Krankenkassen lassen Rückstände von Versicherten mit Hilfe der Hauptzöllämter eintreiben
23.04.2012
Die Zahl der Schuldner, die bei den Krankenkasse in der Kreide stehen, wächst. Allein im letzten Jahr mussten die Zollbehörde tausendfach ausrücken, um offene Beiträge bei rund 1,6 Millionen gesetzlich Versicherten einzutreiben. Die Kassen beklagen Rückstände von über 1,5 Milliarden Euro.
Zoll treibt Krankenkassen-Rückstände bei den Nichtzahlern ein
Die gesetzlichen Krankenkassen verlieren immer mehr Geld, weil säumige Beitragszahler offene Forderungen nicht begleichen. Im Auftrag der Kassen treiben Zollbeamte ausstehende Beiträge ein. Über 1,6 Millionen Versicherte haben im letzten Jahr trotz mehrerer Zahlungsaufforderungen ihre Beitragsschulden nicht bezahlt.
Der Verband der gesetzlichen Krankenkassen beklagt eine immer höhere Zahl von Versicherten, die ihre offenen Beiträge nicht zahlen können. Anderthalb Milliarden Euro wurden im Jahre 2011 nicht beglichen. Um wenigstens Teilbeträge einzufahren, sind die Kassen zu drastischen Maßnahmen übergangen: Sie lassen die Beträge mit Hilfe der staatlichen Zollbehörden eintreiben. Dadurch bekommen säumige Kassenpatienten immer häufiger Besuch von Vollstreckungsbeamten. Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums haben die Kassen in rund 1,6 Millionen Fällen die Hauptzollämter mit der Eintreibung beauftragt. Zunächst kündigen die Zollbeamten eine Mahnfrist an. Wird auch dann nicht gezahlt, werden Konten gepfändet und Güter beschlagnahmt. Im Jahre 2010 waren es noch 1,3 Millionen Fälle, so dass die Anzahl der Betroffenen um mindestens 300.000 gestiegen ist.
Der Zoll ist als Inkasso-Stelle des Bundes dafür zuständig, Schuldner des Bundes und anderer öffentlich-rechtlicher Einrichtungen aufzusuchen und anzumahnen. Wie ein Sprecher des Ministeriums mitteilte, lassen die Zahlen „tendenziell den Schluss zu, dass die bundesunmittelbaren Krankenkassen vermehrt rückständige Beiträge zur Vollstreckung an die Hauptzollämter abgeben.“ Die Zollbehörden sind dem Finanzministerium unterstellt.
Die meisten der Betroffenen können aus finanziellen Gründen ihre Beiträge nicht zahlen. Weil Arbeitgeber die Beiträge direkt an die Krankenkassen überweisen, ist davon auszugehen, dass die Zahl der betroffenen Freiberufler und Selbstständigen im Gesamtanteil recht hoch ist. Verbraucherschützer und Gewerkschaften gehen daher davon aus, dass der Anteil der nachlässigen Versicherten recht gering ist. Demnach handele es sich „um ein soziales Problem“.
Verbraucherschützer fordern bezahlbaren Krankenversicherungsschutz
Betroffene können sich in ihrer Finanznot an die Verbraucherzentralen wenden. Gegenüber der dpa sagte die Schuldenberaterin Dörte Elß von der Verbraucherzentrale Berlin, dass „Schulden von einigen tausend Euro kommen häufig vor“. Werden Kassenbeiträge nicht gezahlt, liegt häufig auch ein Privatinsolvenz bereits vor. Elß forderte vor diesem Hintergrund einen „bezahlbaren Krankenversicherungsschutz“. „Ein echtes Problem“ bestehe zum Beispiel bei den Kleinunternehmern.
Durch unregelmäßige Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit können Viele nicht kontinuierlich ihre Versicherungsbeiträge zahlen. Kollidiert der voraussichtlich berechnete Beitrag mit den tatsächlichen Einnahmen, findet dennoch am Jahresende keine Rückzahlung statt. Nur wenn die Einnahmen höher sind, als der angenommene Beitragssatz, verlangen die Kassen nach dem Gesetz eine Zuzahlung und für das nächste Jahr einen höheren Beitragssatz.
