Sprachlosigkeit und Sprachverlust
Aphasie bedeutet „Verlust der Sprache“. Die Betroffenen können nicht mehr wirklich sprechen, aber auch kaum noch schreiben, lesen oder gesprochene Sprache verstehen. Die Ursache ist immer ein Schaden im Gehirn, zum Beispiel als Folge eines Tumors, eines Schlaganfalls oder einer Hirnblutung.
Inhaltsverzeichnis
Mutismus bezeichnet hingegen Sprachlosigkeit, die psychische Ursachen hat. Die Betroffenen sind in ihrer Sprachentwicklung gehemmt, sie haben massive kognitive Probleme und Entwicklungsstörungen. Ärzte vermuten soziale Ängste und Konflikte als Ursprung dieser Störung.
Sprachlosigkeit tritt auch bei unterschiedlichen psychischen Störungen auf – insbesondere als Folge eines Traumas. Traumatisierte sind oft unfähig, über Geschehnisse, die mit dem Trauma zusammen hängen, zu reden – wir sprechen dann von emotionaler Sprachunfähigkeit. Sie durchleiden aber auch Phasen, in denen sie gar nicht sprechen und in die Leere starren.
Auch klinische Depressionen, dissoziative Störungen, oder das Borderline-Syndrom gegen einher mit Zeiten, in denen die Betroffenen verstummen.
Der pathologische Verlust der Sprache unterscheidet sich vom Verstummen in sozialen Beziehungen. Partner und Familien, die über Konflikte nicht reden, sitzen dann zusammen am Tisch und schweigen sich an. Hier liegt aber keine Sprachlosigkeit im organischen Sinn vor, sondern eine Störung der Kommunikation. Die vielen Formen der Sprachlosigkeit bedürfen unterschiedlicher Therapien.
Sprachlosigkeit: Aphasie
Aphasie erfolgt meist nach einem Schlaganfall. Aber auch Arterioslerose und Diabetes mellitus können die Gefäße so verändern, dass das Gehirn nicht mehr angemessen durchblutet wird. Kinder erleiden eine Aphasie in der Regel nach einem Schädel-Hirn-Trauma.
Es gibt verschiedene Formen von Aphasie. Bei der globalen Form können sich die Betroffenen mit Worten so gut wie nicht mehr verständigen. Sie stoßen nur noch Fragmente einzelner Worte aus und verstehen die Worte anderer kaum noch. Oft können sie nur noch eine Silbe bilden, zum Beispiel pa oder ma.
Bei der Broca-Aphasie sprechen die Patienten noch, doch ihre Sprache stockt. Worte bilden fällt ihnen schwer, in ihren Sätzen fehlen Prädikate oder Subjekte, und sie reihen kurze Satzbausteine aneinander. Dabei wissen sie aber, was sie ausdrücken wollen.
Die Wernicke-Aphasie äußert sich gänzlich anderes. Die Betroffenen sind in ihrem Redefluss kaum zu stoppen. Dabei verwechseln sie ständig Worte, drehen Buchstaben hin und her, erfinden Wörter, die für Außenstehende keinen Sinn haben und stoßen unverständliche Laute aus. Sie selbst merken nicht, dass ihre Sprache gestört ist.
Die Amnestische Aphasie geht mit einem Gedächtnisverlust einher. Die Betroffenen haben keine Probleme, Texte zu lesen, zu schreiben und die Worte von anderen Menschen zu verstehen. Doch ihnen fehlen, meist ausgelöst durch ein Hirn-Schädel-Trauma, viele Begriffe. Sie wissen zwar, was sie ausdrücken wollen, haben aber die passenden Worte vergessen. Darum halten sie beim Sprechen inne, suchen nach dem richtigen Wort und umschreiben das, was sie sagen wollen wie jemand, der eine fremde Sprache lernt. Dabei muss es sich nicht um komplizierte Fachbegriffe handeln – sie vergessen auch Alltagswörter wie Hund oder Sofa.
Behandlung
Aphasie tritt in verschiedenen Formen auf, und ebenso vielfältig sind die Therapien, um sie zu heilen. Die Betroffenen sollen sich wieder sprachlich verständigen können. Im ersten Monat geht es bei nahezu allen Therapien darum, die Patienten sprachlich zu stimulieren.
