Pandemien Teil 3: Die Cholera
„Die Wahl zwischen Pest und Cholera“ ist die Wahl zwischen zwei Übeln. Die Cholera ist zwar heute in modernen Gesellschaften leicht zu behandeln, doch unbehandelt endet sie oft tödlich und fordert auch 2020 weltweit Tausende von Opfern. Sie gehört(e) zu den Krankheiten, die die meisten Pandemien verursachten.
Inhaltsverzeichnis
Die Symptome der Cholera
Cholera verursacht starke Schmerzen, gleichzeitiges starkes Erbrechen und massiven Durchfall – die Betroffenen verlieren bis zu 20 Liter Flüssigkeit pro Tag. Sie laufen bläulich an und nehmen in kürzester Zeit extrem an Gewicht ab. Sie sterben unbehandelt an Austrocknung und dem Verlust von Mineralien, die notwendig sind, um die Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Ohne Behandlung sterben zwei von drei Erkrankten im Laufe einer Woche.
Der Cholera-Erreger
Cholera stammt vom griechischen Wort cholé, das bedeutet Galle. Historische Begriffe waren „Gallenruhr“ oder „Gallenbrechdurchfall“. Sie wird durch ein Bakterium verursacht – Vibrio cholerae. Dessen Gift öffnet die Schleimmembranen des Darms und führt so zu extremem Durchfall, der als „Reiswasserstuhl“ bekannt ist.
Die Bakterien sammeln sich in Trinkwasser, das Fäkalien verschmutzen, die den Mikroben als Nahrung dienen. Selten infizieren sich Menschen auch über Gegenstände oder Lebensmittel, an denen die Erreger haften. Sie gelangen durch den Mund in den Magen-Darm-Trakt.
Wie passte sich das Cholera-Bakterium an den Menschen an?
Der Cholera-Erreger existierte historischen Belegen und Indizien zufolge auf dem indischen Subkontinent sehr lange, bevor es zur ersten Pandemie kam. Erst die Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht kann ihm die Möglichkeit gegeben haben, sich oral über fäkalienverschmutztes Trinkwasser und Nahrung zu verbreiten.
In den Kulturen der mobilen Jäger und Sammler gab es solche Brutstätten im Wasser nicht in der Form, dass ein Bakterium eine ununterbrochene Infektionskette schaffen konnte. Um eine geschlossene Infektionskette von menschlichen Ausscheidungen über das Trink- und Waschwasser zu etablieren, mussten Massen an Menschen solches Wasser an der gleichen Stelle über einen langen Zeitraum nutzen.
Die Großstädte der industriellen Revolution, in denen sich ein Vielfaches an Menschen sammelte, die nicht an abgeschlossene Abwassersysteme angeschlossen waren, ermöglichte es den Bakterien, sich vor Ort effizienter auszubreiten als je zuvor. Zudem trug der globale Schiffsverkehr die Mikroben mit sich.
Die Cholera-Pandemien
Die erste Cholera-Pandemie von circa 1817 bis 1824 ist bekannt als „Asiatische Cholera“. Sie begann in Jessore bei Kalkutta, wanderte durch Indien nach China und Südostasien und erreichte Muscat, den Iran und Bagdad. Die zweite Cholera-Pandemie von 1829 bis 1851 begann wieder in Indien und breitete sich nach China, Europa und Amerika aus. Die dritte Cholera-Pandemie (1852 bis 1860) hatte ihr Zentrum in Russland, die vierte begann 1863 in Bengalen und wurde durch indische Muslime in Mekka verbreitet, von wo aus sie bis 1875 den Mittleren Osten verwüstete.
Die fünfte Pandemie von 1881 bis 1896 begann wieder einmal in Indien und erreichte Europa, wo unter anderem Deutschland schwer getroffen wurde. Die sechste von 1899 bis 1923 tötete allein in Indien rund 800.000 Menschen, breitete sich vor allem im Mittleren Osten, Osteuropa und Nordafrika aus. Die siebte Pandemie startete 1961 in Indonesien und erstreckte sich über Indien, Russland und Nordafrika. Sie hält mit nationalen Epidemien bis heute an.
Eine alte Seuche?
Bereits lange vor Christus berichten griechische, indische und chinesische Quellen von einer Seuche, deren Symptome wie extremer Durchfall der Cholera ähneln. Hippokrates (460 bis 377 v. Chr) und Galen in Rom (129 bis 216 n. Chr.) berichteten von solch einer Krankheit. Es ist aber zweifelhaft, dass es sich um den Erreger handelte, der 1817 die erste Cholera-Pandemie auslöste.
Einer Abhandlung von Robert Pollitzer zufolge deutet hingegen eine Inschrift in einem Tempel in Gujarat im Westen Indiens aus der vorchristlichen Zeit darauf hin, dass das Cholera-Bakterium in Südasien bereits vor Jahrtausenden Opfer forderte. So ist eine Krankheit beschrieben, die nicht nur die Tapferen dahinrafft und durch einen Fluch der Priester entsteht, sondern auch die Lippen blau färbt, das Gesicht einfallen und die Gliedmaßen sowie den Körper schrumpfen lässt. Dieser Zustand beschreibt klar das Aussehen der durch Flüssigkeitsverlust ausgezehrten Cholerapatienten.
Ein „Gift, das die Augen verdunkelt“
Klare Evidenz für die Cholera gibt es kurz nachdem Vasco da Gama 1498 die Küste von Malabar erreichte. Der Portugiese Gaspar Correa beschrieb bereits 1503 in seiner Chronik „Lendas da India“ viele Tote in der Armee des Herrschers von Calicut, ausgelöst unter anderem durch eine Krankheit, die mit plötzlichen Bauchschmerzen begann und an der ein Mann in acht Stunden starb. Zudem notierte er einen Ausbruch im Frühjahr 1543.
