In Nizza raste ein Mann mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge und tötete mehr als 80, in München erschoss David S. neun Menschen und verletzte weitere. Er verehrte den norwegischen Spree-Killer Anders Breivik und war in psychiatrischer Behandlung. Medien und Politiker sprechen von Amokläufen. Stimmt dieser Begriff aber? Und leiden Amoktäter unter einer psychischen Störung, die sich behandeln lässt?
Inhaltsverzeichnis
Die WHO definiert Amok als „willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und/oder Erschöpfung. Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, d.h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid (Selbsttötung).“
„Klassische“ Amokläufe finden meist ohne Vorwarnung statt, allerdings sind die Täter zuvor häufig bereits durch extreme Ängste und feindselige Reaktionen aufgefallen. Amokzustände sind zudem besonders verbreitet in einem Umfeld, in dem selbstzerstörerische Aggression gesellschaftlich geachtet ist – zum Beispiel bei den historischen Wikingern, in Papua-Neuguinea oder in Regionen Südafrikas.
Amok in der Geschichte
Amuk bedeutet im Malaiischen „rasend“ und bezeichnet spontane Gewalttaten gegen Unbeteiligte. Manche Historiker vermuten aber den Begriff Amuco, der in Indien Krieger bezeichnet, die ihre Feinde ohne Rücksicht auf das eigene Leben angreifen.
Krieger in Malaysia und Java schrien „Amok“, wenn sie in die Schlacht zogen. Es handelte sich um Elitesoldaten, die auch Gegner angriffen, die ihnen an Zahl und Waffen weit überlegen waren. Malayische Legenden verherrlichen diese „Amokläufer“. In den Erzählungen rächen diese eine erlittene Schmach oft mit einem Massenmord, in dem sie selbst den Tod finden.
In Skandinavien waren die Berserkr, in Bärenfelle gekleidete Krieger, wegen ihren enthemmten Gewalträuschen berüchtigt. „To go berserk“ bezeichnet noch heute enthemmte Aggression.
Psychische Ursachen
Psychiater diskutieren seit langem, ob Amoklauf mit psychischen Störungen einher geht. So galten die Betroffenen lange als Menschen, die sich in einem Dämmerzustand befinden. Das heißt, ihre Wahrnehmung der Umwelt ist beeinträchtigt, sie sind kaum ansprechbar, ihr Denken ist unklar. Sie nehmen Situationen verzerrt wahr, oft haben sie sinnliche Halluzinationen. Sie wirken wie berauscht. Sie haben keine Erinnerung an das, was während ihres Dämmerzustandes geschieht.
Unter solchen Dämmerzuständen leiden Traumatisierte, Epileptiker, Menschen mit Borderline-Syndrom, dissoziativen Störungen, Schizophrenie, bipolarer Störung, Psychotiker, Menschen unter Einfluss von Alkohol, Medikamenten und Drogen.
In der klassischen Definition der Tat als exzessive Gewalt gegen Andere, die außer Kontrolle des Gewalttäters ist, geht der Prozess am ehesten mit einer Psychose einher. Eine Psychose ist eine seelische Störung, in denen der Bezug zur Realität der Betroffenen so gestört ist, dass sie den Alltag nicht mehr bewältigen können. Sie leiden unter Sinnestäuschungen, nehmen ihre Umwelt wahnhaft wahr und zeigen abnormes Verhalten: Pathologische Hyperaktivität, extreme Errergungen und seelisch-körperliche Blockaden.
Psychosen können sowohl exogen sein, also körperlich begründbar, zum Beispiel durch eine Hirnverletzung oder endogen, also Ausdruck einer psychischen Krankheit. Neuere Studien verweisen darauf, dass jeder Dritte untersuchte Amoktäter unter einer Psychose litt.
Diese Ergebnisse haben jedoch den Haken, dass nur überlebende Täter untersucht wurden. Wer in einer akuten Psychose Amok läuft, überlebt aber vermutlich eher als jemand, bei dem dies nicht der Fall ist, zum Beispiel jemand mit einer dauerhaften Persönlichkeitsstörung, also einem verwurzelten Fehlverhalten in Konflikten.
Zu den Persönlichkeitsstörungen gehören: Die zwanghafte, die vermeidende, die abhängige, die exzentrische, die haltlose, die unreife, die passiv-aggressive, die paranoide, die schizoide und die dissoziale.
Aggressive Ausbrüche kennzeichnen vor allem die schizoide, die paranoide, die emotional-instabile (Borderline), die narzisstische und die dissoziale Störung.
Paranoide reagieren extrem empfindlich auf Zurückweisung, sie fühlen sich äußerst schnell gekränkt und entwickeln Rachefantasien. Sie sind generell misstrauisch und verzerren in ihrer Wahrnehmung neutrale Reaktionen anderer in Feindseligkeit. Sie sind pathologisch eifersüchtig, chronisch auf sich bezogen, sehen sich als Opfer von Verschwörungen und beharren darauf, Recht zu haben, umso mehr, wenn andere sie über ihre Fehlwahrnehmungen aufklären.
