Der innere Kritiker, der sich beschwere, dass wir zu dumm, zu faul, zu schwach oder zu egoistisch sind, könne uns zu Engagement führen, aber auch zu Dauergrübeln, Selbstzweifeln und Reizbarkeit, so der Facharzt für Psychotherapie und Psychosomatik Düssler. Gerade am Rand einer Depression oder eines Burnouts setze uns diese mächtige innere Instanz unter Druck. Von der Beruhigung des inneren Kritikers könnten wirn jedoch sehr profitieren und die Logik unseres scheinbar unlogischen Denkens verstehen.
„Auf mich wirkt es immer wieder wie ein Wunder: Wenn wir realistisch über uns denken und die entscheidenden Spielregeln im Umgang mit uns selbst beherzigen, können wir unsere kindliche Seite immer wieder selbst trösten und tatsächlich unseres Glückes Schmied sein.“ (Burkhard Düssler)
Der innere Kritiker kreist laut Düssler ums Selbstwertgefühl. Er warne uns vor allem, was dieses einschränkt: Fehler, Kritik oder Misserfolge. Andererseits treibe er uns aber an, das Selbstwertgefühl durch Erfolge, Anerkennung und Zuneigung zu verbessern.
Inhaltsverzeichnis
Den inneren Kritiker nicht zum Schweigen bringen
Wir können den inneren Kritiker nicht zum Schweigen bringen, so Düssler, und wir müssten das auch nicht. Depressive würden den inneren Kritiker als „graue Wolke“ kennen, die jede Aktivität lähme. Das führe zu Körperspannungen und Schmerzen, die negativen Gedanken bestimmen dem Autor zufolge das Geschehen mit Dominanz. Auch wenn klar werde, dass der innere Kritiker nicht immer Recht hat und seine Ansprüche nicht zu unseren eigentlichen Überzeugungen passen, könnten wir uns seiner zermürbenden Kritik kaum entziehen.
Ein überaktiver innerer Kritiker führe zu Abwertung und Beschuldigungen wie „Du warst schon immer schuld und minderwertig“. Folgen können übermäßige Angst sein ebenso wie Frust-Essen oder hohe emotionale Verletzlichkeit. Auch wenn er sich weniger extrem äußert, nervt er. Kompliziert wird es, weil wir merken, dass seine Urteile zwar übertrieben sind, aber „irgendwie“ auch stimmen. So seien wir versucht, uns dieser übertriebenen Selbstkritik zu entziehen, indem wir uns ablenken, ob durch Fernsehen, Internet oder Aufräumen. Dadurch entwickle sich höchstens ein innerer Kampf, der innere Kritiker lasse sich jedoch nicht zum Schweigen bringen.
Statt den inneren Kritiker zur Ruhe zu bringen, könnten wir jedoch lernen, in friedlicher Koexistenz mit ihm zu leben und sogar von ihm zu profitieren.
Eigentlich doch kein übler Kerl
Der innere Kritiker sei nicht nur negativ. Er verhindere heftige Konflikte und bringe uns bei, zivilisierte Umgangsformen an den Tag zu legen. Er inspiriere uns, durchzuhalten und so Lohnendes zu erreichen. Ohne ihn ginge es also nicht. „Wie entlastend wäre es, ihn mit seinem übertriebenen Alarm zurückzuhalten und uns nur noch mit sinnvollen Warnungen zu unterstützen.“ Um dies zu ermöglichen, müssen wir den inneren Kritiker jedoch erst einmal kennenlernen, so Düssler.
Hinter der Fassade des Tyrannen
Der Autor wollte schlichtweg nicht glauben, „dass die menschliche Psyche eine fundamentale Fehlkonstruktion enthielte“ und suchte nach dem versteckten Sinn der (übermäßigen) inneren Selbstkritik. Welcher Sinn könnte das sein?
Düssler schreibt: Er warnt uns vor Gefahren (…)- Dementsprechend gibt es in jedem Menschen eine Instanz, die unwillkürlich auf scheinbar bedrohliche Situationen reagiert. (…) Das gilt für körperliche „Gefahren“ ebenso wie für „zwischenmenschliche Gefahren“, wenn Sie sich zum Beispiel in einer Gruppe scheinbar danebenbenommen haben.