Die Einheimischen nannten, Correa zufolge, die Krankheit „Moryxy“, und die Todesrate war so hoch, dass es kaum möglich war, die Opfer zu beerdigen.
Correa scheibt: „So schmerzhaft war der Krampf, dass es schien, als wirke das schlimmste Gift, mit Erbrechen, begleitet vom Austrocknen des (Körper-)Wassers, als würde der Magen ausgestülpt, und dazu Krämpfe in den Sehnen der Gelenke und der Fußsohle mit so extremem Schmerz, als wäre der Leidende am Punkt des Todes; die Augen verdunkelt, und die Hände wie Füße schwarz und gewölbt.“ (Gaspar Correa: The three voyages of Vasco da Gama, and his viceroyalty, Introduction, Adamant Media Corporation, 2001)
Ohne jeden Zweifel beschrieb Correa hier die wesentlichen Symptome der Cholera.
Eine „indische Krankheit“
Zwischen diesen ersten Zeugnissen durch Europäer 1503 bis zur ersten Pandemie 1817 gibt es diverse Aufzeichnungen über Choleraausbrüche in Indien, von denen mindestens zehn den Beschreibungen nach als Epidemien zu bezeichnen sind.
Im 16. Jahrhundert beschränkten sich diese Berichte auf Goa, da die Portugiesen hier ihr Handelszentrum hatten und der Rest des Subkontinents für Europäer eine Terra incognita blieb. Mit der Präsenz von Briten, Niederländern und Franzosen kamen dann auch Notizen von anderen Regionen der indischen Westküsten in die europäischen Chroniken. Demnach breitete sich die Cholera in den 1670er Jahren an der Küste von Surat aus und wütete 1695 in Daman nahe Mumbai.
Der englische Arzt Dr. Paisley schrieb über die Cholera in Madras im Februar 1774, und diese Überlieferung ging 1807 in das medizinische Handbuch „Diseases of India“ ein. Vermutlich galt die „Asiatische Cholera“ als endemische Erkrankung, und die britischen Kolonialherren hatten noch Ende des 18. Jahrhunderts kaum Kenntnisse über riesige Teile ihrer Provinzen im Landesinneren.
Erst 1786 wurde ein Hospital Board in Madras und Kalkutta eingerichtet, sodass es durch die Briten zuvor überhaupt keine regulären Berichte über Cholera bei Europäern und indischen Soldaten gab. Die dürftigen Belege lassen indessen keinen Zweifel zu, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Cholera nicht nur an den Küsten des Subkontinents, sondern auch außerhalb der indischen Grenzen in Südasien verbreitet war.
Die „Asiatische Cholera“ – Die erste Pandemie
Die erste Cholera-Pandemie grassierte ungefähr zwischen 1817 und 1824 mit lokalen Epidemien in den Jahren davor und danach. Sie verbreitete sich über viele Länder Asiens und Ostafrika und schwappte von Kleinasien nach Russland, nach Südost-, Ost- und dann nach Mitteleuropa. Aus Deutschland sind erste Cholerafälle 1831 belegt.
Wie kam es zur ersten Cholera-Pandemie?
Cholera-Epidemien gab es im heutigen Indien vermutlich schon in der Antike. Seit dieser Zeit war Indien über die Seidenstraßen mit Zentralasien, Persien und Arabien verbunden und diese über Kleinasien und das Mittelmeer mit Nordafrika und Europa. Warum kam es also erst 1817 zu einer Cholerawelle, die sich weit über die Länder und auf drei Kontinente ausbreitete?
Philip Alcabes, der Autor von „Dread. How fear and fantasy have fueled epidemics from the Black Death to Avian Flu“, erklärt die erste extreme Verbreitung des Cholera-Bakteriums mit Umwälzungen auf dem indischen Subkontinent. So hätte der Druck der Britischen Ostindien-Kompanie die Herrschaftsstrukturen im heutigen Indien und Pakistan aufgebrochen. Kriege und Hungersnöte hätten zu großen Migrationsbewegungen geführt. Die Lebensbedingungen hätten sich zudem verschlechtert, und so hätte sich die Cholera von lokalen Epidemien auf dem gesamten Subkontinent und in der Folge über Asien bis nach Russland und ins Zentrum Europas ausgebreitet.
Vulkanausbruch und Seuchenwelle
Gillen Wood, ein Professor für Umweltgeschichte an der Universität von Illinois, erwähnt einen Aspekt, der im Ausbruch von Pandemien zu selten erforscht wird. So wie die schlimmste Pestwelle im Europa des 14. Jahrhunderts in Zusammenhang mit dem Temperaturabfall der „Kleinen Eiszeit“ stand, so sieht Wood den Ausbruch des Vulkans Tambora auf Sumbawa (Indonesien) im Jahr 1815 als wichtigen Auslöser der ersten Cholera-Pandemie.
Dieser Ausbruch hätte, Wood zufolge, zu einem massiven Klimawandel zwischen 1815 und 1818 geführt. In Europa ist das Jahr des Ausbruchs als „Jahr ohne Sommer” bekannt – Aschewolken verdunkelten den Himmel, und Kanada war im Juni von Schnee bedeckt. In weiten Teilen Indiens brach die Landwirtschaft zusammen, weil der Monsun ausblieb. Auch andere Forscher vermuten, dass dieses Extremklima dazu führte, dass die in Indien grassierenden Cholera-Bakterien mutierten.
