Neues Internetportal bietet Übersicht medizinischer Eingriffe
28.09.2011
Das seit heute online verfügbare Portal „Faktencheck Gesundheit" weist deutliche regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung auf. Die Initiative für gute Gesundheitsversorgung (INIgG) der Bertelsmann Stiftung hat eine Vielzahl verschiedener Eingriffe dokumentiert und in einem Deutschland-Atlas zur Gesundheitsversorgung zusammengetragen.
Aus dem Kartenmaterial auf dem heute online gegangenen Portal geht hervor, dass die Gesundheitsversorgung deutschlandweit erheblich vom Wohnort abhängt. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hatte das renommierte IGES-Institut aus Berlin bestimmte medizinische Behandlungen wie zum Beispiel Kaiserschnittentbindungen, Entfernungen der Gaumenmandeln oder Entfernungen des Blinddarms bei Kinder und Jugendlichen, Entfernung der Gebärmutter, der Prostata, der Gallenblase oder Bypass-Operationen am Herzen bei Erwachsenen erfasst. Die Zusammenstellung der Ergebnisse auf dem neuen Online-Portal zur Gesundheitsversorgung verdeutlicht, welch enormen regionalen Unterschiede bei der Gesundheitsversorgung in Deutschland bestehen.
Dabei seien einige Unterschiede durchaus wünschenswert, da sie den regionalen Besonderheiten, wie zum Beispiel dem unterschiedlichen Durchschnittsalter der Bevölkerung oder dem Vorkommen bestimmter Erkrankungen gerecht werden, erklären die Experten des IGES-Institut in dem zugehörigen Bericht. Andere Abweichungen lassen sich jedoch nicht medizinisch oder patientenseitig erklären, so dass die Forscher eine genauerer Untersuchung der Ursachen anregen. Zwar sind die Wissenschaftler in ihren Erklärungsversuchen äußerst vorsichtig, doch einzelne Aussagen lassen darauf schließen, dass auch wirtschaftliche Gründe bei den regional unterschiedlichen Eingriffen eine Rolle spielen könnten. Den Experten zufolge bestehen regionale Ungleichgewichte in der Versorgung, die mit medizinischen Argumenten sowie der Alters- und Sozialstruktur nicht zu erklären sind – es herrsche eine gewisse Willkür.
Regionale Unterschiede bei den Kaiserschnittentbindungen
So ist zum Beispiel die Anzahl der Kaiserschnittentbindungen in der Westeifel besonders hoch, in der Region Chemnitz hingegen sehr niedrig. Normalerweise seien die Kaiserschnittentbindungen ein klares Indiz für mögliche Gefährdungen von Mutter und/oder Kind bei einer natürlichem Geburt (Spontangeburt). Doch die nach Altersgruppen der Mütter und auf 1.000 Lebendgeborene indexierten unterschiedlichen Zahlen lassen laut Aussage der Experten nicht auf eine unterschiedliche Gefährdung der Mütter und Babys in der Westeifel und in Sachsen schließen. Vielmehr komme hierin eine unterschiedliche Einstellung gegenüber den Kaiserschnittentbindungen in den beiden Regionen zum Ausdruck. Denn im Einzelfall ist ein Kaiserschnitt eine Abwägungsentscheidung, wenn nicht „absoluten Indikationen“ wie zum Beispiel das vorzeitige Ablösen der Plazenta oder unregelmäßige Herztöne des Kindes für einen derartigen Eingriff sprechen, erklärten die Experten. So zählen zu den eher weichen Abwägungsfaktoren zum Beispiel Mehrlingsschwangerschaften. Aber auch die Personalausstattung in den Kliniken kann dazu führen, dass eine geplante Entbindung per Kaiserschnitt der Spontangeburt vorgezogen wird, so die Aussage in dem Bericht des IGES-Instituts. Teilweise würden auch „Wunschgeburten herbeigeführt, wenn etwa das Kind am Geburtstag der Oma zur Welt kommen soll“, so die Experten weiter. Außerdem könne die Angst der Schwangeren vor der natürlichen Geburt ebenfalls Grund für eine erhöhte Anzahl von Kaiserschnittentbindungen sein. Haftungsfragen spielen dem neuen Online-Portal zufolge ebenfalls öfter eine Rolle bei dem Entschluss zum Kaiserschnitt, da insbesondere in kleineren Stationen mit wenigen Geburten pro Jahr und niedriger Personalausstattung die besser kontrollierbaren Schnittgeburten eher zum Einsatz kommt, als in den großen medizinischen Zentren und Klinken. All diese Faktoren führen dazu, dass in der Region mit den meisten Kaiserschnitten zweieinhalb Mal so viele Kaiserschnitte durchgeführt werden, wie in der Region mit den wenigsten Kaiserschnittentbindungen.