Alarmstufe Rot! – Warum eigentlich?
Bei vielen Bedrohungen gehe es um Situationen aus der sozialen Umwelt. Der innere Kritiker sehe Gefahr in der Ablehnung durch unsere Mitmenschen. Diese Instanz mache uns klar, was zu tun sei, um sich beliebt zu machen und so „Seelennahrung“ zu bekommen. Er sorge dafür, dass unser Wunsch nach Anerkennung und Zufriedenheit befriedigt wird.
Woher der innere Aufpasser seine Botschaften hat
Grundlegende Botschaften sammeln wir laut Düssler in unserer Kindheit ein. Manche solcher Botschaften seien erstens überzogen und würden zugleich über Generationen vermittelt wie zum Beispiel „Wer Schwäche zeigt, hat schon verloren.“ Aber auch Kinder könnten Botschaften ihrer Eltern radikalisieren, indem sie alles tun, deren Anerkennung zu bekommen. Elterliche Botschaften könnten so zu einem verallgemeinerten und selbstschädigenden Lebensmotto werden.
Andere innere Botschaften entwickeln wir selbst. Oft liege der Ursprung in Fähigkeiten, die die jeweiligen Kinder besonders gut können. Besonders intellektuelle Kinder könnten die innere Botschaft entwickeln „Du musst immer der Beste sein“, besonders einfühlsame „Du musst dafür sorgen, dass Mama entlastet wird“.
Innere Botschaften entstehen auch aus schmerzlichen Erfahrungen. Ein schmerzhaftes Schlüsselerlebnis könne zu dem Grundsatz führen „So eine Enttäuschung will ich nie wieder erleben“ und zu dem Schluss „Darum werde ich mich nie wieder jemand anvertrauen!“
Manche Botschaften des inneren Kritikers täten uns sehr weh und schränkten uns massiv ein. Doch er bedränge uns mit den schlimmsten Botschaften immer dann, wenn wir uns unsicher fühlen, erläutert der Autor. Er verstumme, wenn wir ihm das Gefühl von Sicherheit geben.
Düsser schließt: „Ihr innerer Aufpasser ist also nicht das Problem, und Sie sind es auch nicht – ebenso wenig wie all die sinnvollen und realistischen Botschaften und Überzeugungen, die Sie sich angeeignet haben. Es sind die übertriebenen und die falschen Botschaften, die Sie in sich tragen und von denen sich ihr Aufpasser unter Druck setzen lässt.“
Ich sehe was, was du nicht siehst – und das ist kindlich
Realistisch zu denken, sei nicht die Sache des inneren Kritikers. Er erscheine naiv und übermäßig ängstlich. Seine Vorstellungen passten besser zur Erlebniswelt von Kindern als zur erwachsenen Realität. Er vertrete radikale Standpunkte und übertreibe häufig, verliere schnell den Überblick bei starken Gefühlen, könne unter Stress wichtige Informationen nicht mehr wahrnehmen oder verarbeiten, sondern sehe nur einen kleinen Ausschnitt der Realität, der ihn beängstige. Seine große emotionale Abhängigkeit von Anerkennung seien kindliche statt erwachsene Eigenschaften. Da er kindlich denke, dürften wir den inneren Aufpasser nicht als Autorität behandeln.
Kein Kampf – aber zwei Gewinner
„Wenn ein Erwachsener (…) in seinem Tunnelblick steckenbleibt und Kritik regelmäßig als Missachtung seiner Person versteht, spricht dies dafür, dass er den Tunnelblick seines Aufpassers übernimmt. Das kann im Laufe der Zeit Chaos und Leid verursachen.“
Wird dieser Punkt erreicht, leide zum einen der Betroffene selbst, für den sein Umfeld eine stetige Quelle von Verletzungen darstelle, zum anderen werde das soziale Umfeld ständig seinen Gefühlsausbrüchen und „Gegenangriffen“ ausgesetzt.
Das heutige Problem bestehe, da der kindliche Aufpasser nicht erkennen könne, ob die gegenwärtige Situation genauso bedrohlich ist, wie die, an die er sich erinnere. Beschimpfen wir den kindlichen Kritiker jetzt, empfinde er das als Angriff und werde noch ängstlicher. Wir würden in uns einen inneren Machtkampf führen, den wir nur verlieren können.