Diese Hypothese wird gestärkt, weil sich in der Folge des Ausbruchs auch andere Seuchen in Südostasien verbreiteten und Erreger einen günstigen Nährboden fanden unter den vom Hunger geschwächten Menschen, deren Mangelernährung das Immunsystem außer Kraft setzte und die im Überlebenskampf durch das Land zogen.
Ein „tropisches Fieber“
Seefahrer wussten längst von dieser Krankheit in den Flussdeltas Südasiens, und sie trug den griechischen Namen „choléra“ – „Gallenfluss“. Sie galt als eine der typischen Fiebererkrankungen heißer Länder – niemand wusste um die Ursache, die Bakterien, die sich in verschmutztem Wasser tummelten. Im 17. Jahrhundert war Cholera bekannt als ernster Sommerdurchfall, und Ärzte glaubten fälschlicherweise, dass „schlechte Luft“ die Seuche auslöste.
Tödliches Wasser über dem Ozean
Vermutlich verbreitete sich 1817 die Cholera als Pandemie, weil ihr Zentrum, Indien, nunmehr inmitten eines florierenden Überseehandels stand – im Unterschied zu den Choleraausbrüchen in den Jahrhunderten zuvor gab es jetzt ständig befahrene internationale Seewege nach Europa, besonders nach London.
Erst einmal breitete sich die Seuche jedoch in Asien aus, von Jessore bei Kalkutta sickerte sie in die Slums der Sundainseln, von dort trieb sie ihr Unwesen in Indochina, dann grassierte sie in China, von Ceylon aus (dem heutigen Sri Lanka) infizierte sie die Maskarenen, bis das tödliche Wasser 1821 schließlich Teheran und Bagdad erreichte.
In Süd- und Südostasien hatte sie leichtes Spiel. Im Süden Chinas wie in Indien, in Ceylon und auf den Sundainseln blieb in den drei Jahren nach dem Ausbruch des Tambora der Monsun aus. Millionen Menschen litten Hunger, und ohne Nahrung fehlten ihnen Vitamine und Mineralstoffe, die einen gewissen Schutz vor Infektionen geboten hätten. Auch das Fleckfieber grassierte im Süden Asiens.
In Persien veränderte die Cholera den Lauf der Geschichte, denn die Toten und Kranken der Infektion schwächten die Macht der Quajaren-Schahs so sehr, dass die russische Armee weite Teile des heutigen Iran einnahm. Es handelte sich um einen Pyrrhussieg, denn auch Zehntausende russische Soldaten starben jetzt an Durchfall und Erbrechen, an Flüssigkeitsverlust und Mineralienmangel.
Iran – Armut und Cholera
Über den Zustand der öffentlichen Gesundheit in Persien zur Zeit der Qadscharen (Qadjaren oder Kadjaren) zwischen 1796 und 1925 gibt es detaillierte Arbeiten. So betrug die Kindersterblichkeit in Persien im 19. Jahrhundert mehr als 50 Prozent im Vergleich zu damals 20 Prozent in Deutschland oder Frankreich. Unwissenheit über die Ansteckung mit Krankheiten, katastrophale hygienische Verhältnisse, ernster Wassermangel, bittere Armut und damit einhergehender Mangel an Nahrung, Mineralstoffen und Vitaminen sorgten dafür, dass sich infektiöse Epidemien rasant ausbreiteten – so auch die Cholera.
Sie tobte zuerst 1821 in Bushehr und den Provinzen am Persischen Golf, erschien dann in Kazerun, fegte durch die Großstadt Shiraz, griff auf Abadeh in der Provinz Fars über, dann schnellte die Zahl der Opfer in Isfahan in die Höhe, und die Masse der Toten häufte sich im zentralen Iran. Zwei Jahre später hatten die Bakterien das Trinkwasser an der Küste des Kaspischen Meeres erreicht und verseuchten Russland.
Aus der historischen Distanz und dem Wissen über die Infektion durch kontaminiertes Trink- und Waschwasser sowie Nahrung lässt sich die Ausbreitung der Pandemie grob rekonstruieren. So brach die Seuche im Iran zuerst am Persischen Golf aus – vermutlich über Schiffsverbindungen. Da die Erreger in Trinkwasser mehrere Tage überleben und Schiffe, die am Persischen Golf landeten, ihr Wasser in Indien luden, trugen die Seefahrer höchstwahrscheinlich die Krankheit in den Iran und nach Arabien.
Nach Afghanistan, und möglicherweise von dort ebenfalls in den Iran, kam die Cholera vermutlich mit den Karawanen über Land – so wie bereits die Pest über die Seidenstraßen gezogen war. In Maskat brach sie 1821 durch britische Truppen aus, die sich mutmaßlich in Indien oder Afghanistan infiziert hatten – von dort zog sie auf den Routen der arabischen Sklavenhändler in den Nordosten Afrikas.
Die zweite Pandemie – Asien, Afrika, Europa und Amerika
Die zweite Cholera-Pandemie von 1829 bis 1851 begann wieder in Indien und breitete sich nach China, Europa und Amerika aus. In Indien grassierte die Seuche bereits 1826, überschwemmte Afghanistan, erreichte 1829 den Iran, drang über das Kaspische Meer nach Russland ein und tobte schließlich dort. Russische Soldaten, die an der indischen Grenze gestanden hatten, wurden nach Polen beordert, um dort den Novemberaufstand niederzuschlagen und brachten so die Krankheit in das Zentrum Europas – hier erstmals belegt. Im Süden breitete sie sich von Mekka nach Ägypten aus.
