Selbstmordgedanken
Der Gedanke an Selbstmord beschäftigt theoretisch fast jeden Menschen irgendwann einmal in seinem Leben. Wir alle werden mit der Frage konfrontiert, ob es für uns eine Situation gibt, zum Beispiel eine unheilbare Krankheit, in der wir den Zeitpunkt unseres Todes selbst bestimmen wollen. Eine ganz andere Qualität haben drängende Gedanken an Suizid, die schnell übergehen können in den akuten Plan, sie umzusetzen.
Inhaltsverzeichnis
Selbstmordgedanken – Die wichtigsten Fakten
- Gelegentliche Selbstmordgedanken bedeuten nicht, dass sich Betroffene tatsächlich das Leben nehmen, kritisch wird es aber, wenn diese Gedanken drängend werden.
- Drängende Selbstmordgedanken, verbunden mit realer Einengung der Handlungsfreiheit oder psychischer Einengung, oft an Autoaggression gekoppelt, kennzeichnen das präsuizidale Syndrom, das den Prozess des Suizids einleitet.
- Der wichtigste Auslöser für Suizidgedanken sind die Flucht aus einer als unerträglich empfundenen Situation und der Aufbau einer Scheinwelt aus dem Empfinden heraus, der Wirklichkeit nicht gewachsen zu sein.
- Die meisten Menschen, die Selbstmordgedanken hegen, wollen nicht sterben, sondern wissen nicht, wie sie ihre Lebensprobleme lösen sollen.
- Für Angehörige ist das Wichtigste, sich den Betroffenen zuzuwenden und ihnen zu zeigen, dass sie diese anerkennen, um sie aus dem schwarzen Loch ihrer negativen Gedanken zu befreien.
- Die Zuwendung von Freunden ersetzt aber keine therapeutische Hilfe.
- Suizidgedanken müssen immer ernst genommen werden.
Flucht in eine Scheinwelt
Aus dem Gefühl, der Realität nicht gewachsen zu sein, fliehen Betroffene in die Irrealität. Diese Scheinwelt nimmt immer mehr Raum ein, Gedanken an Tod und Selbstmord als vermeintlicher Ausweg drängen sich immer stärker in den Vordergrund.
Selbstmord – eine häufige Todesursache
Es bleibt oft nicht bei den Gedanken. Weltweit beenden 800.000 Menschen pro Jahr ihr Leben selbst. Bis zu 500 Millionen weitere Menschen sind unmittelbar von diesen Selbsttötungen betroffen, da ein Suizid eines nahestehenden Menschen die Selbstmordgefahr für sein Umfeld signifikant erhöht. Besonders in jugendlichen Subkulturen lösen vollzogene Selbstmorde eine Welle von Selbstmordfantasien aus. Wir sprechen hier vom Werther-Effekt, nach Goethes „Leiden des jungen Werther“, in dem ein literarischer Suizid reale Selbstmorde nach sich zog.
Bei Menschen im Alter unter 25 Jahren in Deutschland ist Suizid sogar die zweithäufigste Todesursache. Zugleich sind Selbstmordgedanken nach wie vor ein Tabuthema. Besonders Jugendliche fühlen sich überfordert, wenn sie vermuten, dass jemand in ihrem Umfeld Selbstmordgedanken hat. Und die Betroffenen selbst schämen sich oft für ihre Gedanken.
Hilfe suchen ja, schämen nein
Dabei gibt es keinen Grund, sich zu schämen. Fernab von heroischen Suizidfantasien nach dem Motto „Lieber tot als Sklave“, die davon handeln, lieber sich selbst zu töten als sich einer Tyrannei zu unterwerfen, ist die wahre Ursache vieler Selbstmordgedanken „erschreckend“ banal. Auslöser sind meist äußere Krisen:
- Mobbing und Kränkungen in der Schule,
- den Leistungsansprüchen anderer nicht zu genügen,
- Tod eines geliebten Menschen,
- Trennung von einem Partner,
- Verlust des Arbeitsplatzes,
- ernste Erkrankungen,
- prekäre finanzielle Lage
- und verschiedenste Konflikte in Beziehungen.
