht, vergessen Essen einzukaufen, waschen sich nicht, geben ihre Steuererklärung nicht ab. Ohne frühzeitige Hilfe können Obdachlosigkeit, Arbeitsverlust und soziale Isolation die Folge sein. Alle Folgen wirken umso schwerer, da die Kranken aufgrund ihres Wahns nicht in der Lage sind, selbst Schritte zu unternehmen, um aus diesen Abgründen wieder hinauszukommen.
Woran erkennt der Arzt die Erkrankung?
Menschen, die unter religiösem Wahn leiden, gehen selbst kaum wegen ihres Wahns zum Arzt. Zum Beispiel suchen sie eine Ärztin auf, weil sie nicht mehr schlafen können. Oder Angehörige bringen die Betroffenen ins Krankenhaus, weil diese Essen verweigern.
Wann zum Arzt?
Menschen mit religiösen Wahnsymptomen haben selten eine Einsicht in ihre Krankheit. Es liegt an Verwandten, Partnern oder Freundinnen, ärztliche Hilfe zu suchen. Für diese sind Warnzeichen, wenn die Betroffenen Außenstehende belästigen, Monologe halten, ungefragt ihr Umfeld beeinflussen, beleidigen, sich aggressiv verhalten und beziehungsweise oder selbst verletzen sowie sich in gefährliche Situationen bringen.
Behandlung
Bei religiösem Wahn geht es erst einmal darum, dass Erkrankte Einsicht zeigen und erkennen, dass sie krank sind. Ist diese schwierigste Hürde genommen, können Therapien greifen.
Religiöser Wahn ist ein Symptom, behandelt wird die Grunderkrankung. Bei extremen Psychosen erweisen sich Medikamente als erfolgreich, bei affektiven Störungen sind auch Soziotherapien, Ergotherapien und Verhaltenstherapien angesagt. Arbeitstherapien gelten bei Wahnerkrankungen als hilfreich, weil die Betroffenen so wieder einen strukturierten Alltag bekommen, der ihnen fehlt und sie aus dem Koordinatensystem ihrer Fantasie befreien kann.
Psychotherapien sollen die Selbstakzeptanz und die Selbstorganisation stärken, da bei vielen Wahnvorstellungen ungelöste Konflikte mit dem eigenen Selbstbild eine Rolle spielen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Michael Pfaff: Schizophrenie und religiöser Wahn - Eine vergleichende Studie zur Zeit der innerdeutschen Teilung, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LWL-Klinik Bochum, (Abruf 13.08.2019), BRS
- Wibke Bergemann: Verrückt oder erleuchtet?, Psychologie Heute 6/2006, Seite 58, (Abruf 13.08.2019), Link
- Ronald Mundhenk: Sein wie Gott: Aspekte des Religiösen im schizophrenen Erleben und Denken, Verlag Die Brücke Neumünster, 3. Auflage, 2007
- Hans Krieger, Dorothea Sophie Buck-Zerchin: Auf der Spur des Morgensterns: Psychose als Selbstfindung, Verlag Die Brücke Neumünster, 5. Auflage, 2014
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.