1830 erbrachen sich Menschen und starben an Wasser- und Mineralienverlust in Warschau, eingeschleppt durch russische Soldaten, und an den Küsten des Baltikums, wohin das Bakterium vermutlich über die Ostsee von St. Petersburg gelangt war – dann traf es ein Land Europas nach dem anderen.
Unzählige Lebendige wurden innerhalb kürzester Zeit zu blau angelaufenen Leichen – in England wie Deutschland und Österreich 1830/31, in Frankreich und den Niederlanden ein Jahr später. Ebenfalls 1832 brachten Schiffe den Erreger über den Atlantik in die USA: Im Sommer starben täglich mehrere Dutzend New Yorker an der Gallenruhr, in Wien insgesamt 2000 Bürger und Bürgerinnen.
Physiker, Philosophen und Bakterien
Am 14. November 1831 starb der berühmte deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit Anfang 60 mit der Diagnose „Cholera in ihrer concentriertesten Form“ – dabei ist nicht sicher, ob wirklich Cholera die Todesursache war. Zwei Tage später tötete die Krankheit Generalmajor Carl von Clausewitz, der sie sich in Polen zugezogen hatte, wo die russischen Soldaten sie verbreiteten.
1832 beendeten die Bakterien das Leben Georges Cuviers, des Begründers der Paläontologie und wohl größten Zoologen im Europa seinerzeit. Im August desselben Jahres vernichteten die Bakterien auch den Physiker Nicolas Léonard Sadi Carnot, den Begründer der Thermodynamik – er wurde nur 36 Jahre alt.
Ein Desaster der Medizin
Erste Vermutungen, dass Trinkwasser Träger der Verbreitung ist, setzten sich über Jahrzehnte nicht durch, weil Kontagionisten und Miasmatiker die neuen Fakten in ihr bestehendes Theoriesystem einpflanzten statt sie als neue Fakten zu nehmen und vorurteilsfrei zu bewerten. Entweder verbreitete die Cholera sich durch Kontakt von Mensch zu Mensch (Kontagionisten) oder sie entstand durch „faulige Prozesse in der Atmosphäre vor Ort“ (Miasmatiker).
Den Dogmatikern beider Lager fiel nicht auf, dass in Dörfern Menschen in den Erdgeschossen auf der Straßenseite eines Mühlbachs erkrankten, auf der anderen Straßenseite aber kein einziger. Beide Lager sahen die Ursache vor lauter Wasser nicht, da sie ihre festen Konstrukte bereits vorher im Kopf hatten.
Helmut Veil schreibt: „Ein Beobachter, der nur die Kranken sieht, und nicht das Wasser, das sie getrunken haben, kann sich keinen Reim auf das hüpfende Vordringen der Cholera machen. So war das in Europa – über 50 lange Jahre.“ (Helmut Veil: Cholera. Ein Debakel der Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main, 2019, Seite 110).
Wegducken, Verschleiern und Verschweigen waren übliche Methoden in Russland – aus Angst vor dem despotischen Zaren, andernorts wurden Ausbrüche bewusst geheim gehalten, um dem jeweiligen Kriegsgegner gegenüber keine Blöße zu zeigen. Politik beförderte so das Debakel der Medizin.
„Was es gab, war die Illusion der Kontagionisten, mit Quarantäne und Kontaktsperre die Cholera aufzuhalten, und die Illusion der Miasmatiker, durch allgemeine Hygiene und Wetterbeobachtung das Ende der Epidemie zu erhoffen. Und dazwischen immer wieder Halbherzigkeiten, ein bisschen Kontaktsperre da, Rauchfeuer gegen die Luftverpestung dort und Chlorkalk zur Desinfektion. Eine in der undurchsichtigen Lage verständliche hektische Hilflosigkeit gegen einen unsichtbaren Erreger.“ (Veil: Seite 8).
Hinzu kamen Behandlungen, die oft geeignet waren, die Erkrankten noch schneller auf den Friedhof zu bringen. Dazu gehörte der allgegenwärtige Aderlass: Zusätzlicher Blutverlust bei Betroffenen, die extrem viel Körperflüssigkeit verloren, beschleunigte deren Weg aus der Welt der Lebenden.
Hilflose Medizin
Helmut Veil schreibt: „Als sie 1830 von Indien über Russland erstmals bis an die Grenzen Mitteleuropas vorgedrungen war, sahen sich Ärzte (…) mit einer Lage konfrontiert, in der der chaotische Lauf der Cholera die aus Pestszeiten bekannten Regeln aushebelte.“ (Helmut Veil: Seite 7)
Französische Wissenschaftler, die Russland, Österreich und Preußen bereisten, um die Seuche zu erforschen, standen vor dem ungelösten Rätsel, dass die Cholera an weit voneinander entfernten Orten ausbrach, andere aber völlig verschont ließ.
Ohne Wissen um Trinkwasser als Quelle der Ansteckung blieben Maßnahmen wirkungslos: Die Kleidung, in der sich die „Pestflöhe“ einnisteten, war bei der Cholera fast ungefährlich, lokale Quarantäne brachte ebenso wenig wie das Absperren ganzer Staaten wie an der Ostgrenze Preußens. Feuer, um die Luft zu reinigen, halfen nicht gegen einen Erreger, der im Wasser lebte. Veil schreibt: „Die strikten Maßnahmen Preußens zur Kontrolle des menschlichen und des Warenverkehrs strangulierten die Wirtschaft, nicht aber die Cholera.“
Inferno in den Metropolen
Die Cholera forderte in den Metropolen wesentlich mehr Tote (und das auch proportional) als in den Dörfern. Soziales Elend erhöhte die Ansteckungsrate erheblich, ebenso die damit verbundenen Verhältnisse in den Wohnungen der Armen. In den Großstädten Europas explodierte das Grauen – in St. Petersburg wie in Paris, in London wie in Wien.