Kurz gesagt, ein schwarzes Loch, aus dem die Betroffenen glauben, nicht herauskommen zu können. Es ist kein Zufall, dass Selbstmordgedanken bei Jugendlichen besonders häufig sind; dafür sorgt nicht nur das pubertäre Chaos der Gefühle, sondern auch der Mangel an Lebenserfahrung, mit den entsprechenden Situationen umzugehen und sie so zurechtzurücken, dass sie keine Lebensbedrohungen mehr darstellen.
Hilfe annehmen
Wohlgemerkt: Der Auslöser für Selbstmordgedanken ist in den seltensten Fällen der Wunsch zu sterben, sondern meist die Verzweiflung, keinen Ausweg aus einer unerträglichen Situation zu finden. Deshalb ist Hilfe unermesslich wichtig – am besten, bevor die Gedanken konkrete Formen annehmen, die den Prozess einleiten könnte, der im Tod endet.
Ganz wichtig: Selbstmordgedanken, verbunden mit Lebensangst, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind nicht nur kein Grund, sich zu schämen, im Gegenteil: Hilfe zu suchen ist ein Zeichen von Stärke. Wer Magenkrämpfe hat und nicht zum Arzt geht, weil ihm das peinlich ist, für den hätte niemand Verständnis. Seelisch so am Boden zu sein, dass Sie an Suizid denken, und keine Hilfe zu suchen, ist ebenso unverständlich.
Zuwendung zu einem Menschen, der seelisch oder körperlich leidet, ist ein in der Evolution entstandener Kern der Heilung einer Krankheit. Freunde, Eltern, Schulpsychologen, Therapeuten, aber auch anonyme Beratung per Telefon sind Anlaufstellen. Häufig hilft Betroffenen bereits ein einstündiges Gespräch.
Zuhören
Menschen im Umfeld der Betroffenen haben oft Angst, etwas falsch zu machen. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Falsch machen heißt vor allem, nichts machen. Das Wichtigste ist: Hören Sie einfach zu. Geben Sie keine Ratschläge! Ratschläge führen dazu, dass jemand meint, sich erklären oder rechtfertigen zu müssen. Jemand, der sich so schlecht fühlt, dass er an Selbstmord denkt, kann genau das aber nicht. Wenn Sie den Betroffenen zuhören, sagen diese oft von selbst, dass Sie Hilfe brauchen. Dann können Sie zusammen mit dem Betroffenen die Seelsorge anrufen oder medizinische Hilfe suchen.
Welche Warnsignale gibt es?
Wenn jemand Selbstmordgedanken hat oder sogar einen Selbstmord plant, sendet er bisweilen überhaupt keine Warnsignale aus. Einige Anzeichen sind jedoch typisch:
- Der Mensch sagt, dass er sich umbringen will.
- Der Mensch ist von Selbsthass gepeinigt und leidet unter Schuldgefühlen.
- Die Betroffenen kapseln sich von Freunden ab.
- Die Schulnoten oder die Arbeitsleistung sinken rapide und abrupt.
- Der Mensch verletzt sich selbst.
- Seine Hobbys, Haustiere und sein Wohnumfeld sind ihm egal.
Was können Freunde tun?
Überschätzen Sie sich nicht. Sie können einem Menschen, der ernste Selbstmordgedanken hegt, nicht alleine helfen. Wenden Sie sich an Fachleute, die extra dafür ausgebildet sind.
Sie können
- ihren Freund/ihre Freundin zu einem Gespräch bei der Seelsorge, bei einem Arzt oder Therapeuten begleiten,
- den Kontakt zu professionellen Helfern aufbauen,
- mit Eltern, Lehrern und anderen Autoritäten des Umfelds reden.
Ganz wichtig: Wer in einer Krise steckt und mit dem Gedanken spielt, sich umzubringen, den entlasten Sie enorm, wenn Sie für ihn die nötigen Informationen weitergeben und dies nicht ihm überlassen: Papierkram für Behörden, Anmeldung beim Therapeuten, Entschuldigung in der Schule und beim Arbeitsplatz, Information von Eltern und Partnern. Außerdem zu beachten:
- Vermitteln Sie den Betroffenen, dass Sie für sie da sind.