Keine rationale Begründung für regionale Versorgungsunterschiede
Diese rational nicht nachvollziehbaren regionalen Versorgungsunterschiede sind den Zahlen der Initiative für gute Gesundheitsversorgung zufolge auch bei anderen medizinischen Eingriffen zu verzeichnen.Zum Beispiel treten bei der Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomie) bei Kindern und Jugendlichen den Angaben des neuen Online-Portals zufolge deutliche regionale Unterschiede auf. Hier liege der Faktor zwischen der Region mit den meisten und der Region mit den wenigsten Eingriffen sogar bei 8,3, berichten die Experten des IGES-Instituts. Demnach werden im Landkreis Steinburg an der Elbe, der Region Erfurt und Tübingen sowie südlich von München und in Mittelfranken am wenigsten Mandelentfernungen durchgeführt, im Landkreis Schweinfurt mit Abstand am meisten. Hier weisen die Experten explizit darauf hin, dass möglicherweise wirtschaftliche Interessen eine Rolle bei der unterschiedlichen Anzahl der Eingriffe spielen könnten. So könnten kleine HNO-Abteilungen häufiger Tonsillektomie empfehlen, da mit einem starken Rückgang bei den Eingriffen die Wirtschaftlichkeit der Abteilung gefährdet würde, vermuten die Experten. Eigentlich werden die Gaumenmandeln bei Kindern nur entfernt, wenn häufig wiederkehrende eitrige Mandelentzündungen vorliegen oder die Atemwege verengt werden. Denn obwohl es sich um einen verhältnismäßig häufigen Eingriff handelt, gehen mit der Operation auch gesundheitliche Risiken einher, wie zum Beispiel die Gefahr unkontrollierter Blutungen. Die Abwägung zwischen den Vorteilen und Risiken scheint in den verschiedenen Regionen jedoch deutlich unterschiedlich auszufallen.
Karte erfasst 16 häufige Behandlungsgebiete
Diese Unterschiede werden von den Bertelsmann Stiftung in dem neuen Portal genau aufgezeigt, so dass sich die Patienten über die regionalen Abweichungen selbstständig informieren können. Bisher stellt die Stiftung die Daten zu 16 häufigen Behandlungsgebiete wie beispielsweise den Kaiserschnittentbindungen, Entfernungen der Gaumenmandeln oder des Blinddarms bei Kindern und Jugendlichen, die psychiatrische Versorgung der Heranwachsenden sowie die Entfernung der Gebärmutter, der Prostata und der Gallenblase bei Erwachsenen zur Verfügung. Auch Angaben zu den Bypass-Operationen am Herzen, Implantation eines Defibrillators, Erstimplantation eines Kniegelenks, Leisten- und Nabelbruchoperationen, den Krankenhausfällen wegen Diabetes oder wegen Depressionen können auf dem neuen Portal abgerufen werden. Darüber hinaus sind weitere Auswertungen zum Beispiel zum Einsatz von Antibiotikatherapien bei Kindern geplant, berichten die Experten. Mit Hilfe des Online-Portals sollen Patienten für die unterschiedliche regionale Gesundheitsversorgung sensibilisiert werden und vor einem Eingriff die Möglichkeit haben, selbst nachzusehen, „wie es bei den betrachteten Indikatoren um die Gesundheitsversorgung in (ihrer) Region bestellt ist“, betonte das Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung, Brigitte Mohn. Kritisches Nachfragen kann an dieser Stelle nicht schaden, da „diese Unterschiede ein Indiz dafür sein (können), dass Patienten manchmal medizinische Leistungen erhalten, die sie eventuell gar nicht benötigen“, so Mohn weiter.
Dem Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung zufolge, sind die regionalen Unterschiede bereits seit langem bekannte, denn schon im Jahr 2001 hatte der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beklagt, dass wertvolle therapeutische Ressourcen aufgrund der regional variierenden Behandlungsvorlieben unnötig verbraucht würden. Dabei gelten regional unterschiedliche Vertragsmodalitäten, fehlende Therapieleitlinien und die Präsenz bzw. das Fehlen von spezialisierten Kliniken als wesentliche Ursache dafür, dass bestimmte Therapien besonders häufig oder besonders selten gewählt werden. Der Expertin zufolge hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen die hierdurch entstehende Mehrkosten im Gesundheitswesen auf zehn Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Mit dem neuen Internetportal „www.faktencheck-gesundheit.de“ soll dieser Entwicklung nun langfristig entgegengewirkt werden, so die Begründung der Bertelsmann Stiftung zur Einrichtung des Online-Angebotes. (fp)
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Bild: Dieter Schütz / pixelio.de
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