Vor allem sind Logopäden und Sprechwissenschaftler gefragt. Außerdem bringen Musik- und Maltherapie gute Ergebnisse. Viele Betroffene können durch das Singen von Liedern ihre sprachlichen Fähigkeiten reaktivieren. Denn Melodien speichert das Gehirn vor allem in den „alten Zentren“, also im assoziativen Denken, während der Inhalt gesprochener und geschriebener Sätze das analytische Denken beschäftigt.
Auch schwer Sprachgestörte können beim Singen Wörter bilden, wenn ihre rechte Gehirnhälfte intakt ist. Sie können durch Rhythmus und Melodie sogar neue Texte lernen.
Eine Maltherapie öffnet ein kreatives Ventil, um die sozialen Folgen einer globalen Aphasie zu lindern. Sprache ist für Menschen der Motor der Verständigung. Wer nicht sprechen kann, nimmt am sozialen Leben nur noch sehr begrenzt teil. Wenn die Patienten malen, finden sie eine Alternative, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken. Sie bedienen sich einer nonverbalen Sprache.
Eine Studie der Universität Tor Vergata in Rom belegte, dass Patienten sich nach einem Schlaganfall wesentlich besser erholten, wenn sie sich mit Kunst, Malerei oder Theater beschäftigten. Zur Behandlung von Sprachlosigkeit gehören außerdem Ergotherapien, Krankengymnastik und Physiotherapien.
Die ersten Behandlungen beginnen im Akutkrankenhaus. Die Ärzte klären hier, welche Basiserkrankung vorliegt, und die Sprach- und Ergotherapie beginnt.
Die Rehabilitationskliniken bieten im Anschluss ein umfassendes Programm. Dazu zählen Massage und Bäder ebenso wie die Ergotherapie und neuropsychologisches Training, um die Hirnleistung wiederherzustellen. Die Behandlung dauert oft Jahre, und nach der Entlassung aus der Reha-Klinik steht oft eine ambulante Behandlung an.
Kurzfristige Erfolge können Patienten, Angehörige und Ärzte nicht erwarten. Im Gegenteil: Eine Aphasie zu verbessern erfordert vor allem Geduld. Die Nahestehenden und Therapierenden müssen aufmerksam zuhören, sie müssen die Betroffenen auch verbal unterstützen, ihnen helfen und sie mit ihrem Problem annehmen.
Mutismus
Mustismus kommt vom lateinischen Wort „mutus“, und das bedeutet stumm. Allerdings sind an dieser Störung Leidende nicht im organischen Sinn stumm. Sie können sprechen, verstummen aber aus Angst.
Mutimus ist eine Sprachstörung, die sich in der Kindheit entwickelt. Die Kinder „verstummen“ in Situationen, die für sie mit Angst besetzt sind. Sie isolieren sich zunehmend, und weil ihnen der Austausch mit Gleichaltrigen fehlt, bleiben sie im sozialen Lernen zurück. Ihr Sozialverhalten entwickelt sich wenig, ihre Emotionen bleiben oft unreflektiert.
In der Pubertät werden die Betroffenen meist zu Außenseitern; sie scheitern in Schule und Beruf, und sie leiden deshalb an Depressionen. Die Suizidgefahr ist hoch.
Mutistische Kinder unterscheiden sich von Schüchternen darin, dass sie sich nicht bewusst entscheiden können, ob sie schweigen. Schüchterne Kinder kriegen zwar in Gegenwart von Fremden manchmal ebenfalls den Mund nicht auf. Sprechen andere Menschen sie jedoch an, dann antworten sie. Mutismus-Patienten können das nicht willentlich.
Symptome
Betroffene leiden schon als Kleinkinder unter übermäßigen Ängsten: Sie klammern sich an ihre Eltern, halten es nicht aus, ohne die Mutter zu sein; sie ziehen sich zurück; sie schlafen schlecht ein; sie neigen zu Wutausbrüchen und Weinkrämpfen.