Sie sollten am besten den kindlichen Aufpasser nicht zu ernst nehmen – im Wissen darum, dass viele seiner Botschaften falsch oder übertrieben sind. Ernst sollten sie ihn jedoch nehmen, denn im Kern seien seine Botschaften berechtigt.
Düssler schreibt: Die warnenden Botschaften des kindlichen Aufpassers beruhen auf ganz realen, persönlichen Erlebnissen und Wahrnehmungen; darum sind sie aus seiner Sicht alle berechtigt. Und aus diesem Grund sollten seine Ängste von uns ernst genommen werden.
Verständnis und Aktion seien aber zwei verschiedene Paar Schuhe: „Unser Verständnis für den kindlichen Aufpasser sollte allerdings nicht dazu führen, dass wir seine übertriebenen Befürchtungen als Wahrheiten hinnehmen und seine Anweisungen unmittelbar in die Tat umsetzen.“
Was tun? „Wenn Sie es also schaffen, sowohl ein gewisses Verständnis für die Ängste ihres kleinen Aufpassers aufzubringen als auch das klare Bewusstsein, dass seine Botschaften wahrscheinlich übertrieben sind, hätten Sie schon mal einen guten Anfang gemacht”, so Düsslers Fazit.
Mit wem Sie reden, wenn Sie mit sich reden – Drei innere Instanzen
Ein innerer Dialog sei nicht nur normal, sondern sinnvoll. Doch mit wem reden Sie, wenn Sie mit sich reden, fragt er. Da wäre erstens der kleine Aufpasser.
Dieser innere Aufpasser habe Zugriff auf unsere „persönlichen Wahrheiten“, also auf die Botschaften, die wir in unserem bisherigen Leben eingesammelt haben wie „Das musst du tun!“ oder „Das ist wichtig!“. Da diese Wahrheiten unsere Sicht auf das Leben steuerten, seien sie sehr machtvoll. Sie trügen wesentlich zu unserem Selbstbild bei, zu dem, was wir meinten, zu sein.
Der innere Aufpasser habe die Aufgabe, zu verhindern, dass als schmerzlich abgespeicherte Erfahrungen sich wiederholen. Dabei drücke er auch unrealistische „Wahrheiten“ wie Stacheln in unsere Seele. Das tue weh. Je weiter wir den Glauben an die unrealistischen Botschaften abbauen können, umso weniger betone unser kindlicher Aufpasser sie und umso geringer würden die dadurch hervorgerufenen Schmerzen. Wir sollten also die unrealistischen Botschaften durch Wahrheiten ersetzen, die uns wirklich überzeugen können. Die zweite Instanz sei das innere Kind, das sich immer dann melde, wenn wir etwas spontan tun, uns begeistern oder „kindliche Bedürfnisse“ verspüren.
Dem kindlichen Aufpasser stehe der innere Erwachsene entgegen. Im Dialog der inneren Instanzen sollten Sie sich mit diesem inneren Erwachsenen identifizieren. Denn sei dieser wach, stünden Sie selbst als Kapitän auf der Brücke. Das sei jedes Mal der Fall, wenn Sie erwachsen handeln, ob es darum gehe, einen Text zu verstehen oder regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Dieses erwachsene Ich sei in der Regel gelassener als der innere Aufpasser, könne seinen Verstand viel besser einsetzen und habe eine höhere Lebenserfahrung. Er könne seine erwachsenen Überzeugungen immer dann am besten einsetzen, wenn er einen realistischen Überblick über die entsprechende Situation habe.
Im Stress, wo wir diesen Überblick nicht haben, sei die Stimme des Erwachsenen jedoch häufig die leisere, und der ängstliche Aufpasser sei mit seinen kindlichen Befürchtungen auf sich allein gestellt.
Düssler schließt: Die entscheidende Herausforderung besteht demnach darin, dass wir unser „erwachsenes Ich“ mit seinen Fähigkeiten und Erfahrungen immer wieder ins Spiel bringen und eigene realistische Überlegungen aufbauen. Denn dann können wir unseren überängstlichen kindlichen Aufpasser entweder beruhigen oder von seinen Hinweisen profitieren, wenn wir erkennen, dass er recht hat.