In Warschau waren im Mai 1831 fast 5000 Bürger erkrankt, im August war jeder und jede Zweite der Infizierten den Bakterien zum Opfer gefallen, in St. Petersburg wurden 12.540 Kranke und 6449 Tote gezählt. In den Städten der frühen Industrialisierung wütete der tödliche Durchfall schlimmer als auf dem Land, wo die Qualität des Wassers generell besser war als in den Seuchenbrutstätten der städtischen Arbeiterviertel.
Russland – Korruption und Mord
In Moskau bremsten die überstürzten Anordnungen des Zaren die Krankheit nicht, dafür schürten sie Bestechung und Verbrechen: Dragoner, die die räumliche Trennung kontrollierten, ließen sich für unzählige „Ausnahmen“ mit dem bezahlen, was die Bauern hatten; Priester schröpften die Menschen, indem sie behaupteten, die mit ihnen reisende Mutter Maria erlöse von der Seuche. Als die Krankheitswelle von selbst abflaute, schrieb sich das der eitel dilettierende Innenminister Sakrewski als persönlichen Erfolg zu, obwohl er, so Veil, überall nur Chaos hinterließ.
St. Petersburger Bürger glaubten, „Polenfreunde“ hätten ein „Cholera-Gift“ verbreitet und suchten diese „Polenfreunde“ unter ausländischen Ärzten und Apothekern. Einen Arzt erschlugen sie vor einem Krankenhaus. Der Mob stürmte Hospitäler, „befreite“ die Kranken und warf die Mediziner aus den Fenstern.
Paris – Die Blaue Angst
In Frankreich hieß die Krankheit „peur bleue“, die blaue Angst, nach den blau angelaufenen Körpern der ausgezehrten Kranken. Die Pariser Bourgeoisie hatte die Cholera noch wenige Monate zuvor nicht ernst genommen – aus Arroganz: Cholera galt als „typisch“ für „barbarische Länder“ wie Russland oder Polen, das „zivilisierte Paris“ hatte damit nichts zu tun.
Auch in Paris aber fanden die Cholerabakterien ein Paradies: Das Trinkwasser kam aus der mit Fäkalien und Unrat gefüllten Seine und aus ebenso verseuchten Brunnen – der faulige Dreck floss durch die Rinnsteine der Straßen, und mit ihm die Krankheit.
Am 14. April 1832 zählten die Behörden 13.000 Erkrankte und 7000 Tote, Ende April waren 12.800 gestorben. Panik trat jetzt an die Stelle von Überheblichkeit. Die Pariser durchlebten eine kollektive Psychose, das Trinkwasser war getränkt von Bakterien, die Atmosphäre gesättigt mit Verschwörungsfantasien; Republikaner glaubten an eine Vergiftung durch die Monarchisten, ein Mob bedrohte Ärzte und plünderte Apotheken.
Die Behörden konfiszierten Pferdebusse, Lastenkarren und alle möglichen anderen Gefährte, bald wurden die Leichen auf Schubkarren in Massengräber gebracht, nur durch Kalk getrennt.
Heinrich Heine erlebte die Seuche in Paris auf ihrem Höhepunkt und schildert ein Bild wie aus den Fieberträumen des Mittelalters von der Hölle: „Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen (…) jetzt als Totenomnibusse, als omnibus mortis herumfuhren (…).“
Am Friedhof Père Lachaise „erblickte (Heine) nichts als Himmel und Särge. Ich war unter einige hundert Leichenwagen geraten (…) und in dieser schwarzen Umgebung (…) musste ich einige Stunden ausdauern“, wobei „einige Wagen umstürzten, die Särge auseinanderfielen, die Leichen hervorkamen…“.
Am 14. April 1832 allein starben in Paris an der Cholera rund 7000 Menschen, insgesamt waren es bis Ende September des Jahres 18.402 von 785.000 Bürgerinnen und Bürgern. In Marseille und Toulon, wo die Krankheit über das Mittelmeer mit der Marine gekommen war, sah es nicht besser aus.
Die dritte Pandemie – Bakterien unter dem Mikroskop
Die Spekulationen über die Ursache der Cholera und ihre Behandlung waren ebenso anmaßend wie hilflos. Die „Cholera-Zeitung“ (als einzige Krankheit hatte die Cholera ein eigenes Magazin) erwähnte 1831/32 mehr als 100 Mal den Begriff Miasma als „anomal atmosphärischen Prozess“. Im Ungefähren musste dieses „Miasma“ bleiben – da es dieses „Miasma“ nicht gibt. In den 1830er Jahren versuchte noch kein Mediziner, Keime unter dem Mikroskop nachzuweisen.
Nach dem Schock der 1830er Cholera-Pandemie, der Europa schutzlos gegenüberstand, hatte sich dies geändert: Drei Ärzte aus Bristol untersuchten Ausscheidungen von Kranken der zweiten Epidemie in London ebenso wie Luft und Trinkwasser aus Cholera-Zimmern unter dem Mikroskop. William Budd (1811 bis 1880), Joseph Griffin Swayne (1819 bis 1903) und Frederick Brittan (1823 bis 1891) fanden unter 420-facher Vergrößerung etwas, das sie für „Cholera cells“ hielten. Es handelte sich jedoch nicht um die hakenförmigen Cholera-Vibrionen, obwohl sie diese abbildeten, sondern um viel größere kugelartige Zellen.