Kritisieren Sie sie nicht. Wer unter Selbstmordgedanken leidet, hat sich bereits in einem Netz aus Selbstzuweisungen und Selbstabwertungen verstrickt. - Weisen Sie Betroffene hingegen sanft auf ihre positiven Fähigkeiten hin.
Besonders heilsam ist das Gespräch über gemeinsame positive Erfahrungen. Sie aktivieren das Gedächtnis und setzen andere als die negativen Bahnen in den Synapsen frei. Vermeiden Sie Formulierungen wie „das Leben ist doch schön, stell dich nicht so an.“ Leiten Sie das Gespräch hingegen zu Erinnerungen, von denen Sie wissen, dass diese für die Betroffenen schön waren und schüren Sie so die Hoffnung, dass solche schönen Erfahrungen wieder kommen können. - Wenden Sie sich als Angehörige und Freunde selbst an Hilfsangebote und Selbsthilfegruppen.
Warum? Wenn Sie sich um jemand kümmern, der potenziell in Gefahr ist, Selbstmord zu begehen, handelt es sich um eine enorme Belastung – erstens, weil Sie mit sehr negativen Themen konfrontiert sind – zweitens, weil Sie fürchten müssen, das falsche zu tun und am Ende Schuld zu sein, dass der Mensch sich umbringt. Fragen wie „Ist der Zeitpunkt gekommen, in dem ich mich um psychiatrische beziehungsweise klinische Hilfe kümmere und damit implizit die Autonomie meines Verwandten oder Freundes infrage stelle?“ sind elementar und es ist besser, sich mit Menschen auszutauschen, die selbst vor solchen Entscheidungen standen.
Ursachen für Suizidgedanken
Generell ist der wichtigste Auslöser für Suizidgedanken eine als unerträglich empfundene Situation. Dafür ist es gleichgültig, ob die Situation in den Augen Anderer ausweglos aussieht! Deswegen schlagen gut gemeinte Ratschläge, wie „so schlimm ist das auch nicht“ fehl. Ein solches Gefühl lässt sich nicht „objektiv“ beurteilen. Manche Menschen haben mehrere hunderttausend Euro Schulden, sind frisch von ihrer großen Liebe getrennt, erfahren zugleich, dass Sie Krebs haben und denken nicht im Traum daran, sich umzubringen. Andere haben objektiv eine tolle Beziehung, sehen gut aus, sind kerngesund, leiden keine materielle Not und plagen sich Tag und Nacht mit Suizidfantasien.
Eigentlich handelt es sich oft um einen Hilferuf. Ein Mensch meint, nicht aus einer schwierigen Lage herauszukommen und fantasiert den selbst bestimmten Tod als Ausweg. Oft handelt es sich hier um eine Fantasie, um wenigstens im Bestimmen des eigenen Todes wieder die Kontrolle zu gewinnen, die im Leben verloren ging. Mögliche Ursachen sind:
- Eine unverarbeitete Traumatisierung beziehungsweise posttraumatische Belastungsstörungen,
- Verlusterfahrungen,
- Einsamkeit,
- Verbitterung,
- oder Lebenskrisen.
So treten Selbstmordgedanken oft bei Menschen auf, die sich in Umbruch- und Initiationsphasen hilflos fühlen – in der Pubertät, beim Auszug aus dem Elternhaus oder nach dem Verlust eines Partners und der ungewohnten Situation, allein für sich zu sorgen.
Weitere Motive
Motive können auch sein:
- Erlösung von seelischem oder körperlichem Leid,
- Hilferuf an die Umwelt,
- Erpressung, um die soziale Umwelt zu kontrollieren (typisch beim Borderline-Syndrom),
- Rache, Bestrafung anderer („wenn ich tot bin, weißt du, was du getan hast“),
- „letzter Ausweg“, um das Selbstwertgefühl zu retten,
- nüchterne Bilanz (ein Umstimmen ist dann kaum möglich),
- Identifikation mit einem Idol
- oder Wunsch nach Veränderung.
