Zunahme der Psychopharmaka-Verschreibung bei Kindern
19.10.2011
Die Verschreibung von Psychopharmaka an Kinder und Jugendliche hat weiter zugenommen. Wie die Techniker Krankenkasse in einer aktuellen Auswertung der medizinischen Daten ihrer Versicherten feststellte, erhalten immer mehr Kinder Arzneimittel zur Behandlung von psychischen Problemen wie Depressionen, Aggressionen oder Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS).
Den Zahlen der Techniker Krankenkasse (TK) zufolge ist die Verschreibung von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen zwischen 2006 und 2010 dramatisch gestiegen. So lag die Anzahl der TK-Versicherten im Alter zwischen sechs und 17 Jahren, die Arzneimittel zur Behandlung von ADHS einnahmen, 2006 noch bei rund 20.000. Im Jahr 2010 erhielten immerhin 29.000 TK-Versicherte der entsprechenden Altersstufe Psychopharmaka gegen ADHS, was einem Anstieg um satte 32 Prozent entspricht, so das Ergebnis der aktuellen TK-Untersuchung.
Den Angaben der TK zufolge wurde ein Großteil der Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen wegen des sogenannten Zappelphilipp-Syndroms verschrieben. Die als ADHS bezeichnete Erkrankung, ist heute die mit Abstand am häufigsten diagnostizierte psychische Beeinträchtigung bei den Heranwachsenden. Aber auch gegen Aggressionen oder Depressionen, wurden in wachsendem Maße Arzneimittel eingesetzt. So sei zum Beispiel die Verschreibung von Risperidon, einem Wirkstoff zur Behandlung von Verhaltensstörungen wie unkontrollierten Aggressionen, ebenfalls deutlich gestiegen.
Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern äußerst umstritten
Der Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen ist in der Fachwelt bis heute nicht unumstritten. Dennoch ist die Zahl der Verschreibung in den vergangenen Jahren in die Höhe geschnellt. Insbesondere die Verordnung von Methylphenidat beziehungsweise Methylphenidat-Hydrochlorid (Ritalin) zur Behandlung von ADHS zeigt dabei den Zahlen der TK zufolge eine besorgniserregende Entwicklung. Der Anstieg von 32 Prozent lässt auch auf eine zu leichtfertige Verschreibungspraxis schließen. Bei Risperidon hat die Anzahl der Verschreibungen ebenfalls spürbar zugenommen. Die Anzahl der mit Risperidon behandelten Kinder, ist von 682 im Jahr 2006 auf 1.532 im Jahr 2010 gestiegen, berichtet die TK. Demnach hat sich die Anzahl der betroffenen Kinder „versichertenbereinigt mehr als verdoppelt.“ Den Experten der Techniker Krankenkasse zufolge ist zudem auffällig, dass bei den ebenfalls gestiegenen Verschreibungen von Antidepressiva ein Fünftel der Rezepte Medikamente auswies, die bei Kindern und Jugendlichen nicht verwendet werden sollten. Auch erfolgten viele Verschreibungen der Antidepressiva durch fachfremde Mediziner wie zum Beispiel Hausärzte.
Drohende Nebenwirkungen und Spätfolgen für Kinder durch Psychopharmaka
Da die Spätfolgen und Langzeitwirkungen des Psychopharmaka-Einsatzes bisher nur unzureichend erforscht sind, beurteilt der Mediziner Prof. Hannsjörg Seyberth, Vorsitzender der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die deutliche Zunahme der Verschreibungen besonders kritisch. Zu den drohenden unmittelbaren Nebenwirkungen von Methylphenidat beziehungsweise Ritalin zählen zum Beispiel Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, innere Erregung, Übelkeit, kognitive Beeinträchtigungen, depressive Verstimmungen sowie die Auslösung und Verstärkung bestehender nicht steuerbarer, wiederkehrender motorischer Kontraktion einzelner Muskeln oder Muskelgruppen (Tic`s). Auch Angstzustände, Appetitlosigkeit und Auswirkungen auf das Wachstum der Kinder, können den Experten der TK zufolge mögliche Folgen des Wirkstoffs Methylphenidat sein. Anstatt den Heranwachsenden vorschnell Psychopharmaka zu verschreiben, sollten daher alternative therapeutische Möglichkeiten wie Psycho- oder Verhaltenstherapien genutzt werden, forderte der Experte. Seyberth zufolge stehen „Kinder heute unter einem enormen familiären und schulischen Druck zu funktionieren“, wodurch auch die Zunahme psychischer Beschwerden zu mitbegründet werde. Verhaltensauffälligkeiten sofort mit Medikamenten zu bekämpfen, sei dabei jedoch der falsche Weg, so die Aussage des Vorsitzenden der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter.
Fast zwei Tonnen ADHS-Medikamente pro Jahr
Angesichts der massiven Zunahme bei den Verschreibungen von ADHS-Medikamenten hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (gemeinsame Selbstverwaltung aus Ärzten und Krankenkassen, G-BA) erst Ende letzten Jahres die Arzneimittelrichtlinien zur Verschreibung entsprechender Psychopharmaka geändert. Seither dürfen Ärzte Medikamente wie Ritalin und Co. nur noch verschreiben, wenn vorher andere Therapiemaßnahmen angewendet wurden, jedoch erfolglos blieben. Der G-BA betonte, dass längst nicht jedes besonders aktive Kind ADHS hat, und dass – bei entsprechender Diagnose – eine medikamentöse Behandlung durch therapeutische Maßnahmen oftmals vermieden werden kann. Wie viel der entsprechenden Arzneimittel heute tatsächlich verschrieben werden, geht aus denn Zahlen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte hervor, das eine Verschreibungsmenge des Wirkstoffs Methylphenidat in Deutschland von insgesamt 1.735 Kilogramm im Jahr 2009 angibt. Ein Umdenken der Mediziner scheint hier dringend erforderlich. (fp)
Lesen Sie zum Thema:
Oft falsche ADHS Diagnose bei Kindern
Immer mehr Kinder erhalten ADHS-Medikamente
Trendwende in der ADHS-Therapie?
ADHS: Konzentration durch Lärm
ADHS genetisch bedingt?
Allergene Lebensmittel begünstigen ADHS
Umweltfaktoren bei ADHS kaum untersucht
ADHS: Verschreibung von Ritalin wird eingeschränkt
Bild: Nicole Celik / pixelio.de
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.