Nationale Ethikkommission der Schweiz hat Bedenken bei "Ritalin" für Kinder
22.11.2011
In einer Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission der Schweiz werden ernsthafte Bedenken gegen den immer mehr steigenden Einsatz von Psychopharmaka beim Enhancement, der pharmakologisch erzeugten Leistungssteigerung des Gehirns, erhoben. Besondere Aufmerksamkeit verdiene demnach das Enhancement bei Kindern:
"Hier ist eine steigende Tendenz zu pharmakologischen Eingriffen zu beobachten, die noch nicht (voll) urteilsfähige Personen betreffen, über die Erwachsene, in der Regel die Eltern, auch in gesundheitlichen Belangen entscheiden dürfen. Diese Tendenz erfährt durch die Motivation der Eltern, nur „das Beste“ für ihr Kind zu wollen und sicherzustellen, zusätzlich Auftrieb. Dabei wird oft „das Beste“ mit Blick auf das zukünftige Leben in der Gesellschaft definiert: Die Eltern wünschen in der Regel, dass das Kind im Wettbewerb um Ausbildung und Arbeitsplatz gut bestehe, indem vor allem seine kognitiven, aber auch emotionalen und sozialen Fähigkeiten verbessert und seine „Stressresistenz“ gesteigert werden. Dieser Wettbewerb beginnt bereits sehr früh, verstärkt beim Schuleintritt. Bekanntlich zeigen Psychopharmaka auch bei gesunden Kindern Wirkung. Entsprechend gross ist der Anreiz für die Eltern, solche Mittel einzusetzen, um die Aufmerksamkeit und Konzentration des Kindes zu fördern und es damit konkurrenzfähiger zu machen. Eine derartige „Optimierung“ der kindlichen Fähigkeiten geschieht ohne Zeitaufwand und auch unbemerkt, so dass sich die Eltern kritischen Bemerkungen nicht stellen müssen.
Aus ethischer Perspektive ist die Tatsache von Belang, dass die Diagnose beispielsweise eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, eines oppositionellen Trotzverhaltens oder einer Angststörung eine fachliche Herausforderung darstellt, weil die Abgrenzung zwischen normalen und krankhaften kindlichen Verhaltensweisen schwierig zu ziehen ist. Ebenfalls ist anzunehmen, dass durch den Anstieg des Verbrauchs von Psychopharmaka sich auch die Standards verschieben bzw. verschoben haben, welche Verhaltensweisen eines Kindes oder Jugendlichen sozial verträglich und „normal“ sind – oder eben als krankhaft eingestuft werden. Da die Diagnosestellung auch von solchen gesellschaftlichen Bewertungen sowie einem Interesse, dass sich Kinder im Kindergarten und in der Schule angepasst verhalten, beeinflusst ist, ist eine weitere Zunahme der Verschreibungen zu erwarten. Dieses Beispiel zeigt, dass die Abgrenzung zwischen Enhancement und Therapiebedürftigkeit kulturell und historisch variabel ist – und damit auch ethischer Reflexion bedarf.
Der Konsum pharmakologischer Mittel kann noch weitere Auswirkungen auf den Charakter haben, weil dem Kind vermittelt wird, dass es nur mit Hilfe solcher Mittel in sozial anerkannter Weise „funktioniert“. Insofern seine Charaktereigenschaften medikamentös angepasst und von Psychopharmaka abhängig gemacht werden, hat es Folgen für seine Persönlichkeitsbildung und sein Selbstwertgefühl und könnte die Ausbildung von Mustern für Suchtverhalten begünstigen. Der Konformitätsdruck, unter dem Kinder von Seiten der Eltern und Bildungseinrichtungen stehen, erzwingt einen Standard an Normalität, der die Toleranz gegenüber Kindlichkeit abnehmen lässt. Auch könnte sich die Vielfalt von Temperamenten und Lebensweisen reduzieren und damit letztlich das Recht des Kindes auf einen offenen Lebensweg gefährdet werden. Die NEK-CNE plädiert dafür, die Lebensverhältnisse den Interessen und Bedürfnissen der Kinder anzupassen. Denn die Qualitäten der Kindheit, die nicht Aspekte des gesellschaftlichen Wettbewerbs und der Leistungsfähigkeit betreffen, sondern das Spielen, die Freundschaft und die erfolgsentlastete Muße ausmachen, könnten anderenfalls an Wertschätzung verlieren – und damit auch die Kindheit selbst". (pm)
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Bild: Rainer Sturm /Pixelio.de
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