Das innere Kind
Das innere Kind zeigt sich, laut Düssler, nicht nur als ängstlicher Aufpasser: „Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, es sich mit seinem inneren Kind gut gehen zu lassen. Und unendlich viele, die schmerzlichen Gefühle des inneren Kindes zu spüren: Es kann traurig, bockig, verletzt sein, sich einsam und minderwertig fühlen. Wenn wir aufmerksam sind, können wir es wahrnehmen, sobald es sich mit seinen Bedürfnissen und Gefühlen meldet.“
Welche Instanz meldet sich gerade?
Wie erkennen wir aber, Düssler zufolge, ob sich gerade kindlicher Aufpasser, inneres Kind oder innerer Erwachsener meldet?
Der kindliche Aufpasser zeige sich deutlich, wenn wir uns selbst unter Druck setzen, bremsen oder Selbstvorwürfe machen. Wenn-dann Verknüpfungen sind, laut Düssler, seine übliche Methode vor vermeintlichen oder realen Gefahren zu warnen. Das innere Kind melde sich hingegen mit Bedürfnissen wie etwas Schönes zu tun, es empfinde ebenso tiefe Trauer wie Einsamkeit und könne sich sehr begeistern. Der innere Aufpasser hingegen gehe über Zufriedenheit nicht hinaus. Entsprechen Gedanken aber realistischen Überzeugungen, spiele der innere Erwachsene mit. Den erkennen Sie auch an seiner Fähigkeit, einen realistischen Überblick herzustellen, so Düssler. In Stresssituationen melde er sich leise, während der innere Aufpasser dränge.
Melden sich mehrere Instanzen zugleich, sollten Sie sich, laut Düssler, um die kümmern, die am lautesten ist. Diese brauche ihre Aufmerksamkeit am dringendsten.
Wie Sie ihren inneren Aufpasser richtig verstehen
Der Dialog mit den inneren Instanzen sei zu einem festen Bestandteil der Psychotherapie geworden. Der Dialog mit dem inneren Kritiker laufe jedoch leider oft auf einen inneren Machtkampf hinaus, was der Integration der verschiedenen Stimmen nicht gerecht werde. Wir könnten jedoch lernen, den inneren Dialog direkt und offen zu führen, auch wenn sich das erst einmal merkwürdig anfühle. So könnten wir einen direkten Zugang zu den sonst verborgenen Spielregeln des kindlichen Aufpassers bekommen.
Wir könnten den inneren Kritiker mit einer bedrohlichen Fantasie aus seiner Komfortzone holen und ihn so deutlicher wahrnehmen. Dann gehe es darum, wovor er uns warnen will. Die Frage an ihn laute: „Was könnte in deiner kindlichen Fantasie schlimmstenfalls passieren?“ Falls Sie jetzt eine Warnung bekommen, dann stehen Sie im Dialog mit ihrem inneren Aufpasser. Ein ängstlicher Aufpasser brauche ebenso Verständnis wie ein inneres Kind.
Das richtige Einschätzen vermeintlicher Gefahren
Um einzuschätzen, ob die Gefahr, vor der uns der innere Aufpasser warnt, vorhanden ist, brauche es eine Realitätsprüfung mit dem gesunden Menschenverstand. Dazu müssten wir unterscheiden, was wir spontan fühlen, denn das sei der Alarm des inneren Aufpassers, und was wir tatsächlich für realistisch halten. Sobald Sie die wichtigsten Ängste ihres inneren Aufpassers geklärt haben, werde der Dialog mit ihm immer flüssiger.
Dass der innere Aufpasser übertreibt, könnten Sie feststellen, indem Sie die Situation überprüfen. Fehler könnten zwar Probleme verursachen, doch kaum ein Fehler führe zu totalem Chaos. Rückschlüsse auf völlige Unfähigkeiten seien übertrieben, denn alle anderen Eigenschaften werden nicht dadurch negativ, dass Sie in einem Bereich nicht mit anderen mithalten können.
Der virtuelle Freund
Eine Möglichkeit, die irrationalen Ängste in den Griff zu bekommen, sei ein virtueller Freund, den Sie mit ihrem inneren Aufpasser reden lassen können. Dieser virtuelle Freund könne Situationen mit dem inneren Aufpasser gemeinsam durchstehen und beurteilen, ob diese real gefährlich seien oder nicht. Sie sollten sich fragen: Was würde ich meinem virtuellen Freund sagen.