Dissoziale verfügen über wenig Empathie. Ihr Verhalten widerspricht sozialen Normen. Sie sind verantwortungs- und skrupellos, können keine langfristigen Beziehungen aufbauen. Dissoziale haben keine Frustrationstoleranz und gehen Konflikte mit Gewalt an. Sie beschuldigen andere und rationalisieren ihr eigenes Fehlverhalten. Oft starten sie deshalb schon früh mit einer kriminellen Karriere.
Emotional Instabile leben ihre Impulse unkontrolliert aus, ihre Stimmungen wechseln ständig. Sie können schlecht planen und überdenken die Konsequenzen ihres Verhaltens nicht. Sie haben ihre Gefühlsausbrüche nicht im Griff und reagieren explosiv. Wenn andere sie kritisieren oder eigene Ansprüche einfordern, reagieren emotional Instabile oft mit Gewalt.
Die Rolle psychchiatrischer Symptome bei den Massakern wird meist überbewertet. So spielen Psychosen bei school shootings kaum eine Rolle. Bei erwachsenen Tätern sieht das anders aus. Eine Studie von amerikanischen Amoktaten von 1999 ergab, dass bis zu 67 % der Täter unter psychotischen Symptomen litten, vor allem unter paranoiden Wahnvorstellungen. Narzisstische Störungen waren ebenfalls verbreitet. Psychische Erkrankungen sind nur in wenigen Fällen die Hauptursache für einen Amoklauf.
Wenn Massenmörder wie in München zuvor in psychiatrischer Behandlung waren, bedeutet dies nicht notwendig, dass die psychische Krankheit direkt zur Tat führte. Psychisch Kranke sind generell nicht gewalttätiger als psychisch „Gesunde“.
Menschen, die unter Depressionen leiden, begehen sogar weniger Straftaten als Menschen ohne diese Probleme.
Zerstörte Körperlichkeit
Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit wurde berühmt durch die „Männerphantasien“, in denen er die psychischen Grundlagen des Faschismus als zerstörte Körperlichkeit in autoritären Männerbünden analysierte.
Die Taz befragte ihn zu den Gewalttaten in München und zu Anders Breivik. Theweleit zufolge waren weder der Mörder in München noch Anders Breivik Amokläufer. Denn sie hätten ihre Tat über eine lange Zeit geplant, was dem Wesen eines Amoklaufes widerspräche.
Es handle sich vielmehr um eine psychische Grundstörung, deren Ursache die zerstörte Körperlichkeit der Täter sei. Diese kämen aus verschiedenen Konfliktlagen an einen Punkt, an dem sie das Leben anderer um sich herum auslöschen wollten.
Das Töten sei hier ein bewusster Akt, selbst wenn das Morden in einem Zustand der Trance durchgeführt werde. Erst wenn sie sich entschieden hätten, zu morden, begännen sie damit, die Tat vorzubereiten.
Dieser Drang, zu morden, sei weder politisch noch religiös motiviert. Die Täter würden sich ihre Begründungen erst vor der Tat „zusammen schreiben“, sie seien ihnen aber völlig egal, entscheidend sei, dass sie den Punkt erreicht hätten, wo sie töten müssten – und das mit der größt möglichen Publicity.
Grundstörung bedeute dabei, dass ihnen der Weg aus der frühkindlichen Symbiose zur Mutter nicht gelungen sei. Durch psychische Ablehnung oder Gewalterfahrung entwickelten sie kein Ich, dessen Lust sich auf die Außenwelt richte, sondern seien von übermächtigen Ängsten geplagt.
Sie könnten kein liebendes Verhältnis zu anderen und sich selbst entwickeln. Für solche Menschen gelte der Begriff des Narzissmus nicht. Sie seien von Angst und Verzweiflung getrieben. Laut Margaret Miller bewegten sie sich zwischen Entdifferenzierung und Entlebendigung. Entdifferenzierung hieße dabei, dass sie alles Äußere als Bedrohung wahrnähmen, als eine Welt, in der ihnen niemand helfe. Entlebendigung bedeute, dieses Außen und damit die Menschen, die es verursachten, aus der Welt zu schaffen.
Die Täter würden zwanghaft lachen, wenn sie in eine Menschenmenge schössen und der Platz sich leere. Dann sei alles Bedrohliche im Inneren des zerstörten Körpers wie fort geblasen. Durch Schüsse aus nächster Nähe oder Messerattacken würde der Killer das im eigenen Körper befürchtete undifferenzierte Organinnere beherrschen.
Beim Blackout würde er im Nahkampf das Bewusstsein verlieren und als „Held“ wieder aufwachen. Das Pendant dazu sei das Paradies der Selbstmordattentäter.
