Mobile Arbeitswelt und Flexibilität: Psychische Leiden der Arbeitnehmer in Deutschland nehmen stark zu
17.08.2012
Immer mehr Menschen in Deutschland können ihr privates Leben mit dem Beruf nicht mehr adäquat trennen. Dadurch kommt es nicht selten vor, dass das Privatleben aufgrund der Aufgaben im Job verschoben wird. So arbeiten zahlreiche Menschen auch an den Wochenenden oder leisten ständig Überstunden ab. Durch die technische Entwicklung und der „ständigen Erreichbarkeit“ sind viele Arbeitnehmer immer telefonisch verfügbar. Die Folgen sind ein kontinuierliches Ansteigen von psychischen Beschwerden.
Anstieg der psychischen Krankheiten um 120 Prozent
Die Zahl der psychischen Krankheiten ist seit dem Jahre 1994 um über 120 Prozent gestiegen. Hin und Her Pendeln, Überstunden sowie die ständige Erreichbarkeit machen immer mehr Menschen in Deutschland psychisch krank. Laut einer aktuell vorgestellten Studie der gesetzlichen Krankenkassen kennen einige Millionen von Arbeitnehmern in Deutschland keine klar definierten Grenzen zwischen Arbeits- und Berufsleben. Dadurch fühlen sich immer mehr Menschen unausgeglichen, gestresst und niedergeschlagen.
Krankschreibungen aufgrund von psychisch bedingten Leiden sind laut dem Fehlzeiten-Report 2012 des Wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskrankenkassen AOK (WidO) aufgrund dieser zunehmenden Belastungen in den vergangenen Jahren nach oben geschnellt. Angesichts der Studienergebnisse forderte der geschäftsführende Vorstand des AOK-Verbands, Uwe Deh, „klare Schranken für Flexibilität“.
„Im Grunde ist es gut für die Gesundheit, wenn Beschäftigte ihre Arbeit räumlich und zeitlich an die eigenen Bedürfnisse anpassen können. Aber diese Flexibilität braucht ihre Grenzen“, erläutert Helmut Schröder, Mitherrausgeber des AOK-Fehlzeiten-Reports und stellvertretender Geschäftsführer des WIdO.
Immer mehr Menschen niedergeschlagen und erschöpft
Nach Aussagen des Reports klagen Arbeitnehmer unter doppelt so vielen Beschwerdebildern wie Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Stress und Kopfschmerzen als andere, wenn sie Job und Freizeit nicht klar trennen können. Laut den ermittelten Auswertungen beklagt jeder fünfte Studienteilnehmer über Erschöpfungszustände oder über ein Unvermögen abschalten zu können. Einer der Autoren, Helmut Schröder, berichtet, dass Arbeitnehmer „großen psychischen Belastungen ausgesetzt sind, wenn sie ständig erreichbar, immer am obersten Limit arbeiten, lange Arbeitszeiten haben und Beruf und Freizeit schlecht trennen können“.
Mails und Anrufe auch in der Freizeit
Mehr als jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland erhält auch Emails und Telefonanrufe außerhalb der regulären Arbeitszeit oder leistet zusätzlich Überstunden. Nach letzten Erhebungen sind 37 Millionen Menschen Arbeitnehmer in Deutschland. Demnach sind über 12 Millionen Menschen von Überstunden und ständiger Erreichbarkeit betroffen.
Etwa jeder zehnte Erwerbstätige nimmt Arbeitsaufgaben mit nach Hause, um diese am heimischen Schreibtisch zu verrichten. Jeder achte sagte, er habe „Schwierigkeiten damit, Arbeit und Freizeit ausreichend zu vereinbaren“. Zudem sagte jeder Zweite, er sei „im Grundsatz auch außerhalb der normalen Arbeitszeit erreichbar“.