Hoher Leidensdruck
Menschen, die keinen Ausweg im Leben mehr sehen und denen der Tod als Ausweg erscheint, stehen unter einem hohen Leidensdruck. Menschen, die Selbstmordfantasien entwickeln, wollen meist nicht sterben – sie halten den gegenwärtigen Zustand ihres Lebens nicht mehr aus.
Latent, intensiv und chronisch
Manchmal entstehen Selbstmordideen spontan, als Kurzschlussreaktion auf eine akute Krise: Ein 14-Jähriger mit strenger Mutter hat sein Zeugnis vergeigt und denkt sich auf dem Nachhauseweg, „wenn ich jetzt vor einen Zug springe, dann ist alles vorbei“. Die Angst vor der Mutter ist so groß, dass Selbstmord als Erlösung erscheint.
Viel häufiger entwickeln Menschen Suizidgedanken aber über einen längeren Zeitraum. Die Todesfantasien drängen sich mal stärker mal schwächer ins Bewusstsein. Hier ist Vorsicht angesagt, denn solche Fantasien können chronisch werden und wenn sie sich etabliert haben, Schritt für Schritt den Weg in den Tod vorbereiten. Solche Menschen haben also latent den Gedanken, sich umzubringen und in akuten Krisen drängen sich diese latenten Ideen in der Vordergrund. Wer sich in solchen Gedankenstrukturen befindet, hat meist einen langen Leidensweg hinter sich und oft auch viele Versuche, das Leiden einzudämmen, die mehr oder weniger erfolglos waren.
Psychische Krankheiten – Mythos Selbstbestimmung
Psychisch stabile Menschen spielen in Gedanken Selbstmord bisweilen durch als Akt der Selbstbestimmung. So wie sich die Zeloten in Massada ins Schwert stürzten und den römischen Feinden zeigten, dass Freiheitsliebe stärker sein kann als die Liebe zum Leben, so stellen sie sich die Selbsttötung als letzte Handlung eines selbst bestimmten Lebens vor. Vorsicht ist bei solchen Idealisierungen geboten, wenn Suizidfantasien bei Menschen auftreten, die unter psychischen Störungen leiden.
Selbstmordideen sind typisch für:
- Depressionen,
- Bipolarität (zwischen Manie und Depression),
- Traumatisierungen,
- Angststörungen,
- Psychosen, Verhaltensstörungen
- und Borderline-Syndrom.
Bei Borderline sind Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken sogar ein Leitsymptom. Bei psychisch Erkrankten fördern Faktoren die Selbstmordgedanken, die ihrerseits wiederum oft durch die psychische Erkrankung bedingt sind:
- Arbeitslosigkeit,
- Wohnungsnot,
- Beziehungsprobleme,
- finanzielle Not,
- Vereinsamung,
- soziale Isolation
- oder Mobbing.
Wer unter Selbstmordfantasien im Zusammenhang mit einer solchen Krankheit leidet, braucht professionelle Hilfe, eine Psychotherapie oder eine Verbindung von Psychotherapie und Medikamenten. Diese Maßnahmen führen nachweislich dazu, dass die Suizidgedanken abnehmen.
In der Grauzone
Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt steht in der Regel erst bei akuten Handlungen und Gedanken an. Doch gibt es, auch wenn die Gedanken noch nicht nach Verwirklichung schreien, im Internet Foren, auf denen sich Betroffene austauschen können. Menschen, die ähnliche Probleme kennen, können wertvolle Tipps geben und oft hilft es bereits, nicht allein mit solch düsteren Gedanken zu sein – denn eine Triebfeder von Suizidfantasien ist das Gefühl, einsam in der Welt zu stehen.
Solche Foren haben mehrere Vorteile: Betroffene befürchten oft, von Freunden, Eltern oder Bekannten nicht verstanden zu werden oder schämen sich für ihre Gedanken. Sich der Kontrolle eines Facharztes zu unterwerfen, widerstrebt ihnen ebenfalls. In den Foren bleiben sie anonym, tauschen sich aber mit „Gleichgesinnten“ aus, vor denen sie schonungslos die Wahrheit sagen können. Moderatoren sind häufig psychologisch ausgebildet.
