Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW wirft der Weltgesundheitsorganisation WHO vor, die Zahl der Krebserkrankungen aufgrund der atomaren Katastrophe von Fukushima herunterzuspielen. Vielmehr würde die „Anzahl der Krebserkrankungen in vielen Teilen Japans steigen“, so das Resümee eine Untersuchung des IPPNW. Die WHO hatte in einer eigenen Erklärung zum Teil von Entwarnung gesprochen.
07.03.2013
Zum zweiten Jahrestag der von einem Erdbeben ausgelösten Atomkatastrophe vom 11. März 2011 in Japan legt die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW eine quantitative Abschätzung der „Gesundheitlichen Folgen von Fukushima“ vor. Der Report dokumentiert besorgniserregende Befunde, die schon jetzt, nur zwei Jahre nach dem Super-GAU sichtbar werden. Der Nürnberger Wissenschaftler Dr. Alfred Körblein fand für ganz Japan einen signifikanten Rückgang der Geburten genau 9 Monate nach Fukushima.
Von 4.362 fehlenden Geburten im Dezember 2011 entfielen nur 209 auf die Präfektur Fukushima. Eine erhöhte Säuglingssterblichkeit u.a. „exakt“ neun Monate nach Beginn der Katastrophe ist ein weiteres Anzeichen dafür, wie sehr dieses Land insgesamt und eben keineswegs nur die Präfektur Fukushima von diesem Atomunfall betroffen ist. Besonders erschreckend sind die jüngsten Zahlen über Schilddrüsenzysten und -knoten bei mehr als 55.000 Kindern allein in der Präfektur Fukushima – und diese ist nur eine von 47 japanischen Präfekturen dieser dicht besiedelten Inseln, über die rund 20 Prozent der in die Atmosphäre freigesetzten Radionuklide niederging (ca. 80% der atmosphärischen Freisetzungen kontaminierten das Meer). Anders als bei Erwachsenen sind derartige Schilddrüsenveränderungen bei Kindern „als Krebsvorstufen“ anzusehen, so der ehemalige Chefarzt der Herforder Kinderklinik, Dr. Winfrid Eisenberg, einer der Autoren der IPPNW-Studie. Die Ärzteorganisation empfiehlt daher eindringlich, in ganz Japan systematische Schilddrüsenuntersuchungen bei Kindern durchzuführen.
Prognosen über die zu erwartenden Krebserkrankungen infolge der deutlich erhöhten „Hintergrundstrahlung“ in Japan wie auch aufgrund des Verzehrs von radioaktiv kontaminierten Nahrungsmitteln sind mit vielen Unsicherheiten behaftet.
Ärzteorganisation stellte eigene Nachforschungen an
Die Ärzteorganisation IPPNW hielt es dennoch für erforderlich, der Weltöffentlichkeit zumindest auf der Grundlage der bislang verfügbaren Daten näherungsweise die Dimension dieser Nuklearkatastrophe vor Augen zu führen. Auf der Basis von Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften über die Bodenkontamination mit radioaktivem Cäsium bzw. aufgrund von Messungen der Ortsdosisleistungen im Herbst 2012 kommen die IPPNW-Autoren Henrik Paulitz, Dr. Winfrid Eisenberg und Reinhold Thiel in drei alternativen Abschätzungen auf rund 20.000 bis 40.000 Krebserkrankungen aufgrund der „äußeren Strahlungsbelastung“ in Japan. Diese Zahlen ergeben sich, wenn man mit dem Risikofaktor von 0,1/Sv rechnet, den auch die Weltgesundheitsorganisation WHO inzwischen annimmt. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen muss man allerdings von einem doppelt so hohen Risiko und somit von bis zu 80.000 Krebserkrankungen aufgrund der externen Strahlenbelastung ausgehen.
Für die Abschätzung der zu erwartenden Krebserkrankungen aufgrund von kontaminierten Nahrungsmitteln wurden gut 133.000 vom japanischen Gesundheitsministerium veröffentlichte Messergebnisse herangezogen, von denen allerdings nur gut 17.000 Daten tatsächlich als konkrete Messwerte veröffentlicht wurden. Unter konservativen Annahmen ergeben sich laut IPPNW rechnerisch rund 18.000 bzw. 37.000 Krebserkrankungen nach dem anzunehmenden aktuellen Stand der Wissenschaft.
Für die Arbeiter, die laut Betreibergesellschaft Tepco im Jahr 2011 in der havarierten Atomanlage tätig waren, liegen keine auch nur halbwegs auswertbaren Daten vor. Aufgrund der Erfahrungen nach Tschernobyl rechnet die IPPNW mit mehr als 17.000 schweren Erkrankungsfällen.
Die Ergebnisse des IPPNW-Berichts stehen in deutlichem Widerspruch zu dem von der Weltgesundheitsorganisation WHO am 28. Februar vorgelegten Fukushima-Report „Health risk assessment”. IPPNW-Mitglied Dr. Alex Rosen weist in einer Analyse darauf hin, dass die WHO von fehlerhaften Annahmen ausgeht und lediglich ausgewählte Gebiete in der Präfektur Fukushima in den Blick nahm.
WHO: Außerhalb von Fukushima nur ein geringes Risiko
Die WHO hatte lediglich für die am stärksten radioaktiv kontaminierten Gebiete in der näheren Umgebung von Fukushima von einem „erhöhten Krebsrisiko“ gesprochen. Für die restlichen Regionen Japans seinen „keine erhöhten Raten von Krebsneuerkrankungen zu erwarten“, so die Direktorin für öffentliche Gesundheit und Umwelt. „Der WHO- Bericht will die Folgen herunterspielen“, glaubt hingegen die Ärztevereinigung. Vielmehr könne die Atomkatastrophe in Japan bis zu 120.000 Menschen das Leben kosten, da sie an Krebs erkranken. Dazu kommen noch einmal rund 18.000 Arbeiter und Feuerwehrleute, die direkt bei den Aufräumarbeiten dabei waren. "Japan sei deshalb großflächig betroffen", folgert der Mediziner Henrik Paulitz von der IPPNW. (sb mit Material von IPPNW)
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