Unterschätzte Risiken durch Polymedikation
22.06.2012
Werden mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen, steigt das Risiko von Nebenwirkungen erheblich. Viele Patienten sind sich jedoch der möglichen Folgen für die Gesundheit keineswegs bewusst, so das Ergebnis einer aktuellen Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
„Rund ein Viertel der über 65-Jährigen nimmt regelmäßig fünf oder mehr ärztlich verordnete Arzneimittel ein“, berichtet das WIdO in einer aktuellen Pressemitteilung. Wie der Geschäftsführer des Instituts, Jürgen Klauber, bei der Vorstellung der neuen Studie betonte, sind „ältere Menschen, die mehrere Medikamente einnehmen, den altersspezifischen Risiken der Arzneimitteltherapie und Vielfachmedikation besonders ausgesetzt.“ Doch laut Klauber ist „ausgerechnet bei ihnen das Risikobewusstsein eher gering.“ Hinzu komme, dass „häufig weder Arzt noch Apotheker wissen, was ein Patient einnimmt und ob er sich an die Therapie hält“, so der WIdO-Geschäftsführer weiter.
Viele Senioren schlucken fünf Medikamente oder mehr
Das wissenschaftlichen Institut der AOK hat im Rahmen der repräsentativen Untersuchung den Arzneimittelverbrauch, das Arzneimittelrisikobewusstsein, die Therapietreue und die erlebte Arzneimittelberatung bei 1.000 gesetzlich Krankenversicherten ab einem Alter von 65 Jahren analysiert. Dabei stellten die Forscher des WIdO fest, dass 87,1 Prozent der befragten über 65-jährigen gesetzlich Krankenversicherten in den letzten drei Monaten Arzneimittel verordnet bekamen und 27 Prozent von ihnen fünf oder mehr unterschiedliche Medikamente einnahmen, womit sie sich im Bereich der Polymedikation bewegen. Besorgniserregend ist zudem, dass bei 17 Prozent der über 65-jährigen Probanden Arzneimittel zum Einsatz kamen, die für ältere Menschen als ungeeignet gelten und daher auf der sogenannte auf Priscus-Liste stehen, berichtet das WIdO. Hinzu komme außerdem, „dass fast ein Drittel der Patienten mit Polymedikation (30,4 Prozent) rezeptfreie Arzneimittel selbst zukauft.“ Viele Senioren schlucken demnach einen regelrechten Medikamenten-Cocktail ohne sich angemessen über die möglichen gesundheitlichen Folgen der Polymedikation zu informieren.
Erhöhtes Nebenwirkungsrisiko durch Polymedikation
Mit der Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK werden erhebliche Informationslücken bei den Patienten aufgedeckt. So sei sich „nur ein Viertel der Patienten mit Polymedikation (21,9 Prozent) bewusst, dass ältere Menschen anfälliger für unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind“, berichtet das WIdO in seiner aktuellen Pressemitteilung. () Und knapp die Hälfte der „Patienten mit Polymedikation (49,3 Prozent) weiß nicht, dass es bei der Einnahme mehrerer Medikamente verstärkt zu Nebenwirkungen kommen kann“, berichten die Forscher des WIdO. Hier wäre es nach Ansicht des WIdO-Geschäftsführers, Jürgen Klauber, „umso wichtiger, dass sie die Patienten umfassend zu Arzneimittelrisiken beraten“ werden. Vor allem Ärzte und Apotheker seien dazu aufgefordert, „die Patienten besser über Arzneimittelrisiken aufzuklären.“ Allerdings wissen „häufig weder Arzt noch Apotheker, was ein Patient einnimmt und ob er sich an die Therapie hält“, bemängelte Klauber.
Unzureichende Beratung zur Polymedikation durch Ärzte und Apotheker
Auch scheint die Beratung älterer Patienten mit Polymedikation laut Aussage des WIdO generell verbesserungsfähig. Denn lediglich die Hälfte der Befragten wurde nach eigenen Angaben schon einmal vom Hausarzt auf die Risiken der Polymedikation hingewiesen und nur 41,2 Prozent der Probanden wurde vom behandelnden Arzt „danach gefragt, ob weitere Medikamente eingenommen werden“, berichtet das WIdO. Bei den Beratern in der Apotheke lagen die entsprechenden Prozentsätze noch deutlich niedriger. Auch bei den für Senioren kritischen Medikamenten der Priscus-Liste erfolgte lediglich in knapp der Hälfte der Fälle (44,7 Prozent) eine entsprechende Beratung durch den Arzt; bei Abgabe in der Apotheke erfolgte diese sogar nur bei 19,1 Prozent der Patienten. Welche Bedeutung die ärztliche Beratung für die Patienten hat, wird daran deutlich, dass 71 Prozent der Befragten angaben, ihrem behandelnden Arzt hinsichtlich der verordneten Medikamente zu vertrauen. „Ärzte und Apotheker haben es in der Hand, das Risikobewusstsein der Patienten zu schärfen. Sie können damit auch die Therapietreue erhöhen. Dieses Potenzial sollten sie nutzen“, betonte der WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber.
Defizite bei der Therapietreue
Das Klauber auch in der Therapietreue einen wesentlichen Punkt sieht, hat einen guten Grund. Denn laut WIdO verschärfen sich „die Risiken der Arzneimitteleinnahme, wenn die vom Arzt verordnete Therapie nicht eingehalten wird.“ Dass knapp ein Fünftel der Patienten mit Polymedikation im Rahmen der Studie angab, „manchmal die Einnahme der Medikamente zu vergessen“ oder die Einnahme eigenmächtig ganz zu beenden, bereitet den Experten daher zusätzliches Kopfzerbrechen. Rund sieben Prozent der Probanden erklärten, dass sie zum Teil auf ihre Medikamente verzichten, sobald sie sich besser fühlen und 6,6 Prozent berichteten, dass sie die Medikamenteneinnahme gelegentlich einstellen, wenn sie sich nach der Einnahme schlechter fühlen. Diese Entscheidungen sollten laut Aussage der Experten jedoch dringend mit dem Arzt kommuniziert werden, um unnötige Gesundheitsrisiken zu vermeiden. (fp)
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