Freunde und Angehörige sind ebenfalls eine große Hilfe, wenn die Betroffenen sich ihnen gegenüber aussprechen können. Lange Spaziergänge in der Natur unter vier Augen haben zum Beispiel eine kaum zu unterschätzende positive Wirkung. Indessen sollten Freunde es vermeiden, eine „Diagnose“ zu stellen.
Warum ist Zuwendung so wichtig?
Selbstmordgedanken sind meist eine Reaktion auf eine akute oder lang anhaltende Krise, in der sich die Betroffenen unverstanden fühlen. Allein das Anerkennen, dass der Mensch diese Gedanken hat, sich schlecht fühlt und dass ihn die Probleme überwältigen, ist ein wesentlicher Schritt aus dem schwarzen Loch heraus.
Evolutionspsychologisch sind Krankheitssymptome auch ein Signal der Kommunikation, das andere Menschen auffordert, sich dem Kranken zuzuwenden. Und wenn „krank sein“ bedeutet, dass es einem Menschen schlecht geht, sind Selbstmordgedanken genau ein solches Signal der Verständigung. Wenn die Betroffenen sich zurückziehen, ihre Hobbys verlieren, sogar sagen, dass sie sich umbringen wollen, dann steckt darin bewusst oder unbewusst die Bitte nach Zuwendung. Wird ihnen diese untersagt, werden die Gedanken intensiver und konkreter und können in den Sog der Handlung übergehen – in den Vollzug des Freitods. Allein den Menschen mit Selbstmordgedanken, der sich verschließt, dazu zu bringen, zu reden, kann womöglich sein Leben retten.
Psychische Umstände – Depressionen und Angst
Selbstmordgedanken gehen oft einher mit umfassenderen Beschwerden. So entwickeln Menschen, die unter starken Depressionen leiden, oft täglich unter Suizidfantasien. Sitzen sie im Zug, denken sie daran, sich davor zu werfen; rasieren sie sich, denken sie daran, sich die Pulsadern aufzuschneiden; sitzen sie in der Badewanne, wandert ihr Blick zum Föhn und sie stellen sich vor, ihn hineinzuwerfen. Zugleich kapseln sich Depressive von der Umwelt ab, haben ein äußerst negatives Selbstbild und sehen die Welt in schwarzen Farben.
Angstzustände und vor allem Angststörungen drücken sich oft auch in Selbstmordfantasien aus, seien es Prüfungsängste, Zukunftsängste oder Sozialphobien. Menschen, die chronisch unter schweren Ängsten leiden, haben oft über Jahrzehnte Suizidfantasien als fiktiven Weg, um dieser drückenden Angst zu entkommen.
Selbsthilfe
Betroffene können eine Menge tun, um sich selbst aus den quälenden Gedanken zu befreien und ihren möglichen Selbstmord zu verhindern. Dazu gehört zuerst das Eingeständnis „ich könnte suizidgefährdet sein“. Sich anderen zu offenbaren, kann lebensrettend sein, besonders, bevor die Suizidgefahr akut wird.
So absurd es sich für jemanden anhört, bei dem eine Depression oder Angststörung vorliegt: „Es gibt keinen Ausweg“ – es gibt den Ausweg fast immer.
- Seien Sie gut zu sich selbst.
Das hört sich merkwürdig an für jemand, der denkt, dass sowieso alles vorbei ist, aber probieren Sie es. Denken Sie daran, was ihnen Spaß im Leben gemacht hat, wann Sie sich gut fühlten. Sind das Hobbys? Treffen mit bestimmten Menschen? - Machen Sie lange Spaziergänge in der Natur.
Der Satz „die Natur ist der beste Therapeut“ kommt nicht von ungefähr. Nicht nur stoßen Bäume chemische Stoffe aus, die unser Immunsystem und unser Wohlbefinden steigern, sondern Natur ist Leben – und Menschen kommunizieren mit anderen Lebewesen, ob sie wollen oder nicht. Das bringt Sie auf andere Gedanken, ob Sie das bewusst ansteuern, ist egal. - Am Wichtigsten ist die Antwort auf die Frage: Was tat mir in der Vergangenheit gut, wenn es mir zuvor schlecht ging? Was hilft mir?