Tatsächlich, so Veil, gab es in dieser Frühphase der Mikroskopie noch keine Möglichkeit, Bakterien zu isolieren und Erreger so mit hoher Wahrscheinlichkeit zu bestimmen: Die Linsen waren umso ungenauer, je stärker sie vergrößerten, und die Wissenschaftler sahen verschiedene Lebewesen, die alle die Keime sein konnten.
Bis zum Ende des Jahrhunderts, bis zu Robert Koch, bestimmten die althergebrachten Grabenkämpfe zwischen Miasmatikern und Kontagionisten und ihren Theorien das Feld, Theorien, die aus heutiger Sicht nicht mehr waren als systematisch geordnete Spekulationen. Bisweilen führten die falschen Annahmen wie die, das Cholera durch ein Miasma in der Luft oder durch Fäulnis in der Erde entstehe, zu sinnvollen Hygienevorschriften, die punktuell die Cholera eindämmten.
Dabei war „Nichtwissenschaftlern“ längst klar, dass ein Zusammenhang bestand zwischen der Cholera und dem „Shitwater“, das in die Themse geleitet wurde. Bereits 1831 karikierte George Cruikshank (1792 bis 1878) die Southwark Water Company, die ihr Wasser aus dem Fluss entnahm, und zwar genau dort, wo die Abwässer einliefen. Im Spottvers hieß es: „Give us clean water. We shall all have the Cholera.“ Offensichtlich schätzten die „normalen“ Menschen, die der Cholera ausgesetzt waren, die Situation realistischer ein als die in ihren Dogmen gefangenen Miasmatiker und Kontagionisten, so Veil.
John Snow und Filippo Pacini – Wasser und Parasiten
Es musste deutlich geworden sein, dass sich die Cholera besonders dort ausbreitete, wo fauliges Wasser stand, und dass genau dort auch andere Durchfallerkrankungen grassierten – und während der verheerenden Cholera-Epidemie in London, die 1848/49 15.000 Menschen tötete, hätten unvoreingenommene Betrachter genau das erkennen können.
Der englische Arzt John Snow ließ sich 1849 von den Dogmen nicht beirren. Er hatte bemerkt, dass Bergarbeiter sehr häufig an der Cholera erkrankten und kam zu dem Schluss, dass die Menschen genau dort krank wurden, wo sie auf engstem Raum zusammenlebten, und wo Nahrung wie Trinkwasser in Kontakt mit den Ausscheidungen der Cholerapatienten kamen.
1855 verlas er seinen Text, der in die Medizingeschichte gehört, mit dem Titel „On the communication of cholera through the medium of water“. Für ihn gab es kein mysteriöses Miasma, sondern die Krankheit beschränkte sich auf den Darmtrakt, wohin sie nur über Nahrung und Wasser gelangt sein könnte.
John Snow hatte nicht nur die richtige Idee, sondern er wies auch nach, dass sie stimmte: Der Arzt ließ die Wasserpumpe in einer von der Cholera befallenen Straße in London schließen und die Menschen dort mit sauberem Wasser aus Tankwagen versorgen. Das Resultat war eindeutig. In dieser Straße sanken die neuen Fälle von Cholera rapide. Auch ohne den Erreger zu kennen, hatte er den Infektionsweg der Durchfallerkrankung bewiesen. Doch das führte bei den führenden Medizinern nicht zu einem Umdenken – und drei Jahre später starb Snow an einem Schlaganfall.
Sein Nachweis des Infektionsweges durch Wasseraustausch lässt sich als Beginn der modernen Epidemiologie bezeichnen, in welcher der wissenschaftliche Beweis an die Stelle hochtrabender, aber letztlich spekulativer Theorien rückte.
1854 identifizierte der Florentiner Filippo Pacini (1812 bis 1883) die Vibrionen, die die Cholera auslösen. Er fand sie zwischen den Schleim- und Epithelzellen des Darms von Choleraleichen in Massen, also genau da, wo die Krankheit zerstörerisch wirkte: Die Cholera-Vibrionen produzieren ein Gift, durch das die Membranen durchlässig werden, was zum einem extremen Wasser- und Mineralienverlust und zum Tod führt.
1854/55 hatten also zwei Ärzte, einer in London und einer in Italien, erstens den Ansteckungsweg der Cholera über durch Fäkalien verschmutztes Wasser in den Darmtrakt und zweitens die tödliche Wirkung eines Erregers auf die Darmmembranen erkannt.
Die Cholera tötete uneingeschränkt weiter: Im Krimkrieg starben von 1853 bis 1856 mehr Soldaten durch die Krankheit als durch den menschlichen Feind. Doch es dauerte noch mehr als 30 Jahre, bis Wissenschaft und Politik daraus Konsequenzen zogen – und das hatte sowohl wissenschaftliche wie politische und ökonomische Ursachen.
John Snow hatte den notwendigen Biss, seine richtige Erkenntnis zu verteidigen, doch der praktische Arzt gehörte keiner der großen Universitäten an, und die dort ansässigen Miasmatiker und Kontagionisten verfassten weiter Unmengen an spekulativen Schriften, die in ihre Theorien passten.
Pacini hielt sich zurück, was auf den ersten Blick ungewöhnlich wirkt für einen Professor, der unter dem Mikroskop einen validen Hinweis auf den Cholera-Erreger und seinen Effekt gefunden hatte.