Im Kindergarten, wenn Kinder in der Regel mit Gleichaltrigen spielen und die Welt draußen entdecken, festigt sich ihre Redeangst als Unfähigkeit zu reden. Dazu kommt eine starre Körperhaltung, ein leerer Blick; sie gucken weg, wenn andere ihnen in die Augen blicken; in der Öffentlichkeit lachen sie nicht laut.
Eine Angststörung
Angstgestörte verfügen über eine niedrige Reizschwelle in der Amygdala. Dieser Mandelkern sendet Nervenimpulse aus, die Gefahr signalisieren. Evolutionär war das wichtig, denn so können wir schnell aus einer bedrohlichen Situation entkommen, und der Stoffwechsel läuft auf Hochtouren und schärft die Sinne.
Bei Überängstlichen reagiert der Mandelkern intensiver, als es für den Selbstschutz notwendig wäre. Die Gefahr, die er anzeigt, ist real nicht vorhanden.
Kinder, die unter selektivem Mutismus leiden, empfinden soziale Kontakte als Gefahr: Im Kindergarten, in der Schule, beim Lehrer, Hausmeister oder Nachbarn läuft das Angstprogramm des Gehirns. Sich darüber lustig zu machen, ist nicht angebracht: Zwar ist die Gefahr nicht real, die Gefühle der Angst sind es aber.
Auch wenn das Kind also rational weiß, dass ihm keine Gefahr droht, schwitzen ihm die Handflächen, es möchte der Situation entfliehen, das Herz rast und die Sprache setzt aus. Das Kind wird stumm, um der Angst zu entgehen, die mit der Kommunikation durch Sprache für es verbunden ist.
Ursachen
Mutismus gilt als soziale Angststörung. Bei den Betroffenen reagiert das Angstzentrum im Gehirn über. Meist handelt es sich um selektiven Mutismus: Die Sprache setzt also aus, wenn das Kind mit Menschen reden muss, die nicht zur engsten Familie gehören.
Die meisten Menschen, die unter der Störung leiden, haben eine genetische Anlage zur Ängstlichkeit. Angst vor fremden Menschen und Situationen ist ihnen in die Wiege gelegt.
Mutismus geht außerdem mit Sprechproblemen einher. Viele Kinder, die unter dieser Störung leiden, haben auch allgemeine Sprachstörungen.
Fast alle Menschen, die an selektivem Mutismus leiden, haben zumindest einen Elternteil, der sich ebenfalls sozial isoliert. 3 von 4 Eltern weisen sogar eine Angststörung auf. Die Frage nach der genetischen Grundlage lässt sich, wie meist, nicht eindeutig klären: Entwickelten die Kinder ihre Störung, weil die Eltern ihnen das Angstverhalten vermittelten? Oder erbten sie das Verhalten?
Ganz wichtig: Auch wenn es Überschneidungen in den Symptomen gibt, hat Mutismus nichts mit Missbrauch oder einem Trauma zu tun. Leider stehen Eltern, die Hilfe suchen, bisweilen im Verdacht, ihre Kinder vernachlässigt oder gar missbraucht zu haben.
Diagnose
Unter vielen Ärzten ist Mutismus leider unbekannt. Sprachärzte und Kinderpsychologen kennen das Muster hingegen meist. Psychiatrie, Psychologie und Sprachtherapie sind die Fächer, die sich mit Mutismus auseinander setzen.
Gefahren
Mutismus ist als Störung anerkannt und hat gravierende soziale Konsequenzen, wenn er nicht frühzeitig erkannt wird. Die Kinder verursachen zwar keinen Ärger, verpassen aber Lebenschancen und genießen ihre Kindheit wenig, weil sie sich von sozialen Aktionen ausschließen.
In der Schule werden sie Außenseiter, sie beteiligen sich nicht mündlich und bekommen deshalb schlechte Noten, und in der Pubertät explodieren die psychischen Probleme. Der Mutismus wächst sich jetzt zu einer umfassenden Sozialphobie aus, und die Sprachlosigkeit verbindet sich mit klinischen Depressionen.
Therapien sollten im Kindergarten anfangen, in der Schule brauchen Betroffene für jede Stufe eine spezielle Therapie und eine Schulbegleitung.
