Fachklinik: Therapie für Schulschwänzer
28.10.2014
Wenn Kinder die Schule schwänzen, muss nicht immer Faulheit dahinter stecken. Viele der Schulverweigerer haben mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen. Oft sind sie ausgeschlossen, haben Depressionen oder psychosomatische Beschwerden. Eine Fachklinik in Baden-Württemberg hilft den Jugendlichen zurück in den gesellschaftlichen Alltag.
Schulschwänzer müssen nicht faul sein
Wer nicht zur Schule geht, muss nicht zwingend faul sein. Das weiß man auch in der Fachklinik für Kinder und Jugendliche im baden-württembergischen Wangen (Kreis Ravensburg). Dort landen keine Schulschwänzer, die bei Sonnenschein lieber draußen sind als im Unterricht zu sitzen. Vielmehr haben viele Patienten einen langen Leidensweg hinter sich. Beispielsweise eine 16-Jährige, die ihren Namen nicht nennen will: Bereits als Erstklässlerin erlitt sie schwere Kränkungen, wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet. Demnach erklärte das scheue Mädchen: „Ich hatte Asthma und Neurodermitis, für die anderen Schüler war ich das Monster.“ Seit drei Wochen ist sie in der Rehabilitation im Allgäu.
Patientin wurde von Lehrerin als Versagerin abgestempelt
Das Mädchen erzählte, dass sie mit Bauchschmerzen gekämpft, aus Frust Essen in sich hineingestopft und sich schließlich für ihr Übergewicht geschämt habe. Als sie von ihrer Lehrerin als Versagerin abgestempelt wurde, habe sie sich selbst verletzt, an Selbstmord gedacht und sich zunehmend isoliert. Die 16-Jährige blickt zurück: „Ich rückte Schränke vor die Zimmertür, damit meine Eltern nicht zu mir konnten.“ Sie traute sich kaum noch in die Schule. Nach einer Therapie in einer psychiatrischen Tagesklinik kam das Mädchen schließlich nach Wangen. „Langsam fange ich wieder an, mich zu mögen.“
Organische und psychosomatische Beschwerden
Angaben von Chefarzt Dirk Dammann zufolge gehen von den jährlich 1.500 chronisch kranken Patienten der Kinderklinik etwa 300 kaum noch zur Schule – mit steigender Tendenz. Dabei halten sich organische und psychosomatische Beschwerden die Waage. „Manche kommen mit Asthma, Dermatitis, manche mit ADS, Angststörungen, Depressionen, Störungen des Sozialverhaltens“, zählte der Kinder- und Jugendpsychiater auf. „Viele haben zwei oder drei Baustellen gleichzeitig.“ Die Zunahme erklärte Michael Gomolzig vom Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg der dpa zufolge auch mit gestiegener Sensibilisierung: „Schulen und Eltern achten heutzutage mehr darauf, ob ein Kind fehlt, und holen eher das Jugendamt dazu.“ Wenn Menschen, egal welchen Alters, ausgegrenzt und gemobbt werden, drohen zahlreiche gesundheitsschädigende Folgen. So treten bei Betroffenen häufig Beschwerden auf, wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Angst, Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich, Herz-Kreislaufbeschwerden und depressive Verstimmungen.
Individueller Therapieplan für jeden Patienten
In der Fachklinik in Wangen wird für jeden Patienten ein individueller Therapieplan erstellt, bei dem Krankenpfleger mit Sozialpädagogen, Psychologen oder Bewegungstherapeuten zusammenarbeiten. Zudem lehren in der angeschlossenen Heinrich-Brügger-Schule 40 Pädagogen aller Bildungsgänge in inklusiven Lerngruppen. „Manche fangen mit 20 Minuten Unterricht pro Tag an, die Gruppen haben bis zu acht Schüler“, erläuterte der Schulleiter Stephan Prändl. Ein 15-Jähriger, der ebenfalls anonym bleiben möchte, habe erstmals seit Jahren wieder einen geregelten Tagesablauf und keinen Kontakt mehr „zu falschen Leuten“, wie er sich ausdrückt.
Aggressives Verhalten in der Schule
Der stille Junge fühlte sich von der fünften Klasse an ausgeschlossen und unverstanden, hatte mit Depressionen zu kämpfen, war ein halbes Jahr lang krankgeschrieben und in Therapie. „Dann habe ich den ganzen Tag geschlafen, bis früh morgens am Computer gespielt, Marihuana geraucht und auch verkauft.“ Seine Eltern waren wenig präsent: „Mein Vater ist sowieso weg, und meine Mutter war eigentlich nie da.“ Wenn er mal zur Schule ging, fiel er durch aggressives Verhalten auf. Erst als sich ein Freund das Leben nahm, zog Tim die Notbremse und fand zusammen mit seiner Mutter einen Arzt, der ihn nach Wangen schickte. „Hier hat jeder irgendein Problem, da fühlt man sich nicht mehr allein.“
Therapeutische Wohngruppen für Jugendliche
Die Kinder und Jugendlichen bleiben vier bis acht Wochen im Allgäu. „Für die Zeit danach organisiert die Klinik ambulante Betreuung und „individuelle Bildungswege am Heimatort“, so Dammann. Darüber hinaus hat die Klinik 36 Plätze in therapeutischen Wohngruppen für Jugendliche. Dort ist beispielsweise ein 19-Jähriger, der von seinem Vater nach eigener Schilderung schon früh lernte, bei Konflikten zuzuschlagen. Der Junge, der leicht autistisch ist, wurde in der Schule schnell zum Außenseiter. Er bezog jahrelang Prügel, entwickelte Wut und Hass, Sozialphobien und zuletzt schwere Persönlichkeitsstörungen sowie Gewaltfantasien. „Ich spielte 16 Stunden täglich am Computer, hatte Rachegedanken, wollte Waffen beschaffen, stand kurz vor einem Amoklauf“, erzählte er nüchtern. Nun steuert der junge Mann nach einem sechswöchigen Klinikaufenthalt mit Zwangsmedikation und zehn Monaten in der Wangener Rehabilitation auf einen Realschulabschluss zu. (ad)
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Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.