Doch seine Schlussfolgerung über die Vibrionen in die Öffentlichkeit zu bringen hätte bedeutet, ein Gebirge an Theorie abzutragen, ähnlich wie es Charles Darwin mit seinem Diktum getan hatte, dass Arten veränderlich sind: Die frühen naturwissenschaftlichen Mediziner im modernen Sinn fanden zwar unter dem Mikroskop ganze Universen von zuvor unbekannten Lebewesen, doch hatten sie vor dem Ansetzen von Bakterienstämmen in Nährlösungen keinen Beleg dafür, dass und wie sich Einzeller vermehrten.
Demgegenüber stand die seit der Antike etablierte Idee der Urzeugung, nach der sich Mikroorganismen spontan auf geeignetem Substrat bildeten. Der italienische Professor hatte also gute Gründe, nicht vorzupreschen, wollte er nicht seine Reputation als Wissenschaftler verlieren.
Die vierte Pandemie
Im preußischen Heer brach 1866 die Krankheit mit voller Wucht aus und raffte 3139 Soldaten dahin, das Militär brachte sie nach Österreich, und im August tobte dort eine ausgewachsene Epidemie, die bis zum Spätherbst fast 2000 Menschen umbrachte, im Umland sogar doppelt so viele. In Niederösterreich starben rund 8000 Menschen, in Erfurt um die 1000 und halb so viele in Zürich.
Die fünfte und sechste Pandemie
Die fünfte Cholera, die von 1883 bis 1896 über die Kontinente floss, hatte ihren Ursprung in der „alten Heimat“: Von Indien schwappte sie nach Afghanistan, von dort nach Russland. 1892 wütete sie in Hamburg – allein dort zählte man mehr als 8600 Tote. Die sechste Cholerapandemie begann 1899 in Zentralasien, verbreitete sich von dort in Russland und brach dann in Mittel- und Westeuropa aus.
Ein Ärzteteam rund um den 40-jährigen Mediziner und Mikrobiologen Robert Koch untersuchte die Seuche, als sie in Indien ihren Lauf nahm. Koch erkannte, dass die „Kommabazillen“ (die Form des Erregers erinnert an ein Kommazeichen) in Nässe gedeihen, und erklärte damit, dass Wäscherinnen oft erkrankten und schloss, dass die Verschmutzung des Wassers die Cholera begünstigte:
„Von den Hütten her ergießen sich flüssige Abfallstoffe jeder Art gemischt mit menschlichen Dejektionen in diese Wasserbehälter hinein, welche (…) als Badeplatz und Waschanstalt dienen und ihnen das Trink- und das sämtliche Gebrauchswasser liefern.“
Koch beobachtete, dass die Cholera versiegte, wenn neue Wasserleitungen den Menschen frisches Wasser brachten, und umso schlimmer grassierte, je verschmutzter das Wasser war. Im Februar 1884 entdeckte Koch dann schließlich die „Kommabazillen“ in der Nähe von Kalkutta außerhalb des menschlichen Körpers.
Koch hatte in seinen Augen klar das Mysterium der Cholera gelüftet: Er hatte den Erreger erkannt, belegt, wie sich dieser verbreitete, und auch den Weg gefunden, die Seuche zu verhindern – durch das Filtern von Wasser.
In Hamburg übernahm der Senat die von Koch vorgeschlagenen Maßnahmen, um der Epidemie Herr zu werden: Fasswagen lieferten sauberes Wasser, die Hamburger wurden aufgefordert, Wasser vor Gebrauch abzukochen. Vermutlich verhinderte das diverse Tote, doch nur ein Kanalisationssystem, aus dem alle Hamburger angeschlossen gewesen wären, hätte die Seuche beenden können – in Altona, wo es eine Kanalisation gab, starb niemand.
Die Hamburger Bourgeoisie ließ zwar gönnerhaft einige Wasserwagen durchgehen, doch eine kostspielige Reform der Wasserversorgung der ärmeren Teile der Bevölkerung war im Denken der „Pfeffersäcke“ ebenso wenig vorgesehen wie bei der Kolonialelite in London.
Medizinische Fakten stören das Geschäft
Hoch gestochene Miasmatheorien verhinderten wirksame Maßnahmen, weil Snows Nachweis, wie sich Erkrankungen verhindern ließen, nicht in die Konstrukte passte. Britische Schiffseigner und hanseatische Global Player hatten kein Interesse am Nachweis eines Erregers, der ihre Geschäfte beeinträchtigte – besser eine „unklare Beweislage“, so Veil, als der Beweis, dass Seeleute mit ihren Ausscheidungen die Seuche verbreiteten, was zu Beschränkungen im Seehandel geführt hätte.
Die Britische Regierung schickte sogar eine Kommission nach Ägypten, die aus Miasmatikern bestand, wohl wissend, dass diese Kochs Erkenntnisse in Frage stellten: Das UK kontrollierte 80 Prozent des Handels im Suezkanal, und allein der Verdacht, dass englische Schiffe die Cholera von dort nach Europa gebracht hätten, wäre sehr „bad for business“ gewesen.
Die Konstrukte der Kontagionisten und Miasmatiker waren bei dem Choleraausbruch in den 1830ern ein „unschuldiges“ wissenschaftliches Problem, so Veil. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden die althergebrachten Dogmen jedoch Instrument politischer Propaganda von Reedern, Eigentümern, Wasserversorgern und Kolonialregierungen, die sich so davor drückten, teure Hygienesysteme in den Städten zu schaffen und den Seehandel einzuschränken. Mit Miasmatikern als Feigenblatt blieben so die stinkenden Kloaken in den Vierteln der Habenichtse erhalten: Die tödliche Cholera traf die am stärksten, die bereits im Elend lebten.