Mutismus Therapie
Verschiedene Therapien führen bei Betroffenen zu Erfolgen. In der Vergangenheit kamen Kinder mit dieser Störung oft in eine analytische Spieltherapie, da die Fachleute die Störung als Folge eines frühkindlichen Traumas interpretierten. Diese Diagnose gilt heute als falsch.
Andere Ärzte vermuteten Konflikte in der Familie und arbeiteten in Familientherapien die Beziehungsdynamik und Projektionen der Eltern durch. Diese Therapie ist auch bei einer genetischen Disposition sinnvoll. Da auch die Väter und Mütter der Betroffenen unter ähnlichen Problemen leiden, spielt die Dynamik in der Familie mit Sicherheit eine Rolle dabei, wie sich die Störung entwickelt.
Die besten Erfolge verspricht jedoch die Sprachtherapie. Sie wühlt nicht nach Mustern der Vergangenheit, sondern geht vom Jetzt-Zustand aus. Schritt für Schritt baut sie die Sprachmuster der Betroffenen neu auf und hilft ihnen, die Sprachängste in sozialen Gruppen zu bewältigen. Die Therapeutin beginnt zum Beispiel damit, dass sie die Patienten Geräusche nachahmen lässt. Dann bilden sie Silben, später Worte und kurze Sätze. Später lesen die Betroffenen Texte laut vor und am Ende sollen sie frei sprechen.
In der letzten Phase geht es „ins Feld“. Die Betroffen proben reale Situationen: Sie fragen zum Beispiel Fremde nach der Uhrzeit oder kaufen beim Bäcker ein.
Die Sprachtherapie geht hier in eine Verhaltenstherapie über, und Verhaltenstherapien haben sich ebenfalls als nützlich erwiesen, um Mutismus zu kontrollieren. Auch Verhaltenstherapeuten interessieren sich nur sekundär für die in der Vergangenheit liegenden Ursachen des schädlichen Verhaltens. Sie gehen hingegen davon aus, dass die Betroffenen das Vermeidungsverhalten erlernten und deshalb auch wieder verlernen können.
Mehr noch: Sprachlose verstärken durch ihr Verhalten auf Dauer ihre Ängste. Sprache ist immer auch ein Beziehungssystem und verändert die Beziehungsdynamik. Wir können nicht nicht kommunizieren. Wer sich verschließt, ob willentlich, oder unwillkürlich wie unter Mutismus Leidende, der signalisiert anderen: Ich möchte mit euch nicht reden. Bei den anderen kommt die Botschaft an: Ich grenze mich von euch ab, und das hat zur Folge, dass die Anderen die Betroffenen ausgrenzen.
Wer mit den Mitschülern oder Kolleginnen nicht redet, insbesondere bei gemeinsamen Feiern oder Ausflügen, den laden die Anderen zu Gruppenevents nicht mehr ein. Irgendwann gucken sich die Betroffenen das soziale Leben nur noch von außen an. Die Beziehungen der Anderen werden für die Sprachlosen immer fremder, und dadurch wird es noch schwieriger, Kontakte aufzubauen.
Dabei zeigen an Mutismus Leidende das gesamte Spektrum der Verschlossenheit. Ihnen stockt die Sprache, das Hauptmittel unserer Verständigung, aber sie frieren auch ihre Gestik und Mimik ein. Die Anderen wissen nicht, was in ihnen vorgeht, und dadurch wirken sie unheimlich.
Die Verhaltenstherapie fördert das gewünschte Verhalten durch Shaping (Ausformung). Die Betroffenen unternehmen einfache Schritte in Richtung eines anderen Verhaltensmusters, der Therapeut bestärkt ihn darin, zum Beispiel, indem er zeigt, wie dieses Verhalten positive Konsequenzen hat.
