Nicht nur bei Kindern: Auch Erwachsene haben ADHS
01.03.2015
Nicht nur viele Kinder leiden an einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS), sondern auch Erwachsene können betroffen sein. Allerdings ist die Krankheit bei Erwachsenen seltener und hat ein anderes Gesicht. Manche Betroffene profitieren sogar davon, meint ein Forscher.
Verhalten in der Kindheit nicht mit ADHS in Verbindung gebracht
Bernadette Frisch war 28 Jahre alt, als sie die Diagnose ADHS bekam, berichtet die Nachrichtenagentur dpa. „Ich war total geschockt“, sagt die heute 30-Jährige. Während der Kindheit war ihr Verhalten nie mit der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung in Verbindung gebracht worden. Da sie langsam, verträumt, unsicher und tollpatschig gewesen sei, schien es eher wie das Gegenteil des sogenannten „Zappelphilipp-Syndroms“. Doch im Studium wuchsen ihre Probleme und sie bekam Angstzustände, wurde depressiv und war einem Nervenzusammenbruch nahe. Ihrer Aussage nach sei ihre Wohnung chaotisch und ihr Leben eine ewige Baustelle: „Ich kann mich unglaublich schlecht organisieren.“
Extrem gut auf kurzfristiges Ziel konzentrieren
Doch auch wenn sie noch immer auf der Suche nach dem richtigen Weg sei, kann sie sich auf ein kurzfristiges Ziel extrem gut konzentrieren. „Ich kann mich total auspowern, aber ich kann nicht einen Schritt nach dem anderen tun“, erklärt die Fränkin. Sie arbeitet zwar bis zur totalen Erschöpfung wenn sie in einer Sache drinsteckt, doch wenn sie unterbrochen wird, findet sie nicht die Kraft, neu anzufangen. Denn dann schlägt etwas anderes ihre Aufmerksamkeit in Bann. Die 30-Jährige erzählt: „Ich stehe immer unter einem unglaublichen inneren Druck.“ Sie spricht schnell und viel, ist motorisch jedoch ruhiger als früher und auch ihr extrovertiertes Auftreten und ihr flippiges Aussehen sind nicht mehr so ausgeprägt. Wie sie sagt, arbeitet sie in einem künstlerischen Beruf und da passe ihre Art „ins Bild“. „Mit dem Verrückter-Künstler-Mythos kann man sich das ja auch selbst schönreden.“ Eine Psychiaterin schlug ihr vor zwei Jahren vor, einen ADHS-Fragebogen zu machen: Sie war ein typischer Fall.
Viele Strafgefangene mit ADHS
Wie Prof. Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Frankfurter Uniklinik erklärt, sieht ADHS bei Erwachsenen anders aus als bei Kindern. Der Experte hatte in Würzburg den klinischen Schwerpunkt für ADHS im Erwachsenenalter geleitet, bevor er 2014 nach Frankfurt wechselte. Reif nennt drei Hauptsymptome: innere Unruhe, Impulsivität und Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit und Stimmung zu regulieren. Dabei können Patienten einerseits extrem leicht ablenkbar sein, andererseits „überfokussieren“ sie ein Detail. Dies kann in manchen Bereichen sogar hilfreich sein. Reif erklärt: „Viele suchen das Extreme, den Kick. Wer in der Lage ist, das positiv zu nutzen, ist zu Höchstleistungen fähig.“ Der Experte weiter: „Man kann sagen: Diese Patienten bringen unsere Gesellschaft schon auch weiter.“ Allerdings finde man auch bei Strafgefangenen überdurchschnittlich viele Menschen mit ADHS. „Den einen bringt die Krankheit ins Gefängnis, den anderen aufs Podest – je nachdem, was an Lebensgeschichte und Biologie noch hinzukommt“, sagt der Psychiater provokant.
Bei der Hälfte verschwindet die Krankheit beim Heranwachsen
Zwar verschwindet etwa bei der Hälfte der ADHS-Kinder die Krankheit beim Heranwachsen, doch der Großteil der anderen Hälfte behält einzelne Symptome, ohne dadurch krank zu sein. „Nur bei 15 Prozent haben die Symptome Krankheitswert. Das entspricht etwa einem Prozent der Bevölkerung“, so Reif. Oberärztin Sarah Kittel-Schneider erklärt, dass sich ADHS bei Erwachsenen häufig hinter Begleiterscheinungen verstecke. So hätten viele erwachsene ADHS-Patienten Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen und suchten deshalb Hilfe. „Sie verbrauchen viel mehr Kraft, um ein normales Leben zu führen, und haben ein höheres Risiko, noch an weiteren psychischen Störungen zu erkranken.“
Geringere Lebenserwartung bei ADHS
Eine dänische Studie, die kürzlich im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlicht wurde, zeigt, dass Menschen mit ADHS eine geringere Lebenserwartung und ein verdoppeltes Risiko, vorzeitig zu sterben, haben. In der Untersuchung verglich Søren Dalsgaard von der Universität Aarhus die Lebensläufe von knapp zwei Millionen Dänen mit denen von 32.000 ADHS-Patienten und kam zu dem Ergebnis, dass überdurchschnittlich viele von diesen starben, etwa nach Unfällen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Erkrankung bei Erwachsenen nur wenig erforscht ist, da Experten lange davon ausgingen, dass die Störung nur Kinder und Jugendliche betrifft. Oder aber gar, dass die Krankheit gar nicht existiert. Prof. Reif hält die weit verbreitete Ansicht, ADHS sei eine erfundene Modediagnose oder eine Marketing-Idee der Pharmaindustrie, für „absoluten Humbug“. „Das sind Vorurteile, die nicht durch Fakten gedeckt sind. Die Krankheit gibt es wirklich, darüber besteht in der wissenschaftlichen Medizin kein Zweifel. Sie führt zu erheblichen Leiden, kann aber auch gut behandelt werden.“
Manche ältere Mediziner erkennen Krankheit gar nicht an
Das sehen nicht alle Mediziner so. Kittel-Schneider meint, dass viele Kollegen ADHS bei Erwachsenen nicht erkennen würden. „Ältere Kollegen erkennen nicht mal die Krankheit als solche an.“ Und selbst Betroffene sind demnach nicht immer offen für die Diagnose. „Einige sehen das als Teil ihrer Persönlichkeit an – das ist natürlich in Ordnung“, so Kittel-Schneider. „Man muss das nicht Krankheit nennen, wenn die Menschen damit im Leben einigermaßen zurechtkommen.“ Grundlagenforschung ist auch wegen der schwierigen Diagnose wichtig. „Wir wollen die Neurobiologie hinter der Erkrankung verstehen“, erklärt Reif ein Ziel seiner Arbeitsgruppe. ADHS habe „mit die höchste genetische Komponente von allen psychiatrischen Erkrankungen“ und das gelte es zu nutzen, beispielsweise für neue Medikamente. Seine Arbeitsgruppe sucht zudem nach „Biomarkern“, um die Diagnose schneller sowie sicherer zu stellen. Es sei „schon noch Luft nach oben“ in der Forschung. Nach Schätzungen leiden bundesweit etwa zwei bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen an ADHS. In den vergangenen Jahren habe die Zahl der Diagnosen stetig zugenommen. Bei Jungen komme die psychische Störung etwa drei- bis viermal häufiger vor als bei Mädchen. Auch die Anzahl der jungen Erwachsen, die wegen ADHS medikamentös behandelt wurden, sei in den letzten Jahren deutlich angestiegen. (ad)
Denise / pixelio.de
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