Alte Krankheit, moderne Verkehrswege
Es ist kein Zufall, dass die in Indien seit Jahrhunderten bekannte Cholera ab dem 19. Jahrhundert auf die Kontinente überschwappte. Bei der ersten Pandemie in den 1830ern hatten die Dampfschiffe in ganz Europa die Flüsse eingenommen, und es bestand ein dichtes Netzwerk in Nord- und Ostsee – der Weg von St. Petersburg nach Mitteleuropa war geschrumpft. In den 1850ern hatte die Eisenbahn in Europa Einzug gehalten, und Dampfschiffe fuhren regulär von Hamburg und London nach New York. Gegen 1890 dauerte die Fahrt über den Atlantik nur noch sechs Tage.
Die Cholera heute
Seit den 1960ern kommt es regelmäßig zu Cholera-Epidemien, die sich auch als Aufflackern einer einzigen Pandemie bezeichnen lassen. Eine gesundheitliche Infrastruktur vorausgesetzt ließen sie sich bekämpfen: Sauberes Trinkwasser, getrennte Trink- und Abwasserleitungen geben dem Bakterium wenig Chancen. Gegen die Cholera gibt es zudem Impfstoffe. Überall da, wo diese Voraussetzung nicht gegeben ist, tobt die Seuche, zum Beispiel im Jemen, immer wieder aber auch in Indien.
Ist ein Mensch an Cholera erkrankt, helfen Antibiotika wie Ciprofloxacin und Azithromycin. Wichtiger ist jedoch die massive Zufuhr von sauberem Trinkwasser, Zuckern und Mineralstoffen, um dem tödlichen Wasser- und Salzverlust entgegenzuwirken. Von der WHO wird eine Salz- und Glucoselösung in Wasser mit Traubenzucker, Natriumcitrat, Kochsalz und Kaliumchlorid empfohlen. Eine zeitnahe Behandlung senkt die Sterblichkeit bei Erkrankten auf unter ein Prozent.
Wie in den Elendsquartieren in London, Hamburg oder St. Petersburg im 19. Jahrhundert ist aber das Kernproblem, dass dort, wo die Cholera grassiert, weder die Möglichkeit zur Prävention noch zur Behandlung besteht: So brach 2010 in Haiti die hygienische Versorgung zusammen, 500.000 Menschen erkrankten, und mehrere Tausend starben an der Seuche. Rund 800 Millionen Menschen, besonders in Ländern Afrikas und Südostasiens, leben unter Bedingungen, die nur mangelhaften Schutz vor der Cholera bieten.
Veil entwirft nicht nur einen Überblick über die Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts, sondern gibt wertvolle Einblicke, wie wissenschaftliche Dogmen ohne valide Basis zum Instrument politischer Interessen wurden und so Jahrzehnte vergingen, in denen die Seuche unzählige Menschen tötete, ohne dass bestehende Erkenntnisse über ihre Ausbreitung und ihren Erreger umgesetzt worden wären.
Zudem zeigt er, wie die Cholera-Pandemien eine Folge der modernen Verkehrswege waren – Dampfschiff und Eisenbahn, Kolonial- und Überseehandel brachten nicht nur Gewürze und Südfrüchte nach Europa, sondern auch das Bakterium.
So liefert Veil unausgesprochen Hinweise für den heutigen Umgang mit Pandemien: Das Coronavirus überträgt sich über die Atemwege, nicht durch den Darm, und die Flugzeuge brachten es schneller um die Welt als die Ausscheidungen der Seeleute des kolonialen Zeitalters. Auch heute ignorieren Regierungen wie Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien Fakten über einen Pandemieerreger und lassen für Profitinteressen und Selbstdarstellung unzählige Menschen sterben.
Bei der Cholera setzte sich schließlich die wissenschaftliche Realität gegen die imperiale Konkurrenz und die Interessen der kolonialen Kapitaleigner ebenso durch wie gegen die professoralen Gralshüter überkommener spekulativer Theorien.
Leider zeigt das Debakel der Medizin und Politik hinsichtlich der Cholera im 19. Jahrhundert auch, dass die Möglichkeit, die Fakten zu kennen, längst nicht dazu führen muss, auch nach ihnen zu handeln. Wer Veils Einsicht in die politische Medizingeschichte der Cholera gründlich liest, wird über heutige Probleme im Umgang mit dem Coronavirus nachdenken. Das ist weit mehr als man bei einem medizinhistorischen Buch vermuten würde. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Ruffié, Jean-Charles; Sournia, Jacques: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit, dtv, 1992
- Evans: Richard J.: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830 - 1910, Rowohlt, 1990
- Dettke, Barbara: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, De Gruyter, 1995
- Corrêa, Gaspar: The three voyages of Vasco da Gama: and his viceroyalty, Introduction, Adamant Media Corporation, 2001
- Johnson, Steven: The Ghost Map: The Story of London's Most Terrifying Epidemic and How It Changed Science, Cities, and the Modern World, Riverhead Hardcover, 2006
- Wood, Gillen D'Arcy: Die Welt im Schatten des Tambora, Konrad Theiss Verlag, 2015
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- Alcabes, Philip: Dread: How Fear and Fantasy Have Fueled Epidemics from the Black Death to Avian Flu, PublicAffairs, 2009
- Veil, Helmut: Cholera: Ein Debakel der Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, Humanities Online, 2019
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Wichtiger Hinweis:
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