25 Jahre nach Tschernobyl streiten die Experten immer noch über gesundheitliche Auswirkungen
22.04.2011
Angesichts der Atomreaktorkatastrophe in Japan, ist das öffentliche Interesse an den möglichen gesundheitliche Folgen radioaktiver Strahlung massiv gestiegen. Dabei wird die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl immer wieder als Anhaltspunkt für die gesundheitlichen Konsequenzen zitiert. Doch auch 25 Jahre nach Tschernobyl streiten sich die Experten über die tatsächliche Zahl der Betroffenen.
Die Auswirkungen der aktuellen Atomkatastrophe in Japan, sind dramatisch weitreichender als die Regierung und die Betreiber der Bevölkerung anfangs mitgeteilt haben, so viel steht schon heute fest. Doch welche Konsequenzen durch die freigesetzte Strahlung in den kommenden Jahren auftreten werden, lässt sich bisher nur erahnen. So blickt die Öffentlichkeit plötzlich auch wieder zurück auf die Tschernobyl-Katastrophe und fragt sich, welche Folgen diese bis heute hat. Dabei streiten sich die Experten jedoch nicht zuletzt aus politischen Motiven bis heute über die tatsächliche Zahlen zu den gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl.
Strahlenkrankheit als unmittelbare Folge der Katastrophe
Besser spät aus der Tschernobyl-Katastrophe lernen, als nie. Das neu entfachte öffentliche Interesse an den Folgen des Atomreaktorunfalls vor 25 Jahren bringt jedoch auch eine Vielzahl von Kontroversen wieder an die Oberfläche, über die sich atomkritische Experten, staatliche Gesundheitsbehörden und die Atombefürworter bis heute nicht einig sind. Der Streit dreht sich dabei im wesentlichen um die Grenzwerte, ab denen radioaktive Strahlung krankheitsauslösend wirken kann und die Zahl der Betroffenen. Unstrittig ist die Zahl der unmittelbar durch die Strahlenkrankheit bedingten Todesfälle. So wurden von den Arbeitern, die nach dem Super-GAU am Reaktor eingesetzt waren, 134 akut verstrahlt und 28 starben an den Folgen der Strahlenkrankheit. Bei allen weiteren Angaben zu den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe unterscheiden sich die öffentlichen Zahlen erheblich von denen kritischer Institutionen wie Greenpeace, dem IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) und der Gesellschaft für Strahlenschutz.
Offizielle Angaben zu den Opfern der Tschernobyl-Katastrophe
Insbesondere bei den auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen beruhenden Angaben zu den gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe, kommen die öffentlichen Einrichtungen zu deutlich anderen Ergebnissen als die atomkritischen Experten. Die Atomgegner gehen davon aus, dass durch die sogenannten stochastische Strahlenschäden, welche die Wahrscheinlichkeit bestimmter Krankheiten (in erster Linie Krebs) erhöhen, eine erheblich größere Zahl von Personen betroffen waren, als zum Beispiel im aktuellen Bericht des wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) angegeben. Der UNSCEAR kommt bei seiner Analysen der Tschernobyl-Katastrophe zu dem Ergebnis, dass der größte stochastische Effekt der entstandenen Strahlenbelastung ein dramatischer Anstieg von Schilddrüsenkrebs in der weiteren Umgebung des zerstörten Reaktors war. Vor allem Personen die noch unter achtzehn Jahre alt waren, als das Unglück 1986 passierte, litten im späteren Lebensverlauf besonders häufig an Schilddrüsenkrebs.
Zwischen 1991 und 2005 verzeichnete der UNSCEAR bei dem entsprechenden Personenkreis 6.848 Fälle von Schilddrüsenkrebs. Der UNSCEAR-Bericht stellt außerdem ein vermehrtes Auftreten von Blutkrebs und grauem Star bei den rund 530.000 Liquidatoren (Aufräumarbeiter/-innen), die bei der Katastrophe eingesetzt wurden, fest. Darüber hinaus gebe es keine überzeugenden Belege für weitere strahlungsbedingte Effekte in der Allgemeinbevölkerung, so das Fazit im UNSCEAR-Bericht. Das Bundesamt für Strahlenschutz sieht dies ähnlich und teilte mit: „Es gibt bisher keinen Nachweis, dass in Deutschland oder anderen Ländern Mittel- oder Nordeuropas negative gesundheitliche Strahleneffekte durch den Tschernobyl-Unfall verursacht wurden“.
Atomkritische Organisationen sprechen von hunderttausenden Betroffenen
Die atomkritischen Institutionen wie Greenpeace oder der IPPNW kommen hier jedoch zum einem deutlich anderen Ergebnis. So hat der IPPNW im Vorfeld des diesjährigen 25. Jahrestages der Tschernobyl-Katastrophe am 25. April eine Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Reaktorunfalls vorgelegt, die zu erschreckendem Ergebnissen kommt. Der IPPNW geht davon aus, dass bis zum Jahr 2056 in Europa rund 240.000 zusätzliche Krebsfälle auftreten werden. Außerdem seien von den Liquidatoren bis heute über 112.000 bereits verstorben, wobei rund 90 Prozent an den Folge der radioaktiven Strahlung erkrankt seien. Greenpeace kam in einer weiteren Untersuchung zu dem Ergebnis, dass 200.000 zusätzlichen Todesfällen in der Region um Tschernobyl im Zeitraum von 1990 bis 2004 zu verzeichnen waren. Die Gesellschaft für Strahlenschutz teilte mit, dass durch die Folgen der Strahlenbelastung rund 800.000 Kinder in Europa nicht geboren wurden. (fp)
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Bild: Andreas Kinski / pixelio.de
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