38 Prozent der Europäer sind psychisch krank
06.09.2011
Psychische Störungen sind weitaus massiver in Europa verbreitet, als bislang angenommen. Laut einer Studie der Technischen Universität Dresden (TU) leiden etwa 38 Prozent der Europäer innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung wie Angststörungen, Alkoholhabitus, ADHS oder Depressionen. In absoluten Zahl ausgedrückt sind 168 Millionen in Euro pro Jahr psychisch krank.
Phobien, Depressionen und Alkoholsucht: Rund 164,8 Millionen Menschen leiden in der Europaschen Union und drei weiteren Staaten an einer psychischen Krankheit. Angesichts dieser dramatischen Zahlen zählen die psychischen Störungen mittlerweile zu den „größten gesundheitspolitischen Herausforderungen des 21 Jahrhunderts“, wie der Dresdner Psychologe und Studienautor Prof. Hans-Ulrich Wittchen erklärte. Die Studienergebnisse wurden am 5. September 2011 vom „European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) und dem „European Brain Council (EBC)“ vorgestellt. Neben den Zahlen stellten die Forscher „dramatische Missstände in der Versorgung von Patienten mit psychischen Erkrankungen“ fest. Nur etwa ein Drittel der Betroffenen erfahren überhaupt eine Therapie. Die Behandlungen sind jedoch vielmals nicht fachlich fundiert. Hinzukommend wissen viele Patienten selbst nichts von ihrer Störung. „Das weitverbreitete Unwissen in der Bevölkerung und in der Gesundheitspolitik bezüglich der verschiedenen Formen psychischer Störungen“ ist mit eine Ursache für das massive Auftreten der Erkrankungen.
Erstmals konnte ein realistisches Bild zur Häufigkeit und Auftreten der psychischen Störungen in Europa ermittelt werden. Innerhalb eines Jahres litten 38 Prozent der EU-Einwohner jeden Alters an klinisch bedeutenden psychischen Erkrankungen. „Psychische Störungen sind kein seltenes Schicksal einiger Weniger“ betonen die Autoren. Denn das Gehirn als überaus „komplexestes Organ ist ebenso häufig wie der Rest des Körpers von Störungen und Krankheiten betroffen“.
Die meisten leiden unter Ängste und Depressionen
An erster Stelle stehen mit 14 Prozent die Angststörungen wie Herzneurose oder Sozialphobien. An zweiter Position mit 6,9 Prozent befinden sich depressive Episoden bzw. manifestierte Depressionen, gefolgt von den psychosomatischen Erkrankungen mit 6,3 Prozent. Vier Prozent der Patienten sind Drogen- oder Alkoholabhängig und fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden am Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung-Syndrom (ADHS). An Demenz ist ein Prozent der 60-65 Jährigen erkrankt. Bei den 85jährigen sind es bereits rund 30 Prozent. Würden die neurologisch bedingten Erkrankungen noch hinzu gerechnet werden, wäre das „wahre Ausmaß“ noch weitaus schlimmer, wie die Autoren im Studienbericht schreiben. Weitere Millionen Patienten in der EU sind von neurologischen Krankheiten wie Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose betroffen. Diese Patientengruppen sind nicht mit den Erhebungen aufgenommen.
Alle Altersgruppen von psychischen Störungen betroffen
Auffällig war, dass psychische Störungen in allen Altersstufen ähnlich häufig und selbst unter Kindern und jungen Erwachsenen weit verbreitet sind. Demnach kann nicht davon ausgegangen werden, dass besonders Kinder oder besonders ältere Menschen häufiger erkrankt sind. Zudem war die Häufigkeit und Rangreihe der psychischen Störungen mit Ausnahme der Suchtkrankheiten in allen Ländern ähnlich gleich verteilt.
Die ermittelten Studienergebnisse basieren auf einer insgesamt dreijährigen Arbeit eines Forscherteams an der TU Dresden. In die Analyse wurden alle 514 Millionen Einwohner der 27 EU-Länder sowie der Staaten Island, Norwegen und Schweiz mit einbezogen. Bei den Auswertungen wurden über 100 verschiedene psychische und neurologische Krankheitsbilder berücksichtigt. Damit ist Untersuchung die weltweit erste Studie, die ein beinahe vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasst.
Vergleicht man die Daten mit früheren Jahren, so sind kaum signifikante Erhöhungen der Häufigkeit messbar. Im Vergleich zum Jahre 2005 sind lediglich die Demenz-Erkrankungen gestiegen. Dies ist aber ein Ergebnis des demografischen Wandels, weil die Menschen immer älter werden, wie die Wissenschaftler betonten.
Ungenügende Therapien und wenig Hintergrundwissen bei den Betroffenen
Laut der Studie erfolgt eine Erstbehandlung meist erst Jahre nach Ausbruch der Störung. Vielmals entsprechen die therapeutischen Ansätze nicht einmal den minimalen Anforderungen für eine fundierte und nachhaltige Therapie. Daher forderte der Leiter der Studie, Professor Wittchen, ein Ende der Unter- und Falschversorgung von Patienten. Viele Erkrankungen beginnen meist im frühen Kindesalters und entwickeln sich später fort. Das hat zur Folge, dass die Menschen schwer unter den Langzeiteffekten leiden. Daher müsse bereits frühzeitig angesetzt werden, wie der Psychologe forderte. Aufgrund des demografischen Wandels der Gesellschaften und dem kontinuierlichen Anstieg der psychischen Alterserkrankungen müssen „konzertierte Aktionen in der klinischen Grundlagen- und der Versorgungsforschung“ erfolgen, „um Versorgung und Prävention zu verbessern“ und finanziellen Belastungen des Gesundheitssystems nachhaltig zu reduzieren. Psychische Störungen sind als eine weitaus höhere Gesamtbelastung im Gesundheitssystem zu betrachten, als andere Krankheiten wie Krebs oder Diabetes. Der Anteil der gesellschaftliche Systeme liegt bei 26,6 Prozent gemessen am Auftreten aller Krankheiten.
„Das niedrige Problembewusstsein gekoppelt mit dem Unwissen über das wahre Ausmaß hinsichtlich Häufigkeit, Belastungen und Kosten psychischer Störungen in allen Gesellschaften und Schichten, ist das zentrales Hindernis für die Bewältigung dieser Herausforderung.“ wie Studienautor Wittchen schreibt. Daher müssten die europäischen Budgets für die präventive Forschung sowie für die Behandlungsforschung deutlich erhöht werden. Nur so könne das Problem auf Dauer eingegrenzt werden. Die ermittelten Zahlen decken sich weitestgehend mit aktuellen Auswertungen der deutschen Krankenkassen. Diese berichten seit einigen Jahren wiederholend von Anstiegen der psychisch bedingten Krankheiten. (sb)
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Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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