Beim Chaining (Verkettung) vernetzt die Verhaltenstherapie bei Betroffenen Fragmente aktiver Kommunikation, die bereits vorhanden sind. Zum Beispiel verschlägt es einem Patienten vielleicht die Sprache, wenn er sich in einer Gruppe befindet, er sucht aber zögerlich Augenkontakt. Dann kann die Therapeutin gezielt trainieren, diesen Augenkontakt auszuhalten, ihn zu verlängern und mit Sprache in Verbindung bringen, die Betroffenen können zum Beispiel auf Fragen zuerst nur nicken oder den Kopf schütteln und später leise mit Ja oder Nein antworten.
Beim Prompting (dem Nachhaken) lenkt der Therapeut die Aufmerksamkeit der Betroffenen gezielt auf ein bestimmtes Verhalten, um ein verändertes Verhalten vorzubereiten oder zu beschleunigen. Wenn der Patient mit den Lippen Worte formt, ohne sie auszusprechen, könnte er ihn auffordern: „Sag das bitte laut.“
Schlägt die Therapie an, setzt das Fading out ein. Die Therapeutin nimmt jetzt die Stützen langsam aber sicher zurück, bis die Betroffenen ihr neues Verhalten auch im Alltag einsetzen.
Die Psychiatrie und Neurologie konzentriert sich auf die neurobiologische und biochemische Dimension der Störung. Wenn das Angstzentrum hypersensibel reagiert, ist der Serotoninspiegel niedrig. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer lassen das Serotonin im Hirnstoffwechsel ansteigen.
Solche Mittel wirken gegen Depressionen, Angststörungen, Zwnagsstörungen, das Boderline-Syndrom und posttraumatische Störungen und auch gegen Mutismus. Eine medikamentöse Behandlung allein ist aber bei allen diesen Erkrankungen gefährlich. Ob organisch bedingt oder nicht: Psychische Störungen haben enorme soziale Auswirkungen, und das erlernte Vermeidungsverhalten bei Sprachlosen lässt sich nicht durch einen erhöhten Serotoninspiegel ändern.
Heute gilt eine kombinierte Sprach- und Verhaltenstherapie, die Medikamente unterstützen, als beste Methode, Mutismus zu behandeln.
Mutismus erkennen
Viele Ärzte kennen die Krankheit nicht, und vielen Eltern geht es ebenso. Dabei lässt sich Mutismus als soziale Störung sehr gut in den Griff kriegen, wenn er früh erkannt wird. Die sozialen Muster kann das Kind dann rechtzeitig lernen; schwierig wird es erst, wenn sich diese verfestigen.
Eltern und Lehrkräfte sollten auf folgende Symptome achten:
1) Verstummt ein Kind in bestimmten Situationen oder gegenüber bestimmten Menschen, ohne dass eine allgemeine Sprachstörung vorliegt?
2) Redet das Kind viel (und unbefangen) bei Menschen, denen es vertraut, verstummt aber, sobald Fremde hinzukommen?
3) Nimmt das Kind kaum an Aktionen Gleichaltriger teil, drängt sich aber innerhalb der Familie ständig in den Mittelpunkt?
4) Scheut das Kind davor zurück, seine körperlichen Fähigkeiten zu testen, sei es Fahrrad fahren, rennen oder klettern?
Mutismus und Autismus
Auch autistische Kinder sprechen häufig nicht, unverständlich, oder sie verschließen sich gegenüber Fremden. Für Laien ist es sehr schwer, zu erkennen, ob ein Kind unter Mutismus oder an einer Störung des autistischen Spektrums wie Autismus oder Asperger leidet.
Drei Merkmale unterscheiden Autisten von Mutismus-Patienten jedoch erheblich:
1) Autistische Kinder ziehen sich immer zurück, sie meiden immer Kontakte und wehren immer Reize ihres Umfeldes ab. Im Unterschied zu Mutismus-Patienten bauen sie sich ihre eigene Welt, stimulieren sich also selbst. Mutisten hingegen schweigen gegenüber Mitschülern, Lehrern und Fremden, sind aber ihren Eltern gegenüber extrem anhänglich.
2) Das gilt auch für die Gefühle. Autisten sind bereits als Babys „kalt“; sie haben selbst zu ihren Eltern und Geschwistern ein abstraktes Verhältnis. Mutisten sind hingegen in der Familie, wenn das Angstzentrum keine Gefahr meldet, sehr emotional.
