Legasthenie: Frühtest für Dreijährige soll Lese- und Rechtschreibschwäche aufdecken
14.02.2012
In Deutschland werden jedes Jahr rund 35.000 Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche eingeschult. Oft erfahren Eltern und Lehrer erst während der Schulzeit von der Legasthenie, wenn die Kinder Buchstaben verwechseln und Schwierigkeiten beim Lesen haben. Leipziger Wissenschaftler haben nun ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, das sich mit der Entwicklung eines Frühtests für Dreijährige zur Erkennung von Lese- und Rechtschreibschwächen befasst.
Lese- und Rechtschreibschwäche ist im Gehirn erkennbar
Dank früherer Studien in diesem Bereich ist heute bekannt, dass das Gehirn von Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwäche Sprache anderes verarbeitet. Betroffenen Kindern fällt es viel schwerer, Gehörtes richtig aufzuschreiben und zu lesen. Leider erfahren Eltern und Lehrer in der Regel erst in der Schule von den Schwierigkeiten ihrer Kinder, wenn diese trotz Förderunterricht und Nachhilfestunden keine Fortschritte im Lesen und Schreiben machen. Schulisches Versagen kann die Folge sein. Um dem entgegen zu wirken, sollte frühzeitig mit entsprechenden Therapien begonnnen werden.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften und des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie haben nun ein gemeinsames Forschungsvorhaben ins Leben gerufen. Mittels Magnetresonanztomographie (MRT) und Elektroenzephalographie (EEG) sollen die Gehirne von Kleinkindern untersucht werden, um künftigen Legasthenikern bereits vor der Einschulung Therapien zukommen zu lassen. So könnten Kinder bereits im Kindergarten große Fortschritte machen und ihr Handicap deutlich verringern. Laut der Leipziger Forscher soll es möglich sein, eine gesicherte Diagnose zu stellen, noch bevor das Kind mit dem Lesen und Schreiben beginnt. „Mit unserem Frühtest wären wir in der Lage, bereits im Alter von drei Jahren ein Legasthenie-Risiko festzustellen. Dies wäre ein großer Fortschritt“, erklärt der Jens Brauer, Neuropsychologe am Leipziger Max-Planck-Institut.
Sprachverarbeitung im Gehirn beginnt sehr früh
Wissenschaftler ist bereits seit längerem bekannt, dass Legastheniker Sprache anders verarbeiten. Die Sprachverarbeitung beginnt im menschlichen Gehirn sehr früh und ist zum Teil erblich bedingt. Die Leipziger Wissenschaftler wollen nun in den Gehirnen der Kleinkinder nach neuronalen Signaturen und genetischen Muster suchen, die denen von Schulkindern und Erwachsenen mit Legasthenie ähneln.
Ein Forscherteam aus Boston veröffentlichte Ende letzten Jahres ihre Studienergebnisse. Demnach finden bei Kindern aus Familien mit Lese- und Rechtschreibschwäche reduzierte Stoffwechselprozesse in bestimmten Regionen des Gehirns statt. Für diese Studie haben die Bostoner Forscher Vorschulkinder mittels MRT untersucht, während sie Hörübungen machten. Das Ergebnis bestätigte die Beobachtungen von Erziehern und Therapeuten: Manche Kinder haben Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Sprache, die jedoch nicht mit dem Hörvermögen zusammenhängen. So hatten die Probanden teilweise Probleme beim Reimen und rhythmischem Wortzerlegen.
Legasthenie ist in Deutschland nicht als Krankheit anerkannt
Die Leipziger Wissenschaftler werden untersuchen, ob die dreijährigen Probanden im späteren Verlauf ihres Lebens eine Lese- und Rechtschreibschwäche entwickeln. Wie das funktioniert, erklärt Psychologe Arndt Wilcke vom Leipziger Fraunhofer-Institut: „Wir erwarten, eine bestimmte Komponente im EEG als Vorhersagezeichen verwenden zu können. Diese Komponente ist eine automatische Reaktion des Gehirns, wenn es zwischen zwei Reizen unterscheidet.“ Holger Kirsten, Genetiker fügt hinzu: „Im Zusammenspiel mit zusätzlichen genetischen Markern wollen wir damit einen einfach zu etablierenden Frühtest entwickeln. Ein solches Screening-Verfahren würde im Idealfall allen interessierten Eltern offenstehen.“
Im Gegensatz zu den Bostoner Wissenschaftler, werden die Leipziger Forscher nicht nur die Durchblutung des Gehirns in bestimmten Bereichen berücksichtigen, sondern auch anatomische Aufnahmen durchführen, um den Reifegrad der Nervenfaserverbindungen zu bestimmen. Gelingt den Leipzigern der physische Nachweis der Lernschwäche, würde dies dazu führen, dass Krankenkasse zukünftig die Therapiekosten übernehmen müssten. Bisher übernahmen sie nur die Diagnosekosten beim Psychiater. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt Legasthenie längst als Krankheit in ihrem Katalog. In Deutschland steht dies noch aus. Eltern hoffen nun auf die Leipziger Wissenschaftler.
Spezielle Therapien für Kinder mit Legasthenie
Schulpsychologin Barbara Klemm-Röbig berichtet aus ihrem Schulalltag: „Die Schulen sollen Legastheniker fördern. Doch die Lehrer werden im Studium nicht dafür ausgebildet und haben wenig Zeit. Deshalb organisiere ich Weiterbildungen für Lehrer, damit sie besser helfen können.“ Darüber hinaus sei in Fällen, in denen die Förderung nicht ausreiche, eine Therapie mit Spezialisten nötig. Die Schulpsychologin berichtet weiter, dass das Jugendamt die Kosten für derartige Therapien übernehme, allerdings erst nach einem Jahr erfolgloser Hilfen von Lehrern. Das sei jedoch verlorene Zeit.
Es bestehen bereits Übungsprogramme für Kindergartenkinder, jedoch sind diese bisher nicht Pflicht und erfordern qualifizierte und engagierte Erzieher. Das Würzburger-Programm beinhaltet beispielsweise genaues Hören sowie Reim- und Wortbildung. Diese Art der Förderung kann Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwäche helfen, ihre Schwächen bereits früh abzubauen.
Durch die Entwicklung eines Frühtests für Legasthenie könnten Kinder vor Schulbeginn mit speziellen Therapien und Förderprogrammen beginnen. Ihnen könnte dadurch ein schwerer Start in der Schule erspart werden. Legastheniker leiden häufig psychisch unter ihrer Schwäche, haben wenig Selbstvertrauen, was sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen kann. Letztlich ist es die Aufgabe der Gesellschaft, Menschen mit Handicaps nicht auszuschließen, sondern zu fördern und zu unterstützen. Diplom-Pädagoge Sebastian Bertram aus Hannover berichtet: „Spezielle Therapien und Trainings sind für Legasthenikern wichtig, um die gleichen Chancen im Beruf aber auch privaten Bereich zu haben. Mangelndes Selbstwertgefühl, unter dem Betroffene häufig leiden, wirkt sich massiv auf die psychische Verfassung aus. Legasthenie ist kein Anzeichen für mangelnde Intelligenz. Sie ist lediglich eine Lese- und Rechtschreibschwäche, die gut therapiert werden kann, wenn damit rechtzeitig begonnen wird.“ (ag)
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