Jeder Mensch weiß das bei sich selbst am besten allein. Schämen Sie sich nicht, wenn Ihnen die Antwort lächerlich vorkommt. Tat es Ihnen als Kind gut, wenn Sie niedergeschlagen waren, ein Himbeereis zu essen? Dann gehen Sie zur Eisdiele und holen sich eins. Lesen Sie Bücher, die Sie als Kind liebten, gucken Sie Filme, die Sie mochten. Das ist wichtig, weil Sie Stück für Stück Ihre Identität zurückgewinnen, die nicht nur aus den Suizidgedanken besteht.
Das präsuizidale Syndrom
Selbstmordgedanken werden besonders dann kritisch, wenn sie in das präsuizidale Syndrom übergehen. Diesen Begriff führte der Psychiater Erwin Ringel ein. Es besteht aus
- intensiven Suizidfantasien,
- Aggressionsumkehrung, in der die Betroffenen die Aggression, die sie gegenüber anderen empfinden, gegen sich selbst richten
- und Einengung, die die Wahrnehmung der Betroffenen auf einen Tunnelblick in Richtung ihres eigenen Todes reduziert.
Ringel stellte diese drei Merkmale in den 1950er Jahren fest, nachdem er mehr als 700 Patienten untersuchte, die einen Selbstmordversuch überlebt hatten.
Einengung heißt, dass sich die Handlungsfreiheit in der Wahrnehmung oder real immer weiter einschränkt, bis nur noch der Suizid möglich bleibt. Dies kann auch in der objektiven Realität stattfinden: Der bereits erwähnte Massenselbstmord der jüdischen Zeloten in der Festung Massada im heutigen Israel war zum Beispiel die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, um nicht in die Hände des römischen Feindes zu fallen.
Viel häufiger entsteht die Einengung aber nur in den Gedanken der Betroffenen durch Depressionen oder Kontaktstörungen. Dies gilt auch dann, wenn eine Einengung der Wahlmöglichkeiten in der Realität hinzukommt, ob durch Arbeitslosigkeit, Verluste oder Krankheit. Psychische und soziale Isolation bedingen sich gegenseitig.
Für die Aggressionsumkehr ist typisch, dass die Aggression zugleich immer stärker wird und zugleich gehemmt ist. Präsuizidale „fressen alles in sich hinein“ statt „mit der Faust auf den Tisch zu hauen“. Auf lange Sicht führt dies dazu, dass sich die Aggression gegen sie selbst richtet. Ein Anzeichen dafür sind Selbstverletzungen (wie zum Beispiel das Ritzen) oder wiederkehrende selbstzerstörerische Aktionen. Alle drei Symptome zusammen, die Einengung, die Suizidfantasien und die Autoaggression sind ernste Warnzeichen dafür, dass eine Selbstmordgefahr gegeben ist.
Suizidgedanken und Suizidgefahr
Nicht jeder geäußerte Gedanke an einen Suizid bedeutet automatisch Suizidgefahr. Der Prozess, an dessen Ende der Suizid steht, verläuft generell in drei Phasen.
- Zuerst kommt die Phase der Erwägung. Hier beschäftigen sich Betroffene intensiv mit dem Thema Suizid und denken darüber nach, wie es wäre, tot zu sein.
- Die zweite Phase ist die der Ambivalenz. Hier ist der Suizid für die Betroffenen schon eine reale Möglichkeit geworden, Probleme zu lösen, in der sie das Pro und Kontra abwägen. Der Mensch ist noch unentschlossen, er wägt ab. Spätestens hier ist die Zuwendung von Freunden, Angehörigen, Ärzten und Therapeuten wesentlich. Denn jetzt sind die Betroffenen noch ansprechbar und entscheiden sich, bei positiver Unterstützung oft gegen den Tod.