3) Autisten leiden meist unter einer Sprachstörung auf der neurolinguistischen Ebene. Ihre Sprache unterscheidet sich massiv von Anderen, wenn es um die Kommunikation im Alltag geht; oft entwickeln sie eine eigene Grammatik und außergewöhnliche Sprachfiguren. Sprache als soziale Kommunikation lernen sie wie ein Telefonbuch, ohne den sinnlichen Gehalt zu erfassen.
Mutisten haben aber keine organisch bedingte Störung, Sprache zu lernen, sondern Hemmungen sie einzusetzen. Sie sind in der Schule schriftlich oft sogar sehr gut und kompensieren so ihr Schweigen, wenn sie sich mündlich einbringen sollten.
Hinweise für Lehrkräfte
Lehrkräfte, die das Störungsbild nicht kennen, sind mit mutistischen Kindern überfordert. Leider verhalten sie sich gegenüber den Betroffenen oft vollkommen falsch. Ein Kind, das nicht redet, gilt traditionell als verstockt, auch wenn die Zeiten vorbei sind, in denen eine „ordentliche Tracht Prügel“ als Mittel Nummer 1 galt, um Kinder zum Sprechen zu zwingen.
Mutisten sind aber keine Schulverweigerer, die den Lehrern zeigen wollen, dass sie die die Kommunikation ablehnen – sie können nicht anders als schweigen.
Die Störung geheim zu halten, ist der falsche Weg. Alle Erwachsenen, die zu dem Kind in der Schule Kontakt haben, müssen über das Verhaltensmuster Bescheid wissen und das Kind nicht zum Sprechen zwingen.
1. Sie sollen es hingegen loben, wenn es spricht.
2. Lehrkräfte sollten darauf achten, ob Mitschüler das Kind mobben oder ausgrenzen.
3. Das Kind soll im normalen Klassenverband bleiben.
4. Die Lehrer können dem Kind gleichwertige Aufgaben anbieten, in denen es nicht sprechen muss: Malen, Schreiben, Lesen oder Spielen.
5. Lehrkräfte können das Kind freundlich unterstützen, mit anderen Kindern zu spielen, zum Beispiel mit ihnen zu malen.
6. Das Kind kann Computer nutzen, um sich mitzuteilen, oder auch Symbole und Gesten.
7. Gruppenarbeit kann die Grenzen, die die Sprachbarriere setzt, aufbrechen.
8. Das Kind kann mit Kindern zusammen sitzen, vor denen es wenig Angst hat, und die Arbeitsgruppe sollte nicht wechseln.
Hilfe für die Familien
Um Mutismus zu überwinden ist die Familie gerade in den frühen Jahren der Dreh- und Angelpunkt. Viele Eltern gewöhnen sich ein Verhaltensmuster an, das das Kind scheinbar schützt, die Störung jedoch verschlimmert: Sie wissen um die Ängste, die das Kind in sozialen Beziehungen außerhalb der Familie hat. Weil es dem Kind so schwer fällt, mit Fremden zu sprechen, ergreifen sie selbst das Wort – auch gegenüber dem Arzt, Therapeuten oder Lehrer.
Dadurch bleibt das Kind aber in seiner Sprachlosigkeit gefangen. Die Eltern müssen das Kind hingegen unterstützen, selbst zu sprechen, und, so schwer das auch aussieht, es Schritt für Schritt Situationen aussetzen, in denen es seine Angst bewältigen kann.
Sie dürfen dem „sensiblen“ Kind auch zu Hause keine Privilegien einräumen.
Umgekehrt dürfen die Eltern aber auch keinen übermäßigen Druck ausüben. Wenn das Kind nicht spricht, liegt das nicht daran, dass es keine Lust dazu hat, sondern weil es aufgrund seiner Angst nicht sprechen kann. Wenn elterlicher Druck zusätzlich Stress aufbaut, verschlimmert das die Symptome nur.
Eltern müssen vor allem wissen, dass das hinaus kommen aus dem Schneckenhaus ein langer Prozess ist, in dem sich Erfolge nur sehr zögerlich einstellen.