Die Ideologie spiele dabei nur insofern eine Rolle, dass sie die Täter jeglicher Eigenverantwortung entbinde. Grundlegend sei hingegen das Verlangen, zu töten. Die eigene Deformation habe einen Grad erreicht, in dem körperliche Lust nur durch Gewalt gegenüber anderen Lebenden erfahrbar sei.
Die Mörder seien oft junge Männer in Pubertätskrisen, denen der Boden unter den Füßen weg bräche. Sie seien unsicher über ihre eigene Sexualität, die Position am Arbeitsplatz und hätten keine verlässlichen Freundschaften. Der Münchener Attentäter zum Beispiel hätte sich von der Umwelt isoliert.
Die Tötungsformen von Männern mit dieser Grundstörung seien weltweit sehr ähnlich. Sie wollten Killer sein, von denen die Welt Notiz nähme.
Narzissmus
Psychiater diskutieren bei Amoktätern die narzisstische Störung als Auslöser. Narzissten bauen sich ein falsches Selbst auf, das abhängig ist von der Bewunderung anderer. Innerlich fühlen sie aber, dass ihr grandioses Selbstbild falsch ist und müssen es deshalb immer wieder neu beweisen.
Sie fühlen sich ständig gekränkt, wenn andere ihnen nicht permanent bestätigen, dass sie die Größten, Besten oder Schönsten sind. Um Selbstliebe handelt es sich nicht. In Wirklichkeit haben Narzissten ein sehr negatives Bild von sich. Sie fühlen sich ohnmächtig, hilflos und bedroht und spalten dieses Erleben in Form von Größenfantasien von sich ab.
Die als negativ angesehenen Seiten von sich selbst projizieren sie auf andere und bekämpfen in diesen „Feinden“ ihre eigenen Eigenschaften, vor denen sie davon laufen. Ihre negativen Aspekte versuchen sie zu vernichten, indem sie andere vernichten. Deshalb sind sie unfähig, wirkliche Konflikte wirklich zu lösen und hören im Fall eines Falles erst auf, wenn der „Gegner“ vollständig zerstört ist.
Adam Lankford erkannte Gemeinsamkeiten zwischen Selbstmordattentätern und anderen Selbstmördern. Angst, Versagen, Schuld, Scham und Wut kennzeichne beide. Selbstmordattentäter litten unter psychischen Störungen, von 130 hätten 66 den Tod von Menschen erlebt, die ihnen nahe gestanden hätten. Probleme in Familie, Schule und Arbeitsplatz seien sowohl für Selbstmordattentäter typisch wie für andere Selbstmörder.
Wie entwickelt sich ein Amoklauf?
Die Taten verlaufen grob in fünf Phasen. Im Vorstadium häufen sich Schwierigkeiten im sozialen Umfeld, soziale Orientierungsmuster brechen zusammen oder sind nicht vorhanden, und die Betroffenen empfinden ihr persönliches Ansehen als gefährdet. Liegt, laut Theweleit, bereits eine Grundstörung vor, wirken solche Belastungen wie Brandbeschleuniger.
Akute Belastungen führen in der zweiten Phase zu einer Spannung, die die Betroffenen nicht mehr kompensieren können. In der dritten Phase ziehen sich die Betroffenen von der Gesellschaft zurück. Sie wirken zugleich depressiv und feindselig, grübeln allein herum und ihre Gedanken sind von Ängsten und Rachefantasien geprägt. Die Betroffenen werden immer reizbarer. Drohungen, Klagen, Vorwürfe an die Außenwelt und ständig wiederholte „Mantras“ lassen sich als Warnsignale wahrnehmen.
Die Betroffenen sehen sich von Feinden umringt. Ihre Stimmungen schwanken zwischen Wut und Angst.
Im vierten Stadium, den „verwirrten Sinnen“ bricht eine Überreaktion hervor, planlose Aktionen von Angriff und Flucht gehen einher mit extremer Erregung. Die Betroffenen schreien, rasen und greifen wahllos ihre Opfer an. Am Ende richten sie sich oft gegen sich selbst.
In früheren Beschreibungen folgte bei überlebenden Amokläufern ein tiefer Schlaf und eine tiefe Depression.
Tod als Erlebnis
Für David S. in München gelten diese „klassischen“ Merkmale nur bedingt. Auch er zog sich immer mehr zurück. Doch brach bei ihm die Gewalt nicht aus „verwirrten Sinnen“ und ziellos durch, sondern er plante seine Morde über einen langen Zeitraum.
„Unpolitische“ Amokläufer leiden unter einer zerstörten Körperlichkeit, konnten Kränkungen nicht verarbeiten, finden keine Anerkennung im Leben und „vollenden“ ihr Leben in einer Tat, in der sie andere und sich auslöschen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- L. Adler.: Amok. Eine Studie. München 2000
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.