- In der finalen Entschlussphase merken die wenigsten Menschen, dass der Selbstmord unmittelbar bevorsteht. Mehr noch: Viele schätzen folgende Symptome völlig falsch ein:
- Betroffene wirken jetzt häufig wie erleichtert. Sie sind kühl und ruhig. Wer sie zuvor als Verzweifelte kannte, wundert sich häufig über ihren „positiven Wandel“.
- Manche der Selbstmordkandidaten suchen jetzt alte Freunde auf, die sie lange nicht gesehen hatten, um sich zu verabschieden (was sie aber nicht sagen).
- Andere gehen noch einmal an Orte, an denen Sie sich wohlfühlten, um auch hier Abschied zu nehmen.
Merkmale von Suizidalität
Selbstmordgedanken sind nur ein Zeichen von Suizidalität und zwar nur dann, wenn sie drängend werden.
Weitere Anzeichen sind:
- Hoffnungslosigkeit,
- tiefe Traurigkeit,
- depressive Verstimmungen,
- überreiztes Verhalten wie ungezügelte Wut,
- Rückzug aus Gesprächen,
- fehlendes Interesse, mit anderen Menschen einen Konsens zu finden,
- negativ erlebte Innenwelten,
- Aufsuchen von riskanten Situationen wie zu schnelles Autofahren, Provokationen von Schlägereien, bei denen die Betroffenen Opfer sind,
- unter Umständen Drogen- und Alkoholmissbrauch, wobei dieser sowohl Folge als auch Auslöser der Suizidalität sein kann,
- Schuldgefühle,
- Selbsthass
- oder Verbale Warnungen – Sätze wie: „Bald müsst ihr mich eh nicht mehr ertragen…“, „Ich habe ja ein schönes Leben gehabt…“, „Keine Lust mehr auf dieses Abfallleben“, „Wozu ein Morgen, wenn mir das Heute nichts bringt…“, „Diese Welt ist ein großer Sch…haufen“.
Spezielle Symptome von Suizidalität von Jugendlichen
Typisch bei suizidal gefährdeten Jugendlichen sind:
- grundloses Beenden von Freundschaften und Liebesbeziehungen,
- Wesensänderungen, kaum erklärbarer Wandel der Persönlichkeit,
- Ändern der Ess- und Schlafgewohnheiten,
- Schlaflosigkeit,
- abruptes Nachlassen der schulischen Leistung,
- Kopfschmerzen, Erschöpfung, Magenschmerzen,
- Ablehnen von Geschenken,
- Gleichgültigkeit gegenüber Ehrungen oder Anerkennungen,
- Verschenken zuvor wichtiger Dinge,
- Merkwürdiges Aufräumen des Zimmers oder der Wohnung: Schlussstrich ziehen,
- „Absurde“ Gelassenheit nach einer schweren depressiven Phase, während Gelassenheit für Betroffene sonst ungewöhnlich ist,
- Kuriose „Altklugheit,“
- Tagträume, „Neben sich stehen“, „Wegdämmern“, dissoziative Zustände
- und gesteigertes Interesse an Tod und Suizid.
Speziell bei Jugendlichen ist Suizidalität oft nicht einfach festzustellen, da sich die Merkmale mit denen der Pubertät überschneiden. (Dr. Utz Anhalt)
Nummern für den Notfall
Telefonseelsorge: 0800-1110111
Nummer gegen Kummer (Kinder- und Jugendtelefon): 116111
Polizei: 110
Rettungsdienst: 112
Aufklärung und Hilfe bei Suizidgedanken bietet:
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Katja Becker et al.: S2k-Leitlinie 028/031: Suizidalität im Kindes- und Jugendalter, Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), (Abruf 09.07.2019), AWMF
- Frank-Gerald Pajonk et al.: S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), (Abruf 10.07.2019), AWMF
- Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann: Suizidalität, Hogrefe Verlag, 1. Auflage, 2014
- Paula J. Clayton: Suizidales Verhalten, MSD Manual, (Abruf 10.07.2019), MSD
- Julia Umansky: Suizidalität bleibt eine wichtige Todesursache, journal club, Ausgabe 6/2019
- Dagmar Kraus: Suizidalität: Die Anzeichen rechtzeitig erkennen, CME, Ausgabe 5/2019
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.