Sprachlosigkeit und Trauma
Mutismus liegt vermutlich nicht an traumatischen Erfahrungen. Doch Traumatisierungen können ebenfalls zu Sprachlosigkeit führen.
Die Hirnforschung erklärt heute, warum das so ist. Amygdala und Hippokampus sind die Regionen im Gehirn, die für die Symptome von Traumatisierten den höchsten Stellenwert haben. Der Mandelkern verarbeitet nämlich Reationen auf Erfahrungen, die mit starken Affekten verbunden waren und speichert sie. Der Hippokampus verarbeitet bewusste Erinnerungen und ordnet sie.
Der Hippokampus kann unter Stress seine Funktion nicht mehr voll erfüllen, denn eine gesteigerte Ausschüttung von Kortisol unterdrückt dann seine Aktivität. Das ist vermutlich der Grund, warum Menschen mit posttrauamtischem Belastungs-Syndrom an verzerrten Erinnerungen leiden. Das Brocasche Zentrum in der linken Kortexhälfte wiederum steuert den sprachlichen Ausdruck. Während eines traumatischen Ereignisses wird es ebenso gehemmt wie der Hippocampus. In der traumatischen Situation reagieren wir deshalb sprachlos.
Da sich bei Traumatisierten die traumatisierte Situation im Gehirn aber bei entsprechenden Auslösern wiederholt, fehlen ihnen dann ebenso die Worte.
In diesen Phasen gehen Außenstehende mit den Betroffenen am besten um, wenn sie ihnen die Möglichkeit geben, ihre Empfindungen nicht sprachlich zu äußern. Das gilt für Therapeuten, insbesondere aber für Traumatisierte vor Gericht.
Depressionen und Suizid
Menschen, die an klinischen Depressionen leiden, Bipolare in einer depressiven Phase und Borderline-Patienten durchlaufen ebenfalls Zeiten, in denen sie mehr oder minder sprachlos sind.
Depressive berichten von einer Wand zwischen ihnen und der Außenwelt; sie spüren eine Mauer zwischen sich und anderen Menschen, die sie kommunikativ nicht brechen können.
Während sie dann aber kaum sprechen können und oft nur Satzfetzen ausstoßen, stammeln oder ganz schweigen, kompensieren viele dieser Patienten ihre Unfähigkeit zu sprechen, indem sie schreiben. Das sollte ein Therapeut unbedingt unterstützen.
Ganz besonders wichtig ist die spezifische Sprachlosigkeit, wenn es um die Störung geht. Werden Betroffene auf die Depression angesprochen, stieren sie oft in die Luft, sagen gar nichts mehr und können auch nichts sagen.
Suizidgefahr
Therapeuten sollten in diesen Phase offen ansprechen, dass die Betroffenen möglicherweise in Suizidgefahr schweben. Suizid kündigt sich nämlich oft durch einen Rückzug von der Kommunikation und insbesondere den Abbruch des Sprechens an.
Übelebende berichten von einer „anderen Welt“, in der sie sich befanden, in der sie Kommunikation über den Alltag, also die realen sozialen Beziehungen nicht mehr wirklich erscheinen. Ein stierender Blick, der in die andere Welt zu blicken scheint, gesellt sich zur Sprachlosigkeit.
Zu denken, dass das Sprechen über die Gefahr die Suizidabsichten erst schürt, ist falsch. Unbewusste suizidale Phasen, Zusammenbruch der Kommunikation und Verlust der sprachlichen Verständigung gehen einher. Über die Gefahr zu reden allein baut den Betroffenen oft die Brücke, um zurück in „diese Welt“ zu kommen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Juebin Huang: Aphasie, MSD Manual, (Abruf 26.08.2019), MSD
- Ercole Vellone et al.: Stroke survivors who like art have a better quality of life than those who do not, European Journal of Cardiovascular Nursing, (Abruf 26.08.2019), Researchgate
- Bandelow, Borwin et al.: Deutsche S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, (Abruf 26.08.2019), DGPPN
- Vadakkan C., Siddiqui W.: Claustrophobia, StatPearls Publishing, (Abruf 26.08.2019), PubMed
Wichtiger Hinweis:
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