Innerlich wie abgestorben: Ein Forum als erste Anlaufstelle bei Depressionen
03.10.2012
Menschen, die an einer Depressionen leiden, werden von ihrer Umwelt nicht selten belächelt. Wer nicht an der psychischen Erkrankung leidet, kann sich kaum in die Lage des Patienten hinein fühlen. „Es gibt doch kein Grund traurig zu sein“, wird oft vielen Betroffenen von Freunden, Eltern oder Partnern gesagt. Weil sich die innere Leere nicht einfach abstellen lässt, werden Depressive stigmatisiert und schließlich sozial isoliert. Im Gegensatz dazu steigt die Zahl der Patienten von Jahr zu Jahr an.
„Man ist innerlich wie abgestorben“, berichtet der Vorsitzende Thomas Müller-Rörich (58) von der "Deutschen Depressions-Liga". Müller-Rörich weiß wovon er spricht, denn vor mehr als sechs Jahren litt der Unternehmer selbst an einer schweren Depression. Die Krankheit war derart manifestiert, so dass im Berufsleben nichts mehr ging und auch das Verhältnis zu seiner Frau und den Kindern mit der Zeit zwangsläufig gestört war. Alles war „zu anstrengend“ und alles „erzeugte Ängste“, berichtet er am Dienstag in Stuttgart. Selbst das Lesen und das anschließende kognitive Begreifen von Texten gestaltet sich immer schwerer. „Ich war nicht mehr in der Lage zu lesen.“ In der Fachsprache wird das beschriebene Phänomen auch „Pseudodemenz“ bezeichnet und tritt als Begleiterscheinung während einer Depression relativ häufig auf.
Internetforum für Depressive war der erste Rettungsanker
Oft schämen sich Patienten für ihre Erkrankung. „Ich habe mich zum Beispiel täglich dafür geschämt, wie teuer mein Krankenhausaufenthalt ist“, berichtet Müller-Rörich. Nach einiger Zeit fühlte er sich isoliert. Im Internet stoß der 58jährige auf ein Webforum für Depressionspatienten. Der Austausch mit ebenfalls Betroffenen wurde schnell zum Lichtblick. „Das ist, als sei man auf einer einsamen Insel gestrandet und habe nur noch Kontakt zu einem Internetforum“, sagt er. In dem Austauschforum setzte sich Müller-Rörich mit seiner Erkrankung auseinander und bemerkte, dass er mit seinem Problem nicht allein war.
Vier Millionen Menschen in Deutschland von Depressionen betroffen
Nach aktuellen Schätzungen leiden rund vier Millionen Bundesbürger an schweren oder mittelschweren Depressionen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass Depressionen bis zum Jahre 2020 „Volkskrankheit Nummer Zwei“ gleich hinter den Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den westlichen Industrienationen sein wird. Nach Angaben der Barmer GEK Krankenkassen gebe diese allein für den Südwesten der Republik 17 Millionen Euro jährlich für stationäre Therapien von depressiven Patienten aus. Somit seien die Ausgaben in den vergangenen fünf Jahren um 50 Prozent (2006: 11 Millionen Euro) gestiegen. Dementsprechend ist auch die Patientenzahl bei der Barmer Kasse um 27 Prozent, von 55.000 auf 70.000 angestiegen.
Immer mehr Stress und beschleunigte Zeit
Was sind die Ursachen? Der Gründer des Forums, Dr. Nico Niedermeier, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, sieht den zunehmenden Stress im Berufsleben und Alltag als eine Ursache. Die Arbeitswelt verdichte sich zunehmend, das Leben beschleunigt sich und die Belastungen steigen. „Zu glauben, dass wir das einfach so wegstecken, ist utopisch“. Die Menschen begeben sich zunehmend in Abhängigkeiten, die ihnen Angst bereitet. Dabei gehen sie immer mehr über die eigenen Grenzen, bis „man sich irgendwann selbst nicht mehr spürt.“ Allerdings liege die Patientenzunahme auch an einer erhöhten Diagnoserate. Viele Ärzte können die Erkrankung schneller diagnostizieren und Patienten gehen heute sehr viel mehr offener mit der Krankheit Depression um, als es noch vor zehn Jahren der Fall war.
Das Selbsthilfeforum habe viel dazu beigetragen, dass Betroffene offener über ihre Krankheit reden können. Immerhin ist das Forum das „größte deutschsprachige Selbsthilfeportal mit rund 14.000 aktiven Forenteilnehmern“. Seit der ersten Onlinestellung im Jahre 2000 wurden etwa 360.000 Beiträge von den Usern verfasst. Die Möglichkeit etwas einzutragen, ist extra sehr niederschwellig angelegt. Das Portal bringt nicht nur Betroffene zusammen, sondern vermittelt auch Kontakte und Informationen. Neben Patienten nutzen auch Angehörige das Forum, da „viele stark unter den Krankheitssymptomen des Partners leiden“.
Foren können keine Therapie ersetzen
Der Psychiater Niedermeier betont, dass das Forum keine Therapie ersetzt, aber ein Weg sein kann, ich mit der eigenen Depression auseinanderzusetzen und sich ein Stück weit aus der krankheitsbedingten Isolation zu befreien.“ In den letzten 12 Jahren habe es seines Wissens keine Suizide gegeben, dafür wurden einige Selbstmordvorhaben verhindert. Immer wenn ein Teilnehmer äußert, sich das Leben zu nehmen, würde die Polizei eingeschaltet, um das Vorhaben zu verhindern. So sei sichergestellt, dass das Forum kein „Selbstmordforum“ ist.
Heute hilft Müller-Rörich anderen Depressiven. Seit ein paar Jahren hat er seine eigenen Krankheit relativ gut im Griff. Seit dem nimmt er Medikamente, sogenannte Antidepressiva. Vor etwa zwei Jahren wollte er sie absetzen. Während einer Reise in New-York kam dann aber der Rückfall. In Folge litt Müller-Rörich an Schlafstörungen und Weinkrämpfen. „Ich habe mich in der großen Stadt total verunsichert gefühlt.“ Seit diesem Erlebnis habe er sich mit den Arzneien arrangiert. Schließlich müssten Diabetiker auch Medikamente einnehmen, sagt er.
Erste Anzeichen einer Depression
Die Symptome einer Depression können sehr vielfältig sein. Bis Patienten oder Ärzte diese erkennen, können mitunter Jahre vergehen. Am auffälligsten ist die Veränderung der Stimmung. Betroffene verlieren die Fähigkeit zur Freude oder Trauer und auch der Partner ist nicht mehr in Lage durch Zuspruch Stimmungsaufhellend zu wirken. „Ich fühle mich leer und einsam“, ist der mitunter häufigste Ausspruch von depressiven Patienten. Liegt eine schwere Depression vor, empfinden manche eine völlige Sinnlosigkeit des Lebens. Dieser als qualvoll empfundene Zustand führt auch zu Selbstmordgedanken und akuter Suizidalität. Andere Beschwerden sind Antriebshemmung, innere Unruhe, Hemmung der Denkfähigkeit, Hilflosigkeit, Herzneurose, chronische Müdigkeit, Grübeln, Appetitlosigkeit, Reizbarkeit und Ängste. Depressionen sind eine ernsthafte Erkrankung und bedürfen ärztlicher und therapeutischer Unterstützung. (sb)
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Bild: Günter Havlena / pixelio.de
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