Dieses Problem sieht auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und fordert daher für Gewerbetreibende oder Freiberufler mit geringen Einkünften eine Gesetzesreform. “Selbständige sollten, wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch, Beiträge nach ihren tatsächlichen Einkünften zahlen”, fordert zum Beispiel das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Zurzeit gelten lediglich pauschale Mindestbeiträge für freiwillig gesetzlich Versicherte Unternehmer.
Nach Angaben des Bundesverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) betragen die Rückstände aller aller Krankenkassen derzeit gut 1,53 Milliarden Euro. Der Verband geht davon aus, dass Hunderttausende ihre Beiträge nicht gezahlt haben. Ein Sprecher teilte mit, dass sich das Problem in den letzten Monaten des Jahresende 2011 noch weiter verschärft habe. Im Februar 2011 betrug der Rückstand laut GKV noch 1,04 Milliarden Euro.
Rasant ist die Zahl der Schuldner nach der Einführung der Versicherungspflicht gestiegen. Im Zuge der Gesundheitsreformen wurde die Pflicht zunächst für Kassenpatienten 2007 und für Privatversicherte im Jahre 2009 eingeführt. Wer sich zu diesem Zeitpunkt nicht versichert hat und erst Jahre später für eine Krankenversicherung entschied, musste zunächst die zurückliegenden Beitragsmonate erstatten. Somit begannen viele den Krankenschutz mit Schulden. Die damalige Bundesregierung hatte die Versicherungspflicht eingeführt, weil immer mehr Menschen über keine Krankenversicherung verfügten.
Nichtzahler auch bei der PKV
Das Problem der Nichtzahler ist nicht nur auf die GKV beschränkt. Der Verband der Privaten Krankenversicherungen (PKV) schätzt die Höhe der offenen Beträge auf rund 550 Millionen Euro. Durch den geplanten Schuldenerlass für Hartz IV-Empfänger könnte sich die Höhe der Beitragschulden etwas relativieren. „Weil die Jobcenter nur gut die Hälfte übernahmen, haben sich ehemals Selbstständige vielfach verschuldet“, erklärte der Experte Wolfgang Alexander Müller. Bei offenen Tarifbeträgen dürfen seit der Einführung der Versicherungspflicht auch die Privatkassen Versicherten nicht einfach kündigen. Mindestens eine medizinische Notversorgung muss gewährleistet bleiben. Allerdings sind Tarife auch wegen der Beitragspreller angestiegen.
Opposition fordert Reform des Gesundheitssystems
Nach Ansicht der gesundheitspolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Birgitt Bender, bestehe ein Systemfehler bei der deutschen Krankenversicherung. Die scharfen Regelungen würden zugunsten der Privatversicherungen gelten. “Mindestbeiträge und Zugangsbeschränkungen für Selbstständige in der GKV sind der Preis für die Zweiteilung unseres Krankenversicherungssystems“, so Bender. Die Politikerin sprach sich dafür aus, grundsätzlich auch Unternehmer in die Gesetzeskassen einzubeziehen. Gebe es keine Beschränkungen, würden sich viele Selbstständige mit geringen Einkünften und hohen Risiken für Erkrankungen für Krankenkassen entscheiden.
Pfändung im Schuldenfall verhindern
Bevor es zu einer Pfändung durch die Zollbehörden kommt, können Versicherte selbst aktiv werden. Die Schuldnerberatungsstellen weisen auf die Möglichkeit einer Ratenzahlung hin. Fast jede Kasse lasse sich darauf ein. „Wichtig ist, mit den Kassen im Kontakt zu bleiben und grundsätzlich einen Zahlungsbereitschaft zu signalisieren“. Auch die laufenden Beitragszahlungen können gesenkt werden, wenn der Krankenkasse glaubhaft vermittelt wird, dass die Einnahmen deutlich geringer ausfallen, als im Vorjahreszeitraum. Hilfen hierfür bieten auch die kostenlosen Beratungsstellen. (sb)
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