"All diese Belastungen im Arbeitsalltag führen dazu, dass diese Beschäftigten mehr an psychischen Beschwerden leiden als diejenigen, die diesen Belastungen nicht ausgesetzt sind“, berichtet Schröder. Die Betroffenen klagen nicht nur über Erschöpfung durch zu viel Arbeit, sondern auch über Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit. Durchschnittlich nennt jeder angestellte Erwerbstätige mehr als 1,5 dieser Symptome. Die "Entgrenzung von Arbeit und Freizeit führt deutlich zu mehr psychischen Problemen".
Pendeln verursacht höheres Erkrankungsrisiko
Ein immer stärker werdendes Problem ist das Pendeln zwischen Job und Wohnort. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden pendeln täglich zwölf Prozent der Arbeitnehmer zwischen 25 und 50 Kilometer pro Einfachfahrt. Vier Prozent der Deutschen pendeln täglich über 100 Kilometer pro Hin- und Rückfahrt. Seit Jahren beobachten die Statistiker eine Zunahme der weit-entfernten Arbeitsplätze. Laut der wissenschaftlichen Untersuchung des „WidO“ steigt das Erkrankungsrisiko bei „pendelnden Arbeitnehmern um 20 Prozent im Vergleich zu anderen“. Pendler sind insgesamt häufiger krankgeschrieben.
40 Prozent der Berufspendler fahren jeden Tag über eine Stunde zur Arbeit. Die Sicherung des Arbeitsplatzes oder berufliche Aufstiegsmöglichkeiten fordern ihren seelischen Tribun. Immer mehr Menschen, vor allem aus städtischen Regionen, nehmen immer längere Fahrtwege zum Arbeitsplatz in Kauf. Durchschnittlich 17 Kilometer legt jeder Deutsche laut des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung täglich zurück, um seinen Arbeitsort zu erreichen.
Nicht erwiesen ist bislang, wie viele Arbeitnehmer tatsächlich aus den genannten Gründen krank werden oder wie sich die psychischen Leiden über die Jahre erst entwickeln. Die Autoren sehen aber hierbei einen Kontext. Denn es seien Parallelen zwischen dem Anstieg der zunehmenden Flexibilität am Arbeitsmarkt und der Zunahme der psychischen Krankheiten erkennbar. Im vergangenen Jahr 2011 wurden über 130.000 Menschen aufgrund eines diagnostizierten „Burn-Out-Syndroms“ zeitweise arbeitsunfähig geschrieben. Die Anzahl der Krankheitstage haben sich in den letzten sieben Jahren verelffacht. Für das Jahr 2011 zählten die Kassen rund 2,7 Millionen Krankheitstage.
Rasanter Anstieg der therapeutischen Behandlungen
Laut Deh sei die Zahl der AOK-Versicherten, „die aufgrund einer psychischen Erkrankung in einer Behandlung sind, um etwa 40 Prozent gestiegen. Die gestiegenen Patientenzahlen verursachen bei den Krankenkassen zudem immer höhere Ausgaben. So musste allein der AOK-Verbund 9,5 Milliarden Euro für Therapien ausgeben. „Das sind rund 1 Milliarde Euro mehr als im Vorjahr“, so Deh. Der AOK-Kassenverbund fordert daher von den Arbeitgebern, die flexibler werdende Arbeitswelt für Arbeitnehmer „verträglicher zu gestalten“. So forderte die Report-Autorin Antje Ducki von der Wirtschaft, „Arbeit sollte möglichst vorhersehbar sein, planbar machen, Sinn herstellen.“ Hier seien vor allem die Vorgesetzten gefragt.
Mehr Identifikation mit dem Job
„Immer mehr Menschen identifizierten sich mit ihrer Arbeit und ihren jeweiligen Projekten“, berichtet Ducki. Selbstständige Freelancer würden immer mehr „zum Prototyp des Berufslebens in Deutschland“ werden. Das Bundesgesundheitsministerium kündigte unterdessen an, zeitnah Strategien vorzulegen, um psychische Krankheiten vorzubeugen. Denn das umgreifende Burn-Out-Leiden „könne schon bald zu einem größeren volkswirtschaftlichen Problem werden“, wie es heiß. (sb)
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