Der Sinn von Realitätsprüfungen
Anfangs können Düssler zufolge die Realitätsprüfungen eine echte Herausforderung sein. Sie sollten Ratschläge zuerst einmal ihrem virtuellen Freund geben, denn anderen können wir viel besser einen klugen Rat geben als uns selbst, so der Autor. Im Laufe der Zeit würden die Realitätsprüfungen viel schneller ablaufen.
Diese Überprüfungen seien die einzige Möglichkeit, unsere eigenen Werte und Überzeugungen zu finden, ansonsten folgten wir der Gewohnheit oder der Stimme unseres inneren Aufpassers.
Typisches Denken des Aufpassers
Unser innerer Aufpasser liebe Extreme. Typisch für ihn seien Gedanken wie „nur“, „immer“, „dauernd“, „jeder“, „nie“, „total“ oder „immer schlimmer“. Schwierig werde es, wenn negative Extreme erstens nicht zutrefen und wir sie zweitens unbemerkt als Tatsachen ansehen. Der hohe Preis seien reale Misserfolge und Hoffnungslosigkeit.
Diese negativen Extreme hätten aber den Sinn, dass sie als Ventile wirken und komplizierte Probleme scheinbar vereinfachen. Doch diese Wirkung halte nur kurz an, und dann kämen wieder die üblichen Gefühle des Aufpassers zum Vorschein: Misstrauen und Angst. Der innere Aufpasser brauche jetzt die Rückmeldung: „Ja, so schlimm fühlt es sich im Moment an.“
Dem extremen Denken entkommen
Die Fähigkeit, die negativen neben die positiven Dinge zu stellen, helfe, dem extremen Denken zu entkommen. Das Anerkennen kleiner Lichtblicke bewahre vor tiefer Verzweiflung. Je mehr ein Mensch in einer psychischen Krise stecke, umso mehr sei er in extrem negative Botschaften verstrickt.
Die kleinen Lichtblicke seien notwendig, um die Geduld aufzubringen, in vielen kleinen Schritten zum Erfolg zu kommen.
Wenn, dann- oder doch nicht?
Typisch für den inneren Aufpasser sei auch ein „Wenn-dann-Denken“, also das Aufstellen von Kausalketten, die oft nicht der Wirklichkeit entsprechen. Er kopple manche Ereignisse an eine ängstliche Schlussfolgerung. Sehen Sie sich diese Schlussfolgerungen realistisch an, würden Sie meist merken, das das eine (wenn) mit dem anderen (dann) nicht das Geringste zu tun hat.
Realistische statt unrealistische Botschaften
Um unrealistische Botschaften durch realistische zu ersetzen, gelte es zuerst, den unbrauchbaren Teil der Botschaften zu entsorgen. Erst, wenn Sie diese als unbrauchbar erkannt haben, könnten Sie sie loswerden. Und Sie entsorgen diese unbrauchbaren Botschaften da, wo sie herkommen – in der Vergangenheit.
Wenn Sie zum Beispiel Angst vor einer neuen Beziehung haben, könne das daran liegen, dass Sie sich für das Ende der alten Beziehungen schuldig fühlen und sich für beziehungsunfähig halten. Würden Sie es hingegen schaffen, die eigenen Fehler ebenso wie die des Ex-Partners realistisch einzuschätzen, könnten Sie aus der vergangenen Beziehung für die nächste lernen. Damit würde die neue Beziehung zu einer bereichernden Chance.
Selbst schmerzliche Erinnerungen können verblassen, wenn die mit ihnen verschwundenen Botschaften verschwinden, so Düssler. Es gebe zudem bedrohliche Botschaften, die in der Zeit, als sie entstanden, realistisch gewesen, es aber heute oft nicht mehr seien.
Die neue Überzeugung formulieren
Haben Sie unrealistische Botschaften erst einmal geradegerückt, sei es an der Zeit, neue Überzeugungen zu formulieren, die der Realität angemessener sind. So könnten Sie Unmengen verlorener Kraft zurückgewinnen, die Sie für den Rest ihres Lebens freier durch die Welt gehen lassen. Positiv und realistisch sei es zum Beispiel sich zu sagen „Ich darf alles fühlen und denken! Und ich darf alles tun, was meine virtuelle Freundin tun darf: alles, was fair für mich und die anderen ist.“ Oder „Ich muss es nicht tun, aber ich kann es tun, wenn ich will.“
Die häufigsten Stressbotschaften
Eine zentrale Stressbotschaft ist laut Düssler: „Ich bin wertlos“. Groß sei die Angst vor dem Gefühl der Minderwertigkeit oder als Versager dazustehen. Daraus folge eine permanente Selbstkritik: „Achtung, die denken schlecht über dich!“
Daraus folgten aggressive ebenso wie depressive Varianten. Eine aggressive Form sei: „Solange du andere abwerten kannst, bist du mächtiger und mehr wert als sie!“, eine depressive: „Du bist eben minderwertig, also sei still und finde dich damit ab.“
Weit verbreitete Muster, um Minderwertigkeitsgefühle abzuwehren, seien Themenwechsel, aggressives Abwerten des Gegenübers, übermäßiges Vermeidungsverhalten oder vorwurfsvoller Rückzug. Hätten Sie aber verstanden, dass Sie unermesslich wertvoll sind und sich nur wegen erlernten Denk- und Handlungsmustern minderwertig fühltn, können Sie sich Leitsätze dazu vor Augen führen wie: „Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, weil ich sehr wertvoll bin.“
Ihr Werkzeugkasten zur Realitätsprüfung
Am Ende gibt Düssler einen „Werkzeugkasten“ mit an die Hand, um den beschriebenen Weg zu einem positiveren Selbstbild systematisch umzusetzen. Diese Werkzeuge sind erstens der virtuelle Freund, zweitens reale Freunde, die Sie in den jeweiligen Situationen befragen, drittens Skalen von 0 bis 100 Prozent (um gegen Botschaften wie „Ich mache immer alles falsch“ vorzugehen), viertens Experimente, mit denen Sie ihren inneren Aufpasser schulen, fünftens in die Vergangenheit zu gucken, was uns bisher gelang, um so die Wahrscheinlichkeit für die Zukunft zu schätzen, und sechstens die Frage nach der Sicherheit.
Fazit
Düssler schmiegt seine Thesen plastisch an die Praxis an. Wer sich für wissenschaftliche Grundlagen interessiert, wird Erkenntnisse aus der Gedächtnis- wie Hirnforschung vermissen, die genau erklären könnten, wo die von dem Psychotherapeuten als innerer Aufpasser bezeichneten Warn- und Angstbilder ihren Ursprung haben. So funktioniert Erinnerung nicht als Chronik, sondern als Orientierungssystem, das sich immer wieder neu strukturiert, je nachdem, welche Erfahrungen in welcher Art und Weise in der Gegenwart sinnvoll zu sein scheinen. Zudem kommen die starken Angstbilder, die Stress auslösen, aus unseren älteren Schichten des Gehirns, die wir sogar mit Reptilien teilen.
„Hör auf, dich fertigzumachen“ hat jedoch durchaus praktischen Wert. Es steht zwar für jemand, der sich mit Psychologie und Psychotherapie ein wenig auskennt, nichts Neues drin, ist aber so bildhaft zusammengefasst, dass sich die beschriebenen Übungen auch im Alltag gut anwenden lassen.
Für wen eignet sich das Buch, und für wen nicht?
Indessen eignet es sich am besten für „Normalneurotiker“, die ihren „inneren Aufpasser“ erkennen können und in der Lage sind, mit ihm umzugehen. Wer an einer ernsten psychosomatischen Störung leidet, in der dieser innere Kritiker ungehemmt seine Macht ausübt, braucht fremde Hilfe und kann sich nicht auf dieses Buch verlassen. Das gilt auch für psychische Störungen, in denen eine Realitätsprüfung nicht möglich ist, da sie mit Realitätsverlust verbunden sind. Das erste gilt für schwere depressive Erkrankungen, das zweite für Psychosen und beides für Bipolarität (Bipolare Störung). (Dr. Utz Anhalt)
Burkhard Düssler
Hör auf, dich fertigzumachen.
Wie wir zu einem dauerhaft positiven Selbstwert finden.
Kailash 2018.
ISBN: 978-3-424-63158-6
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.